Clemens Fuest im Interview«Die Lage ist ernst» – führender Ökonom sagt, woran Deutschlands Wirtschaft krankt
Autobauer und Chemiefirmen entlassen Zehntausende Angestellte. Für Clemens Fuest kein Zufall. Er nennt die Gründe und sagt, wie Deutschland wieder fit wird.
Die deutsche Wirtschaft kriselt. Aus der einstigen Wachstumslokomotive ist ein Nachzügler geworden. Seit der Pandemie stagniert die Produktion. Autobauer wie Volkswagen, Chemiefirmen wie BASF und Stahlhersteller wie ThyssenKrupp schliessen Werke und streichen Stellen. Die Stimmung ist schlecht.
Wie tief ist die Krise? Und wie kann sich Deutschland aus ihr herausarbeiten? Einer, der es wissen muss, ist Clemens Fuest. Er leitet das IFO-Wirtschaftsinstitut in München und ist einer der einflussreichsten Wirtschaftsexperten des Landes. Wir haben ihn anlässlich eines Besuchs am Schweizerischen Institut für Auslandforschung an der Universität Zürich zum Interview getroffen.
Die deutsche Wirtschaft schrumpft das zweite Jahr in Folge. Wie schlimm ist die Lage, Herr Fuest?
Die Lage ist ernst, die Wirtschaft stagniert. Es gibt grundlegende Entwicklungen, die nicht gut sind.
Was sind das für Entwicklungen?
Die Probleme begannen 2017 mit dem Diesel-Skandal. Seit 2018 schrumpft auch die Industrieproduktion. Dann kam die Pandemie. Sie hat Deutschland zwar nicht so hart getroffen, aber die Erholung danach war extrem schwach. Und schliesslich brachte der Ukraine-Krieg einen Energiepreis-Schock. Dieser hat Deutschland härter getroffen als andere Länder. Unsere Industrie ist sehr gasintensiv und stark mit Osteuropa verbunden. All das macht uns zu schaffen.
Wurde Deutschland auf dem falschen Fuss erwischt?
Bei der Energieversorgung zweifellos. Deutschland hat eine riskante Strategie verfolgt. Man wollte rasch aus der Kernenergie aussteigen und voll auf erneuerbare Energien setzen. Bis zur vollständigen Umstellung sollte Gas als Brückenenergie dienen. Doch dieses Gas, dem so eine entscheidende Rolle beikommt, ist jetzt weg oder viel teurer.
War der Atomausstieg ein Fehler?
Als der Atomausstieg nach Fukushima beschlossen wurde, dachte man, man könne sich das leisten. Heute zeigt sich: Diese Politik kommt Deutschland teuer zu stehen. Wir haben weniger Zugang zu Energie als andere Länder. Das schwächt vor allem die Industrie. Deutschland wird künftig nicht mehr der Industriechampion sein, der es einmal war.
Kann sich die Industrie nicht auf die höheren Energiepreise einstellen?
Vor allem die Grundstoffchemie benötigt viel Energie. Daneben auch die Metall-, Papier-, Keramik- und Glasindustrie. Diese Branchen machen etwa 15 Prozent der Wertschöpfung in der deutschen Industrie aus. Ein Teil dieser 15 Prozent wird allen Anstrengungen zum Trotz keinen anderen Ausweg sehen, als in andere Länder abzuwandern.
Wohin?
Nach Asien und in die USA. In Asien sind vor allem die Löhne niedriger als in Deutschland. In den USA kostet Energie weniger. Das war schon immer so, aber jetzt ist der Abstand noch grösser geworden. Die USA sind überall stark: bei Öl, Gas, erneuerbaren Energien, bei der Kernkraft.
China läuft Deutschland bei der Elektromobilität den Rang ab. Warum?
Natürlich kann man sich fragen, ob die deutschen Hersteller zu wenig auf Elektroautos gesetzt haben. Doch das eigentliche Problem ist nicht, dass die Hersteller zu wenig Elektroautos bauen wollen oder können, sondern dass die Konsumenten sie nicht wollen. Und das hat eben damit zu tun, dass die Technologie noch nicht voll ausgereift ist und der wahrgenommene Komfort nicht hoch genug ist, auch wegen fehlender Infrastruktur, vor allem Ladesäulen.
Das klingt kurzsichtig. Spätestens in zehn Jahren kauft doch niemand mehr einen Verbrenner.
Das ist alles andere als sicher. Aber klar: Falls sich Elektroautos durchsetzen, dann verlieren die deutschen Autofirmen ihren Technologievorsprung, den sie beim Verbrennermotor hatten. Und dann ist es natürlich, wenn ein Strukturwandel einsetzt. Das heisst: Die Autoindustrie wird künftig wohl weniger gross sein als heute. Es ist wie bei der Kohle. Irgendwann brauchte man nicht mehr so viel davon und andere konnten billiger liefern, und dann ist die Kohle- und Stahlindustrie aus dem Ruhrgebiet abgewandert.
China sagt klar: Elektroautos sind die Zukunft. Jedes zweite verkaufte Auto ist dort elektrisch. In Deutschland nur jedes fünfte. Hätte die deutsche Regierung aktiver den Weg weisen müssen?
Die Politik hat sich den Umstieg schon gewünscht. Aber die Kunden wollten ihn nicht mitmachen – weil es unter anderem kompliziert ist, Ladesäulen zu finden und man eine halbe Stunde warten muss, um ein Auto zu laden. Man kann den Unternehmen als Regierung schlecht befehlen, weniger Verbrenner herzustellen. Der Umstieg braucht einfach Zeit.
Jetzt will die EU zusätzlich Zölle auf chinesische E-Autos einführen. Ist das sinnvoll?
Man kann diese Ausgleichszölle damit rechtfertigen, dass sie für fairen Wettbewerb mit den subventionierten Herstellern in China sorgen. Gegen die Zölle sprechen aber zwei Argumente. Erstens die Klimaschutzziele: Wir wollen ja den Umstieg auf Elektromobilität – da wäre es hinderlich, sie zu verteuern. Und zweitens könnte China Gegenzölle einführen, sodass ein Handelskrieg ausbricht. Unsere Hersteller werden jetzt von China unter Konkurrenzdruck gesetzt. Aber für die Chinesen ist es noch ein weiter Weg. Sie haben in Europa noch einen sehr geringen Marktanteil.
«Die Schweiz tut sicher gut daran, hart mit der EU über einzelne Bereiche eines neuen Vertragspakets zu verhandeln.»
Stichwort Europa: Mario Draghi sagt, die EU müsse sich zusammenraufen und bei der Dekarbonisierung, der Verteidigung und im Finanzmarkt stärker zusammenarbeiten.
Das sehe ich auch so. Zusätzlich braucht es einen Bürokratieabbau. Auch darauf hat Draghi hingewiesen. Die EU hat in den vergangenen fünf Jahren 13’000 Rechtsakte auf den Weg gebracht. Das entspricht etwa acht neuen Gesetzen pro Tag. Kein Mensch kann vermitteln, dass so etwas auch nur im Entferntesten sinnvoll oder nötig sei.
Können Sie ein Beispiel geben?
Die sogenannte Energieeffizienzrichtlinie. Sie soll den gesamten Energieverbrauch der einzelnen Länder deckeln – nicht die Treibhausgasemissionen, wohlgemerkt, sondern den Energieverbrauch, also inklusive der grünen Energien. Kein Argument der Welt spricht für so etwas. Trotzdem gibt es jetzt diese Richtlinie. Und sie ist strikt: Würde Deutschland sie einhalten, fiele es sogleich in eine massive Depression. Die EU will auch im Detail regeln, wie Rechenzentren gebaut werden müssen, welche Temperaturen da zu herrschen haben und so weiter. Alles völliger Unsinn, vollkommen überflüssig.
Wäre Deutschland ohne die EU besser dran?
Auf keinen Fall. Die Wirtschaft funktioniert so, dass man vor allem mit seinen Nachbarn handelt. Die Niederlande sind ungefähr so wichtig für Deutschland wie China. Auch die Schweiz ist von hoher Bedeutung. Der EU-Binnenmarkt ist ein grossartiges Projekt.
Soll sich die Schweiz näher an die EU binden?
Aus deutscher Sicht besteht ein klares Interesse daran, dass sich die Schweiz tiefer in den Binnenmarkt integriert. Das wäre ein wirtschaftliches Plus. Aus Schweizer Sicht ist verständlich, dass man gewissen bürokratischen Fehlentwicklungen in der EU skeptisch gegenübersteht und auch Angst vor einem Souveränitätsverlust hat. Die Schweiz tut sicher gut daran, hart mit der EU über einzelne Bereiche eines neuen Vertragspakets zu verhandeln.
Auch in Deutschland herrscht Angst vor einem Souveränitätsverlust. Die Politik läuft Sturm gegen die geplante Übernahme der Commerzbank durch die italienische Unicredit. Zu Recht?
Für mich spricht wenig gegen diese Übernahme. Das einzige Problem ist: Was passiert eigentlich, wenn Unicredit einmal in Schwierigkeiten gerät? Dann hätten wir eine sehr grosse Bank, aber keine europäische Institution mit den finanziellen Mitteln, um diese Bank zu stützen. Deutschland würde sagen: «Liebe Italiener, das ist jetzt eure Bank.» Und Italien würde sagen: «Ja, aber die meisten Vermögenswerte dieser Bank sind in Deutschland.» Die europäische Bankenunion ist in dieser Hinsicht noch nicht vollständig.
Glaubt Deutschland noch an seine Zukunft?
Viele Unternehmen überlegen: «Bekomme ich in Deutschland angesichts der schrumpfenden Erwerbsbevölkerung und der immer kürzeren Arbeitsstunden noch genug Arbeitskräfte?» Die ungünstige Demografie ist einer von vielen Faktoren, die den Wirtschaftsstandort belasten.
Was kann man dagegen tun?
Wichtig ist, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu erleichtern. Das würde besonders den Frauen ermöglichen, besser bezahlte Jobs anzunehmen. Wenn beide Eltern arbeiten, muss sich das aber auch lohnen. Ein Paar mit Kindern, bei dem beide Partner Teilzeit arbeiten und damit insgesamt 3000 Euro im Monat verdienen, hat heute kein finanzielles Interesse, sein Arbeitspensum zu erhöhen. Beim höheren Verdienst fallen Sozialtransfers weg, die Steuern steigen, und am Ende bleiben vielleicht 100 Euro mehr Geld in der Tasche. Solche Fehlanreize müssen weg.
Lassen sich so genug Arbeitskräfte mobilisieren?
Deutschland braucht mehr Zuwanderung. Mehr gut ausgebildete Leute sollten zu uns kommen. Damit kann man das Schrumpfen der Erwerbsbevölkerung zwar nicht verhindern, aber man kann es verlangsamen.
Bei einer Stagnation, wie sie Deutschland erlebt, hätten Länder wie China oder die USA schon längst Konjunkturprogramme im grossen Stil lanciert. Was spricht dagegen?
Nur weil diese Länder bestimmte Dinge tun, heisst das nicht, dass diese Dinge gut sind. Der Inflation Reduction Act, das Reindustrialisierungsprogramm von Joe Biden, ist ein teurer wirtschaftspolitischer Fehler. Damit werden jetzt Fabriken für Wärmepumpen oder Solarzellen finanziert. Kaum eine dieser Industrieansiedlungen wird jedoch die Subventionszeit überleben. Die meisten werden wieder abwandern. Ausserdem herrscht in den USA Vollbeschäftigung. Es ergibt keinen Sinn, Arbeitskräfte in die einheimische Wärmepumpenproduktion umzulenken.
Solarzellen, Wärmepumpen, Elektroautos: Soll all das künftig aus China kommen?
Aus China, aus der Türkei oder aus anderen Ländern. Oft heisst es in dem Zusammenhang, dass eine Region wie die USA oder auch die EU sich nicht in kritische Abhängigkeiten begeben sollte. Doch das trifft nur auf wenige Bereiche zu – etwa bei den Antibiotika, wo man in einem Konfliktfall keine Arzneimittel mehr bekäme. Hier braucht es zwingend Fabriken in Europa, die das auch produzieren können. Aber wenn mal ein paar Monate lang keine Solarzellen geliefert werden könnten, wäre das nicht weiter tragisch.
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