AboOlympia-Zweite Marlen Reusser«Ich möchte nicht unbedingt meine Freundin sein»
Sie sagt, Monogamie sei kaum für alle ideal, glaubt nicht an einen Gott und wäre in Griechenland fast verdurstet – die Olympiazweite im etwas anderen Interview.

Wer sind Sie?
Die Antwort darauf sagt mehr darüber aus, wie das eigene Weltbild aussieht und wie man Identität festlegt, als dass sie erklären könnte, wer man ist. Ich bin Marlen Reusser.
Was ist das Verrückteste, das Sie je getan haben?
Mit einem Schulfreund reiste ich mit Zug und Fähre nach Griechenland. Ohne Geld durchquerten wir die Insel, schliefen draussen oder bei fremden Leuten. Während einer Wanderung fanden wir einen Tag lang kein Wasser, wir kriegten Angst, gerieten an die Grenzen. Dann fanden wir eine Hirten-Zisterne, mit der wir Wasser tanken konnten. Ich habe die Tendenz, es drauf ankommen zu lassen.
Wie lange halten Sie es ohne Handy aus?
Gegenwärtig bin ich klar daran gebunden. Das gibt mir manchmal zu denken. Ich bin abhängig, auch von den sozialen Medien. Je mehr ich poste, desto mehr schaue ich, was geschieht. Die Reaktionen geben mir einen «Boost», die Droge «flushed».
Wovor haben Sie Angst?
Vor physischen Herausforderungen ausserhalb meiner Komfortzone. Vor Sprüngen in die Tiefe, vor Salti, vor einer Mountainbike-Strecke. Aber ich stelle mich den Ängsten. Meine Phobie sind Abhänge. Wenn es kein Geländer oder keine Leitplanke hat, stresst mich das. Etwa beim Wandern, deswegen habe ich gar Albträume. Schon als Kind hatte ich im Auto Panik, wenn wir einer entsprechenden Strasse entlangfuhren.
Gibt es einen Gott?
Nein. Der Mensch hat möglicherweise viele Aspekte der Natur und der Physik noch nicht begriffen. Allenfalls gibt es andere Arten von physikalischen Kräften, die wegen fehlender Geräte noch gar nicht messbar sind. Vielleicht ist irgendwann genau zu eruieren, wie das Universum entstanden ist – wahrscheinlich aber eher nicht, und das ist auch schön. Eine einzelne Macht, die alles leiten kann – das halte ich in Anbetracht der Komplexität für absurd.
Sie wären einen Tag lang ein Mann: Was würden Sie tun?
Sex haben mit einer Frau! Und schauen, wie sich das anfühlt. Oder mich in einer emotionalen Achterbahn bewegen und diese aus männlicher Perspektive erkunden.
«Ich möchte nicht unbedingt meine Freundin sein.»
Weshalb möchten Sie gerne Ihre Freundin sein?
Ich möchte das nicht unbedingt. Ich kann anstrengend sein, es gibt sicher einfachere Freundinnen. Ich führe ein ziemliches Ego-Leben, vieles dreht sich nur um mich. Und klar, ich bin ein Wirbelwind, aber ich kann auch eine Spassbremse sein.
Bei was haben Sie Ihre Meinung fundamental geändert?
Früher fand ich goldenen Schmuck ein Stilverbrechen. Mittlerweile trage ich ihn gerne. Ich weiss, Sie hätten etwas Tiefgründigeres erwartet. Sorry!
Was hat Sie zuletzt zu Tränen gerührt?
Als ich die Olympia-Silbermedaille erhielt, hat es mich erwischt, weil ich an die vielen Menschen dachte, die mich unterstützt haben. Tränen kommen mir bei manchen Stücken von Bach. Schon als Kind reagierte ich auf diese Musik emotional, während sich meine Eltern die Ohren zuhielten.
Sollte man Fremdgehen verzeihen?
Uff, spannende Frage. Das kommt auf die Konstellation an. Ich würde niemals grundsätzlich sagen: Das ist unverzeihlich oder immer ein «Fehler». Eine Beziehung bedeutet viel Arbeit und ist ein Lernprozess. Vielleicht ist die Frage auch: Ist Monogamie die richtige Lebensform? Womöglich muss das der oder die eine oder andere erst herausfinden. Man sollte es wagen, aus antiquierten Rollenbildern und christlichem Regelwerk auszubrechen.

Welches Lied können Sie auswendig?
Nur «Alle meine Entchen». Ich habe es mehr mit Melodien und Harmonien als mit Texten. Meistens singe ich eine halbe Strophe, dann kommt lalala oder blablabla.
Was ist der Sinn des Lebens?
Ich glaube nicht an einen bestimmten Sinn. Die Menschen sind gut darin, sich einen Sinn zu konstruieren und sich diesen zu «verkaufen» – dementsprechend leben sie dann. In meinem Fall sind das sportliche Ziele. Wir brauchen etwas, woran wir uns festhalten können, Herzblut für eine bestimmte Sache.
Sind Sie ein Mami- oder Papi-Kind?
Früher klar Papi. Ihn feierte ich, mit der Mutter stand ich auf Kriegsfuss. (lacht) Wir waren nicht die besten Freundinnen, eigentlich war das unfair von mir. Heute haben wir es aber super zusammen.
Wie war Ihr Spitzname als Kind und wie lautet er heute?
Früher war ich die «Marä», der Name wurde typisch bernisch verhunzt. Im Gymnasium hiess ich «Merli» und «Perlä». In der Radszene werde ich «the flying elephant» gerufen, weil ich mit meinem Gewicht (Reusser ist je nach Saison zwischen 66 und 73 Kilo schwer, die Red.) so gut den Berg hochkomme.
Wann hatten Sie so richtig Glück?
Ich habe mein ganzes Leben lang Glück. Ich wurde in super Verhältnisse hineingeboren, musste nie einen heftigen Schicksalsschlag verkraften. Meine Mutter sagt immer: Du bist ein Sonntagskind. Manchmal kann ich es selbst nicht fassen. Aber auf ein konkretes Ereignis bezogen: Es gab mal eine heikle Szene, ich war zwei Jahre alt und schlittelte bei den Nachbarn einen Abhang hinunter. Ich kam gerade noch auf der Kante des offenen «Bschüttlochs» zum Stillstand. Ich schrie, die Leute unten schrien auch. Wäre ich reingefallen, hätte ich wegen der Gase wohl nicht überlebt.
Was ist Ihr Serientipp?
«Black Mirror» auf Netflix. Die Serie ist philosophisch geprägt, es gibt viele Gedankenexperimente. Natürlich ist das eher schwere Kost, einfach nur reinzappen geht nicht. Viele Folgen haben mich beschäftigt, ich empfehle, sie mit Freunden zu besprechen.
«Mein vollgestopfter Kalender führt dazu, dass ich fast wie im Zölibat lebe.»
Was bedeutet Ihnen Zärtlichkeit?
Die ist mir sehr wichtig. Radprofis sind fast das ganze Jahr hindurch unterwegs, die körperliche und menschliche Nähe kann zu kurz kommen. Es ist kein Zufall, gibt es innerhalb der Szene viele Affären, die Leute haben Bedürfnisse, die es zu decken gilt. Mein vollgestopfter Kalender führt dazu, dass ich fast wie im Zölibat lebe. Viele aber lassen sich zu etwas hinreissen, was sie unter «normalen» Umständen allenfalls nicht tun würden.
Was stört Sie an der Schweiz?
Wir fühlen uns gut, weil wir PET-Flaschen recyceln. Unsere Landschaft und die Industrie sehen auf den ersten Blick gut aus. Dabei sind wir Teil des weltweiten Problems. 90 Prozent unseres täglichen Konsums kommen aus dem Ausland, Tag für Tag bestellen wir Tausende Pakete. Wir sollten von unserem hohen Ross runterkommen – ich inklusive. Wir profitieren vom System. Aber wir tun das auf Kosten der Umwelt, auf Kosten anderer.
Wenn Sie eine Kristallkugel hätten, was würden Sie wissen wollen?
Nichts! Es soll spannend bleiben, ich möchte weiterhin alle Optionen behalten – auch wenn ich mal scheitern könnte. Das ist typisch schweizerisch: Hinfallen hat keinen Platz in unserer Kultur. Dabei ist das wichtig, Niederlagen gehören zum Lernprozess.
Was bringt Sie zur Weissglut?
Wenn ich jemandem etwas versprochen habe, dies aber wegen irgendwelcher Umstände nicht einhalten kann. So etwas zu erklären, stresst mich extrem.
Könnten Sie auf Fleisch verzichten?
Machen Sie Scherze? Das tue ich, seit ich ein Kind bin. Und doch bin ich gross und stark geworden, habe keine Blutarmut, auch wenn das viele nicht glauben können.
Was finden Sie attraktiv an sich?
Meine Haare.
Was würden Sie an sich ändern?
Könnte ich das Rad der Zeit zurückdrehen, würde ich die Voreinstellungen an meinem Charakter anpassen. Ein bisschen weniger Geltungsdrang, ein geringeres Bedürfnis nach Anerkennung und einen nicht so grossen Wunsch, es mit allen gut zu haben. Das kann sehr anstrengend sein – für alle Beteiligten.
Werden Sie Ihre Organe spenden?
Ja, ich habe einen Ausweis.
Was ist die grösste Herausforderung in Ihrem Leben?
Der Umgang mit anderen Menschen fordert mich sehr. Manchmal verstehe ich nicht, wie andere Leute funktionieren. Und ich weiss nicht, wie ich mit ihnen umgehen soll, damit wir es gut zusammen haben. Dabei ist es genau das, was ich will: mit allen auskommen.
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