Stahl GerlafingenDemo, Politlobby – und jetzt Staatshilfe? Wie ein Stahlwerk die Schweiz auf Trab hält
Dem ältesten Stahlkocher droht das Aus. Die Chefs weibeln beim Bundesrat und demonstrieren in Bern. Dort fragt man sich nun: Ist Stahl Gerlafingen systemrelevant?
- Über 400 Angestellte forderten vom Bund finanzielle Unterstützung für das Stahlwerk.
- Der Umsatz sank 2023 um 300 Millionen auf 400 Millionen Franken.
- Das Unternehmen leidet unter hohen Stromkosten.
- Das Werk gilt als klimafreundlich, es nutzt Strom statt Kohle zur Stahlproduktion.
Jetzt also auch noch eine Kundgebung. Über 400 Angestellte des Stahlwerks aus Gerlafingen im Kanton Solothurn haben am Montagmorgen vor dem Bundeshaus finanzielle Unterstützung von der Eidgenossenschaft gefordert.
Seit Monaten engagiert sich neben ihnen eine Vielzahl von Akteuren für das Überleben des Unternehmens. Die Chefs und Besitzer haben sich wiederholt mit den zuständigen Bundesräten getroffen und um Staatsmittel geworben. Sie waren auch an der Kundgebung der Angestellten dabei, «um unsere Solidarität mit unseren Mitarbeitenden zu zeigen», wie Finanzchef Patrick Puddu es formuliert. «Das Stahlwerk ist wie eine grosse Familie.»
Support erhalten die Chefs von der bürgerlich dominierten Solothurner Kantonsregierung. Und National- und Ständerat befassen sich seit Monaten mit Vorstössen, die auf Stahl Gerlafingen zugeschnitten sind. Sie haben gute Chancen.
Vor anderthalb Wochen hat der italienische Besitzerkonzern Beltrame die Streichung von 120 Stellen angekündigt. Schon im Frühjahr hatte er 95 Arbeitsplätze abgebaut. Der Umsatz sank 2023 um 300 Millionen auf 400 Millionen Franken. Der Verlust lag bei über 100 Millionen. Bei damals noch rund 500 Angestellten sind das rund 200’000 Franken pro Person. Dieses Jahr hat sich die Situation eher noch verschlimmert.
Die Gründe dafür sind laut dem Unternehmen vor allem die hohen Stromkosten in der Schweiz und unfaire Wettbewerbsbeschränkungen durch die Europäische Union. Die Produktionslinie für Breitflachstahl für den Export in die EU ist bereits geschlossen.
Für den Markt für Baustahl in der Schweiz war Gerlafingen dagegen lange noch günstig genug, da der Transport aus dem Ausland nicht anfiel; offensichtlich reicht mittlerweile auch dieser Vorteil nicht mehr aus. Tritt keine Verbesserung ein, könnte Beltrame, so erzählen es Beobachter, in wenigen Monaten die Schliessung des ganzen Standorts einleiten.
Das ist für die Betroffenen dramatisch. Doch ist klar, dass das Stahlwerk aus nationaler Perspektive kein volkswirtschaftliches Schwergewicht ist. Warum hält es Bundesbern trotzdem so auf Trab? Es ist eine Melange von Effekten.
Betroffene mit einer Stimme
Wie die «Solothurner Zeitung» vergangene Woche berichtet hat, erhält die Solothurner Kantonsregierung bei ihrem Lobbying in Bern sogar die Unterstützung der lokalen FDP. Von dieser wäre noch am ehesten Gegenwehr gegen die Ausbreitung des Staats zu erwarten gewesen.
Im Bundesparlament kämpft mit Nationalrat Christian Imark ein Vertreter der SVP, die ausser beim Militär und bei der Landwirtschaft die Staatsausgaben ebenfalls senken will. Der Solothurner Unternehmer Simon Michel hat Ende September als einziges Mitglied der FDP-Fraktion Imarks Vorstoss unterstützt, laut dem der Bundesrat das Stahlwerk «gegebenenfalls mit Notrecht» retten soll.
Weil die Linke geschlossen und die SVP zu mehr als der Hälfte dafür stimmte, kam der Vorstoss durch. Jetzt liegt er bei der Wirtschaftskommission des Ständerats. Sie beschloss am Montag dem Vernehmen nach, den Vorstoss bald zu behandeln. Damit sollte der Ständerat im Dezember darüber befinden können. Das zu erreichen, war ein Ziel der Kundgebung.
Hinzu kommt Unterstützung aus Luzern: Dort geht es dem Stahlwerk in Emmenbrücke noch schlechter als jenem in Gerlafingen. Entsprechend hat auch der Luzerner FDP-Ständerat Damian Müller einen Vorstoss zur Unterstützung der Branche eingereicht.
Im Hintergrund unterstützt wird das Ganze von einem, der seit Jahrzehnten für Stahl Gerlafingen kämpft: Alt-SP-Ständerat Roberto Zanetti, dessen Vater Stahlgiesser im Werk war, als es noch zum Industriekonzern Von Roll gehörte. Zanetti war Gemeindepräsident von Gerlafingen, als das Werk Mitte der 1990er-Jahre bereits einmal vor der Schliessung stand. Er überzeugte die Banken, den Betrieb weiter zu unterstützen, und setzte sich erfolgreich für finanzielle Hilfe durch den Kanton ein.
Eine aussergewöhnliche Firma
Das Stahlwerk läuft Tag und Nacht, die Arbeitsbedingungen sind aufgrund der Hitze extrem, und in ihren Anzügen sehen die Arbeiter auf Fotos aus wie Marsmenschen. Zanetti sagt darum: «Stahlarbeiter rühren die Herzen der Bevölkerung. Die Branche steht wie keine andere für die Industrie an sich.»
Eine De-Industrialisierung, wie sie gerade Deutschland erleidet, würde sich hier früh bemerkbar machen. Auch im US-Wahlkampf kommt der Branche traditionell eine grosse Bedeutung zu. Insbesondere die SVP-Vertreter, die Imarks Vorstoss zum Erfolg verholfen haben, dürften das im Hinterkopf gehabt haben.
Eine noch grössere Rolle spielen diese Gedanken aber für die Gewerkschaften: Die Industrie ist ihre Heimat, diese Arbeiter sind ihre historische Klientel. Sollten die Gewerkschaften die Schweizer Regierung ausgerechnet hier zu einer aktiveren Industriepolitik bewegen können, wäre das ein Grosserfolg für sie.
Hinzu kommt, dass Stahl Gerlafingen für sie nicht irgendeine Firma ist: Die 6000-Einwohner-Gemeinde südöstlich von Solothurn ist die Wiege der Schweizer Sozialpartnerschaft. 1937 verhandelten hier Arbeitnehmervertreter und die Firmenspitze das sogenannte Friedensabkommen: Das heute weitverbreitete Konzept von Gesamtarbeitsverträgen, Streikverbot und Zurückhaltung des Staates in diesen Fragen ist auf diese Einigung zurückzuführen.
All das ist für die Gewerkschaften so wichtig, dass sie sogar alte Konflikte beilegen: Die klassenkämpferisch und provokativ auftretende Unia und die moderaten Angestellten Schweiz arbeiten in dieser Frage seit Monaten zusammen. Die beiden Organisationen haben sich vor Jahren wegen finanzieller Angelegenheiten verkracht und sich nun offensichtlich einander wieder angenähert.
Sauberer Stahl
Sollte die Forderung nach Staatsmitteln Mitglieder der grünen Fraktion noch nicht überzeugt haben, so tat es doch das Öko-Argument: Die Unterstützung des Kantons vor 30 Jahren floss in Massnahmen, die die Auswirkungen des Werks auf die Umwelt minimieren sollten. Heute gilt Stahl aus Gerlafingen als vergleichsweise klimafreundlich, weil das Werk seine Hitze aus Strom statt aus Kohle gewinnt. Zudem verwertet es vor allem Schrott für die Stahlproduktion und spielt darum eine wichtige Rolle für die sogenannte Kreislaufwirtschaft, die zur Erreichung der Klimaziele nötig ist.
Ist Stahl Gerlafingen systemrelevant?
Aus Sicht der Befürworter der Staatshilfe ist Stahl Gerlafingen darum – genauso wie Swiss Steel in Emmenbrücke – systemrelevant. Dieser Begriff ist wichtig: Davon hängt ab, ob sich der Staat wie bei der UBS 2008, der Swiss 2020 oder der Credit Suisse 2023 mit Steuermilliarden exponiert.
«Ein Unternehmen gilt als systemrelevant, wenn es erstens zentrale und unverzichtbare Leistungen für die Volkswirtschaft erbringt und zweitens diese Leistungen nicht in einem vertretbaren Zeitraum ersetzt werden können», erklärte Wirtschaftsminister Parmelin im Parlament die Ablehnung des Bundesrats. Dies sei bei Stahl Gerlafingen nicht der Fall. Die Leistungen könnten im Ausland erbracht werden.
SVP-Nationalrat Imark will das nicht gelten lassen: Laut ihm würden bei der dortigen Produktionsweise 3 Millionen Tonnen CO₂ pro Jahr zusätzlich anfallen, was knapp einem Zehntel der heutigen Emissionen in der Schweiz entspreche. Dabei seien die 150’000 Lastwagenfahrten für den Transport nicht eingerechnet.
Wie die «NZZ am Sonntag» berichtete, hat das Wirtschaftsdepartement 2020 die Systemrelevanz zudem gegenüber Stahl Gerlafingen bestätigt. Die Leistungen des Werks seien für die Versorgung des Landes «unerlässlich». Parmelins Departement erwidert, dass es dieses Prädikat zu Beginn der Pandemie sehr grosszügig verteilt habe. Die Situation sei heute eine andere.
Wie der Bundesrat reagiert
Der Bundesrat rät der Geschäftsleitung aus Gerlafingen bisher, sich auf bereits bestehende oder für Anfang 2025 geplante Förderinstrumente zu bewerben. Unter anderem könnten so die Netzzuschläge für die Energie deutlich sinken. Ausserdem prüft die Regierung gerade, ob sie die Vergabekriterien für Material für öffentliche Bauten so ändern kann, dass der klimafreundliche inländische Stahl bessere Chancen hat.
Auch stellt der Bundesrat der Firma in Aussicht, sich finanziell daran zu beteiligen, falls das Management klimafreundliche Investitionen tätigen sollte. Das hilft der Firma allerdings nicht: Sie braucht aktuell jeden Franken, um überhaupt die laufenden Kosten zu decken.
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