Auch Swiss Steel baut abMassenentlassung um Massenentlassung – «Die Politik scheint nicht zu verstehen, wie prekär die Situation ist»
Die Schweizer Industrie leidet. Nun hat am Freitag eine weitere Firma einen Stellenabbau angekündigt. Steht das Land vor einem Deindustrialisierungsschub?

- Schweizer Industriefirmen kündigen diesen Herbst vermehrt Entlassungen an.
- Deutschland, der wichtigste Abnehmer, erlebt schwere Industrieprobleme.
- Ab 2026 sollen die Netzgebühren gesenkt werden, doch Widerstand ist garantiert.
Alle paar Tage muss in diesem Herbst eine Schweizer Industriefirma Entlassungen verkünden. Der letzte Hammer kam am Freitag: Der Stahlkonzern Swiss Steel streicht an seinem Standort Emmenbrücke LU 130 Arbeitsplätze. Weltweit baut Swiss Steel 800 Jobs ab.
Die Liste ähnlicher Meldungen diesen Herbst ist lang: Der Lüftungshersteller Zehnder in Gränichen AG (50 Stellen, Ende Oktober), die Textilmaschinenfabrik Rieter in Winterthur (74 Stellen, Mitte Oktober) und Stahl Gerlafingen (120 Stellen, Mitte Oktober) sind nur die prominentesten Beispiele der letzten Wochen.
Der Schweizer Industrie geht es schlecht. «Die Lage ist sehr angespannt, und viele blicken unsicher in die Zukunft», beschreibt es Stefan Brupbacher. Er ist Direktor des Verbands der Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie (abgekürzt als MEM bezeichnet).
Für den Moment schlagen sich die vielen Entlassungsmeldungen jedoch kaum in den offiziellen Statistiken nieder. Die Kurzarbeitsstatistik zeigt keine grösseren Ausschläge. Und die Arbeitslosigkeit im Industriesektor ist historisch gesehen auf tiefem Niveau.
Das liegt einerseits daran, dass die bisherigen Hiobsbotschaften erst Ankündigungen waren. Bis die Betroffenen sich als arbeitslos melden, vergehen danach jeweils ein paar Monate. Andererseits ächzte auch die Industrie noch vor wenigen Monaten unter Fachkräftemangel. Viele der Entlassenen finden also auch im aktuellen Abschwung schnell eine neue Anstellung.
Die Frage ist vielmehr, was noch auf die Industrie zukommt. Ist der Herbst 2024 vielleicht bereits der Talboden? Mit Sicherheit weiss das niemand. Es gibt jedoch deutliche Anzeichen dafür, dass diese Krise noch lange nicht ausgestanden ist.
Beim Blick auf die Industrie ist mindestens eine Unterscheidung nötig: Die Pharmabranche boomt seit Jahren und verhilft der Schweizer Wirtschaft zu immer neuen Exportrekorden. Die Wertschöpfung des Rests des Sektors, also der MEM-Branche, wächst dagegen weniger furios.
Längst beschäftigt der Dienstleistungssektor ein Vielfaches der Angestellten in der Industrie. Doch ist der Anteil der Industrie am Bruttoinlandprodukt im internationalen Vergleich nach wie vor gross. Die Schweiz ist eine Industrienation.
Die eingangs erwähnten Beispiele gehören alle zum MEM-Bereich. Die Firmen haben zwar teilweise mit branchenspezifischen Problemen zu kämpfen: Swiss Steel und Stahl Gerlafingen bereitet unter anderem der Protektionismus der EU im Stahlbereich Schwierigkeiten. Zehnder leidet darunter, dass weniger klassische Heizkörper nachgefragt werden, weil in Neubauten heute meist Bodenheizungen verbaut werden.
Deutschland ist das grosse Sorgenkind
Für die allgemeine Tristesse sind jedoch Gründe verantwortlich, die die meisten Industriefirmen betreffen: Die globale Nachfrage schwächelt, gerade in den wichtigen Märkten China und vor allem Europa. Das grosse Sorgenkind ist Deutschland: Die Wette, aus der Atomkraft auszusteigen und so lange billiges russisches Gas zu nutzen, bis die Energiewende geschafft ist, ist schiefgegangen.
Der Niedergang der deutschen Industrie trifft die Schweiz besonders. Deutschland ist noch immer mit deutlichem Abstand der wichtigste Abnehmer von Schweizer Industrieprodukten.
Glaubt man Befragungen durch die Investmentfirma Bantleon bei jenen Personen, die in den wichtigsten deutschen Unternehmen jeweils für den Einkauf zuständig sind, dürfte das auch noch einige Zeit so bleiben. Die Befragten schätzen die Lage so schlecht ein wie zuletzt im Lockdown während der Pandemie oder in der Finanzkrise vor 15 Jahren.
Der Unterschied zu damals ist allerdings, dass die Probleme dieses Mal hausgemacht sind und so schnell nicht verschwinden werden. Dass mit Donald Trump ein tendenziell protektionistischer Kandidat die US-Präsidentschaftswahl gewonnen hat, der zudem Deutschlands Rolle in der Welt kritisch sieht, erschwert die Lage zusätzlich. Leise Hoffnung macht höchstens, dass die deutsche Regierung plant, die Industrie mit Steuergeldern zu stützen.
«Werden gegenüber dem Ausland benachteiligt»
Neben der schwachen Nachfrage leidet die Schweizer Industrie unter hohen Netznutzungsgebühren. Diese werden bei allen Verbrauchern zum Strompreis addiert, um die teure Anpassung des Netzes an die Energiewende zu finanzieren. Die Höhe der Abgaben hängt vom Verbrauch ab, was insbesondere stromintensive Unternehmen wie zum Beispiel jene in der Stahlindustrie schmerzt.
«Hier werden wir gegenüber dem Ausland benachteiligt», sagt Swissmem-Direktor Brupbacher. Der Ausbau finde bei der Feinverteilung statt, doch die Grossverbraucher seien sowieso auf höherer Stufe – an die überregionalen Starkstromnetze – angeschlossen. «Es geht also darum, wer diese Kosten verursacht und wer dafür aufkommt, respektive wie diese Kosten zwischen den Netzebenen gewälzt werden», sagt Brupbacher.
Immerhin scheint der starke Franken, anders als in früheren Industriekrisen, kein schwerwiegendes Problem darzustellen. Solange er nur leicht überbewertet ist und keine plötzliche Aufwertung erfährt, können die meisten Firmen damit umgehen. Wichtig ist zudem die Inflation im Ausland: Solange sie merklich höher ist als im Inland, wirkt das als Preisvorteil für Schweizer Produkte.
«Bei vielen Firmen macht sich Frust breit», klagt Brupbacher insbesondere mit Blick auf die Netzgebühren. «Die Politik scheint nicht zu verstehen, wie prekär die Situation für sie ist.»
Der Bundesrat will zwar die Netzgebühren ab 2026 deutlich senken, Widerstand durch die Strombranche ist jedoch garantiert. Bereits beschlossen ist jedoch, so macht der Bundesrat energieintensiven Firmen Hoffnung, dass die Gebühren schon im kommenden Jahr aufgrund eines Bündels an verschiedenen Massnahmen sinken werden.
Hingegen stemmt sich der Bundesrat gegen die bevorzugte Unterstützung einzelner Branchen und Unternehmen. Das ist in gelenkten Volkswirtschaften wie China üblich. Seit der Pandemie üben sich auch die USA und die EU darin. Die Opfer sind kleine Volkswirtschaften wie die Schweiz, die keine solche Industriepolitik betreiben. Deren Firmen müssen gegen die staatlich unterstützten Konkurrenten ankommen.
Zumindest im Stahlbereich könnte die Schweiz nun allerdings selbst auf eine aktive Industriepolitik umschwenken: Die Wirtschaftskommission des Ständerats hat am Donnerstag drei Vorstösse unterstützt, die den Bundesrat zu Sofortmassnahmen zugunsten von Stahl Gerlafingen und Swiss Steel zwingen würden. Die Bewegung Klimastreik forderte am Freitag sogar eine Verstaatlichung des Werks in Emmenbrücke. Das wird chancenlos bleiben. Trotzdem: Die nächsten Wochen werden heiss.
Korrektur: In einer ersten Version dieses Artikels hiess es, auch der Solarmodulhersteller Meyer Burger habe am Freitag Entlassungen bekanntgegeben. Das ist falsch: Die Entlassungen wurden schon im September kommuniziert.
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