Wahlkampf in den USAApokalypse: 5. November
Demokraten und Republikaner werfen einander vor, das Land in den Untergang zu führen. Was steckt dahinter?
- Beide Parteien schüren Angst vor dem Sieg des gegnerischen Kandidaten.
- Trump kritisiert Harris und plant, gegen ihre Einwanderungspolitik vorzugehen.
- Demokraten sehen in Trumps Aussagen eine Bedrohung der Demokratie.
- Harris verliert laut Umfragen in wichtigen Swing-States an Boden.
Panik motiviert. Das wissen im Präsidentschaftswahlkampf beide Parteien: Sie stellen ihren Gegner als Reiter der Apokalypse dar, die im Fall eines Sieges die 235 Jahre alte amerikanische Republik beenden würde.
Gewinnt Donald Trump, werde er die Demokratie abschaffen und eine Diktatur einrichten, behaupten die Demokraten. Gewinnt Kamala Harris, würden die Säulen der Republik ausgehebelt, sagen die Republikaner.
In der Schlussphase des Wahlkampfs, 23 Tage vor dem 5. November, schenken beide Kandidaten fast täglich Gift nach. Während er Amerika retten werde, würden Harris und ihr Vize Tim Walz «das Land zerstören, von innen wie von aussen», sagt Trump. Am Freitag kündigte er in Colorado seine «Operation Aurora» an. Er werde die «Armee illegal eingewanderter Bandenmitglieder, die Kamala aus den Kerkern der Dritten Welt importiert» habe, entweder ins Gefängnis werfen oder «aus dem Land kicken».
Angstpropaganda verwirrt Wählerinnen und Wähler
Am Tag zuvor behauptete Harris an einer Bürgerversammlung, Trump wolle «am ersten Tag ein Diktator» sein und «den Menschen ihre Freiheiten wegnehmen.» Trump habe gesagt, er werde «das Justizdepartement als Waffe gegen seine politischen Gegner einsetzen» und die «Verfassung der Vereinigten Staaten terminieren. Stellt Euch das vor!»
Auch für Elon Musk geht es im November um nichts weniger als um alles. Gewinne Harris, seien das die «letzten Wahlen» überhaupt gewesen, behauptete der Trump-Fan. «Nach vier weiteren Jahren einer Regierung der Demokraten wird man so viele Illegale legalisieren, dass es keine ‹Swing-States› mehr geben wird», sagte der Chef von Tesla und X am Montag im Gespräch mit Tucker Carlson. «Wir werden ein Einparteienstaat sein wie Kalifornien.» Und er selber, sagte Musk, lande dann wohl wegen seines Einsatzes für Trump im Gefängnis.
Die Angstpropaganda verwirrt Wählerinnen und Wähler: Sie müssen zwischen zwei gegenläufigen Weltuntergangsszenarien navigieren. Umfragen zufolge halten sie den Schutz der Demokratie für wichtig. Das Thema rangiert auf der Liste weit oben neben der Inflation und der Einwanderung.
Beschimpfungen und extreme Unterstellungen waren schon immer Teil des amerikanischen Politbetriebs – Donald Trump erschuf 2015 allerdings nochmals eine neue Liga. Er beleidigte seine Widersacher mit bösen Spitznamen und liess seine Fans an Wahlkampfveranstaltungen zu Hillary Clinton «Lock her up!» – Sperrt sie ein! – skandieren.
Spätestens nach dem Wahlsieg Joe Bidens und dem Sturm aufs Capitol vom 6. Januar 2021 erhoben die Demokraten die Bedrohung der Demokratie zum Kernthema ihrer Wahlkämpfe. Im September 2022 schlug Biden einen Pflock ein, als er in einer Rede in Philadelphia bedrohlich ausrief: «Die MAGA-Republikaner respektieren die Verfassung nicht. Sie glauben nicht an die Rechtsstaatlichkeit. Sie erkennen den Willen des Volks nicht an.» Trump und seine Anhänger seien daran, sagte Biden, «die Demokratie selbst zu unterminieren.»
«Bürgerkrieg», «Hitler»
Seither wird das Feindbild Trump immer noch grösser – seine Gegner scheinen sich geradezu gegenseitig aufzuschaukeln. Diese «zunehmend verzweifelte Person … bereitet einen Bürgerkrieg vor», sagte MSNBC-Moderator Joe Scarborough am Montag. Vorher schon hatte die oberste Lehrergewerkschafterin Randi Weingarten Trump eine «existenzielle Bedrohung der Demokratie» genannt. «Die Freiheiten kannst du verabschieden», sagte der Schauspieler Robert de Niro. «Wahlen – vergiss es. Er wird nie abtreten.» Der Ex-Präsident sage «dasselbe wie Hitler und Mussolini», sagte Scarboroughs Kollegin Rachel Maddow letzten Dezember. «Es funktionierte damals, und es funktioniert heute.»
Die Hitlervergleiche hörten auch nicht auf, als Trump am 13. Juli in Butler, Pennsylvania, um ein Ohrläppchen erschossen worden wäre. Ryan Routh, der Urheber des zweiten Attentatsversuchs vom 15. September, «wurde wahrscheinlich von den gegenwärtigen Hetzreden angespornt, die Trump mit Hitler vergleichen», sagte der ehemalige FBI-Agent Tim Clemente zu CNN. «So etwas gab es noch nie. Wir werden immer unzivilisierter, leider.»
Harris fällt zurück, Trump will Vergeltung
Je mehr Zustimmung Biden als Kandidat verlor, desto aggressiver wetterten die Demokraten gegen Trump. Auch mit Kamala wollen sie den Kurs nicht ändern, denn die schwungvoll angetretene Kandidatin verliert inzwischen an Popularität. Gemäss Umfragen von dieser Woche ist sie in sechs von sieben Swing-States hinter Trump zurückgefallen.
Demokraten haben aber auch handfeste Gründe, sich vor Trump zu fürchten. Der Republikaner hat angekündigt, sich für den gegen ihn gerichteten «Krieg» mit rechtlichen Mitteln – Lawfare genannt – zu rächen. Trump wähnt sich als Herkules, der den Augiasstall des angeblich politisierten Justizdepartements ausmistet. Womöglich will er es Anklägern und Rechtsanwälten heimzahlen, die die «Russiagate»-Verschwörung ersannen und Strafklagen gegen ihn erhoben.
Vor Trumps Vergeltung fühlen sich auch Militärs wie der frühere Generalstabstabschef Mark Milley nicht sicher. Milley hatte 2020 seinen chinesischen Amtskollegen vor Trump gewarnt und im Vorfeld des 6. Januars beim mangelhaften Schutz des Kongressgebäudes eine Rolle gespielt. Der Journalist Bob Woodward zitiert in seinem am Dienstag erscheinenden Buch «War» Milley mit der Aussage, Trump sei «bis ins Mark ein Faschist. Er ist der gefährlichste Mann je.» Für alle Fälle, berichtet Woodward, habe Milley bei sich zu Hause schusssicheres Fensterglas einsetzen lassen.
Die Angst der Demokraten hat indes auch Elemente einer Projektion: Sie unterstellen Trump, was sie selbst zu tun gedenken oder bereits tun. Trump ist nicht der einzige politische Gegner, den sie vor Gericht bringen. Dessen Berater Steve Bannon sitzt dieser Tage eine viermonatige Gefängnisstrafe ab, weil er nicht vor der einseitig konstituierten Sonderkommission zum 6. Januar aussagen wollte. Demokratisch dominierte Gerichte in der Hauptstadt brummen Hunderten von Beteiligten am Capitol-Sturm, selbst wenn sie keinerlei Gewalt anwandten, lange Haftstrafen auf.
Demokraten planen tiefgreifende Reformen
Trump und die Republikaner verweisen darauf, dass die Demokraten tiefgreifende Reformen planen, falls sie das Weisse Haus behalten und Mehrheiten im Kongress erobern. Es werde erwogen, die 60-Stimmen-Hürde im hundertköpfigen Senat abzuschaffen und durch das einfache Mehrheitsprinzip zu ersetzen. Zusätzliche Richterinnen und Richter könnten die konservative Mehrheit von sechs zu drei im Supreme Court aufheben. Dann könnten die Demokraten die Verfassung umbauen und zum Beispiel das föderalistische Wahlmännersystem des «electoral college» beseitigen.
Die Fieberträume der Demokraten sind für Konservative so furchterregend wie die Schreckensvision einer Trump-Diktatur für Progressive. Vielleicht sind sie sogar realistischer. Harris’ Vize-Partner hat sich jedenfalls schon zu ihnen bekannt. «Wir alle wissen», sagte Walz am Dienstag, «das ‹electoral college› muss weg.»
Fehler gefunden?Jetzt melden.