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Politökonomin im Jahreswechsel-Gespräch
«Im Moment bräuchten wir wohl alle mal eine Pause»

15.07.2023, Sachsen-Anhalt, Zörbig: Ein Feldbrand in der Nähe der Stadt Zörbig. Bei einem Feldbrand im Norden Leipzigs sind nach Angaben der Polizei rund 30 Hektar Agrarfläche abgebrannt. Foto: Hannes P. Albert/dpa +++ dpa-Bildfunk +++
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Der grüne Moment in der Politik ist verflogen: Die Klimabewegung verblasst, die Grünen verlieren Wahlen, überall in Europa, die CO₂-Emissionen steigen, statt zu sinken, wir zielen Richtung 3 statt 1,5 Grad Erwärmung, Klimaschutz scheint wieder ein Minderheitenanliegen zu sein. Warum, Frau Göpel?

Um die Entwicklung zu verstehen, muss man sich vergegenwärtigen, welcher Reihe von Schocks die Welt zuletzt ausgesetzt war: Erst die Corona-Pandemie, dann ein grosser Krieg in einem europäischen Land, der eine Million Menschen aus der Ukraine nach Deutschland vertrieb, die Energieversorgung infrage stellte, die Inflation explodieren liess – das sind Veränderungen, wie wir sie lange nicht gekannt haben. Im Oktober kam ein weiterer Krieg dazu, in Gaza. Das alles schafft Unsicherheiten in einem derart weiten Spektrum, dass davon auch die Transformationspolitik betroffen ist.

In welcher Weise?

Wir dachten ja immer, wir bauen Wirtschaft und Gesellschaft klimafreundlich um und gehen dabei so vor, dass die Veränderungen eine gewisse Intensität haben, aber in einem überschaubaren und planbaren Zeitraum stattfinden: sei es durch die Lenkungswirkung von Preisen oder den schrittweisen Umbau von Mobilitätsstrukturen, Energiesystemen oder landwirtschaftlichen Praktiken. Wenn man so viel umwälzt, ist es nötig, eine Idee davon zu haben, welche Massnahme welche Wirkung nach sich zieht. Die Schocks, die das System jetzt von aussen trafen, haben diese Erwartungssicherheit infrage gestellt.

Finden gerade zu viele «Zeitenwenden» gleichzeitig statt?

Man fragt sich natürlich, ob das ein Zufall ist. Wenn man den Bericht des Club of Rome von 1972 über die Grenzen des Wachstums liest, staunt man über die Präzision, mit der gewisse Entwicklungen vorausgesagt werden. Die Prognose war ja nicht, dass uns die Ressourcen im Boden ausgehen, sondern dass eine Reihe von Trends so negativ aufeinander einwirken werden, dass es zu einem schnellen Zerfall von zivilisatorischen Errungenschaften und in der Folge zu gesellschaftlichen Krisen kommt. Haupttreiber war und bleibt bis heute das Bevölkerungswachstum, das dazu führt, mehr Nahrung herzustellen, die industrielle Produktion und die Energieversorgung auszuweiten, was wiederum die Verschmutzung ansteigen lässt und alles zusammen extrem viel Druck auf die Ökosysteme ausübt.

Und die geopolitische Unordnung?

… zeigt sich nicht nur in Kriegen, sondern auch darin, dass globale Lieferketten auf einmal unterbrochen werden, dass wir bei seltenen Rohstoffen erst neu austarieren müssen, aus welchen Ländern wir sie noch verlässlich bekommen können. Es wurde zwar vorausgesagt: Dennoch ist es erschreckend, in welcher Geschwindigkeit diese Krisen jetzt alle auf uns einprasseln.

Forscher sagen, Bürgerinnen und Bürger seien «veränderungserschöpft». Bleibt deswegen für die ökologische Transformation so wenig Energie?

Auf jeden Fall, manche sprechen ja schon von posttraumatischen Erscheinungen. Was Menschen verarbeiten können, bestimmt auch, wie veränderungsbereit sie sind. Im Moment bräuchten wir wohl alle mal eine Pause, einen kurzen Moment zum Durchschnaufen.

Pause scheint aber gerade nicht im Angebot.

Darum ist die Frage, welche Prioritäten wir setzen, entscheidend. Traurigerweise dominiert gerade wieder die alte Art, auf die Welt zu schauen: Wir können uns die Ökologie nur leisten, wenn vorher genug verdient wurde … Und so fort.

Dabei hatten viele eigentlich schon begriffen, dass die ökologische Transformation auch eine Frage der Sicherheit ist, weil nur sie nachhaltiges Überleben garantiert …

… ja, aber das ökologisch informierte, langfristige Denken wird derzeit wieder zurückgedrängt. Dabei wird vergessen, dass es beim Thema Nachhaltigkeit eben längst nicht mehr darum geht, ob die Natur einigermassen schön bleibt, sondern ob Versorgung und Gesundheit auf diesem Planeten langfristig gewährleistet bleiben. In der Krise haben wir jedenfalls sehr viele Systeme, die wir eigentlich transformieren wollten, erst mal wieder stabilisiert.

Braunkohle verbrannt statt russisches Gas, etwa.

Empörend ist, dass die Gewinner dieser Regression ausgerechnet die grossen Akteure der fossilen Vergangenheit sind, die mit Höchstpreisen enorme Profite abgeschöpft haben. Es fällt auch auf, dass die Inflation in jenen Bereichen am höchsten war, wo die Menschen den Konsum kaum einschränken können: Wohnen, Lebensmittel, Energie. Eine derart aggressive Vorteilsnahme in einer Krise schmälert das Vertrauen in den Gesellschaftsvertrag.

Früher haben sich viele über höhere Benzinpreise aufgeregt, dieses Jahr tobte ein Streit um die Heizungen: Viele Deutsche hatten Angst, Robert Habeck wolle ihnen die Öl- oder Gasheizung quasi eigenhändig aus der Wand reissen. Wird die Wende nicht immer schwierig, sobald sie in jedem Keller, jeder Garage ankommt?

Das kommt auf die Wahrnehmung an: Natürlich war es ein Fehler, dass der grüne Entwurf für die Wärmewende keine soziale Abfederung vorsah. Dennoch: Eine so aggressive Kampagne gegen einen Vizekanzler hat Deutschland vermutlich noch nicht erlebt. Bei den Solaranlagen wiederum sah das ganz anders aus: Da sind alle begeistert mit ihren Smartphones rumgelaufen und haben die produzierten Kilowattstunden vorgezeigt!

«An allem, was schiefging, waren die Grünen und Robert Habeck schuld.»

Den Grünen ist vor zehn Jahren mit dem Veggie-Day etwas Ähnliches schon mal passiert.

Der Vorschlag sah vor, in öffentlichen Kantinen, wo mit Steuergeldern bestimmte Ernährungsmuster subventioniert werden – täglich billiges Fleisch etwa –, einen Tag in der Woche vegetarisch zu gestalten. Auch damals taten die Medien so, als marschierten die Grünen in den Küchen der Republik ein und wollten den Menschen das Fleisch aus der Pfanne reissen. Was mich erstaunt, ist, wie stark diese Erzählung verfängt, wenn Menschen damit ihre Gewohnheiten verteidigen können.

Anderswo hat die FDP mitgeholfen, den Diskurs zu ändern.

Ja, es war Christian Lindner, der die erneuerbaren Energien «Freiheitsenergien» nannte, als Russland nach dem Überfall auf die Ukraine begann, am Gashahn zu drehen, um Deutschland zu erpressen. Das Thema bekam dadurch einen anderen Spin und neue Legitimität bei Menschen, die sonst für «grüne» Projekte vielleicht wenig Sympathie haben. Die Frage ist stets, wie man etwas politisch rahmt: Im einen Fall werde ich Teil einer technologischen Revolution, im anderen Fall wird so getan, als wäre eine stark vom Staat abgefederte Erneuerung sozusagen eine Enteignung.

Noch nie wurden die Grünen mit derart viel Spott und Hass eingedeckt wie in den Wahlkämpfen dieses Jahres. Man muss schon von einer kulturellen Gegenbewegung sprechen. Wie erklären Sie das?

Das hat mich auch sehr beschäftigt. An allem, was schiefgeht, waren die Grünen und Robert Habeck schuld – selbst wenn sie, wie beim verfassungswidrigen Transformationsfonds, von Fehlern anderer nachweislich nur betroffen waren. In Situationen, in denen sich viele Menschen überfordert fühlen, kommt offenkundig der Wunsch nach einem Feindbild auf. Am meisten hat mich schockiert, dass alle anderen Parteien, von ganz links bis ganz rechts, auf einmal geeint auf die Grünen einschlugen.

Sie seien schlimmer als die rechtsradikale AfD, behaupten manche Christdemokraten, obwohl ihre Partei mit den Grünen in sechs Bundesländern zusammen regiert …

Da verfällt gerade eine politische Kultur. Sollte sich der politische Wettstreit nicht um den besten Weg nach vorn drehen? Heute diskutieren wir oft wütend über Gesetze, die niemand so vorgelegt hat.

Hat der Hass nicht mit dem Gefühl vieler zu tun, die Grünen wollten sie gängeln? Ihnen vorschreiben, wie sie zu leben haben?

Vielleicht. Es wird aber natürlich auch alles dafür getan, es so darzustellen. Den Leuten vorzumachen, es sei grüne Ideologie, wenn neue Regeln für nachhaltigeres Leben eingeführt werden. Nein, die Grünen wollen den Menschen nicht das Einfamilienhaus verbieten! Aber wenn der Staat in einer Nachhaltigkeitsstrategie ein Flächenversiegelungsziel bestimmt, dann fällt der Blick irgendwann automatisch auf die Frage, wie viele Einfamilienhaussiedlungen unsere Landschaft noch verträgt.

«Entweder wir bleiben bei den Fakten – oder wir stellen faktisch die Ziele infrage.»

Mittlerweile tun die anderen Parteien wieder so, als sei Klima- und Umweltschutz allein die Aufgabe der Grünen.

Dabei ist das Pariser Abkommen ein völkerrechtlicher Vertrag, dem jede Regierung unterliegt. Im Wahlkampf 2021 haben sich alle Parteien zum 1,5-Grad-Ziel bekannt. Die Wissenschaft rechnete den konservativen und liberalen Parteien danach vor, dass die Massnahmen, welche sie dafür vorsahen, bei weitem nicht ausreichen. Die Kritisierten reagierten darauf aber nicht, indem sie ihr Programm nachschärften, sondern indem sie behaupteten, die Berechnungen seien nicht wissenschaftlich, sondern ideologisch. Dazu sage ich: Entweder wir bleiben bei den Fakten – oder wir stellen faktisch die Ziele infrage.

Die Konservativen haben es geschafft, Klima- und Umweltschutz wieder zu einer Frage der Moral zu machen. Dabei wäre es eigentlich eine Frage vorausschauenden Regierens.

Genau.

Die grüne Besserwisserei nervt trotzdem viele.

Ja. Eine neue Studie belegt auch, dass Grüne lieber unter Gleichgesinnten bleiben, als sich zu mischen. Da kann sich schon ein überheblicher Habitus einstellen: «Wie können andere sich nur so sperren!» Zumal die Anhängerinnen und Anhänger der Grünen – wie diejenigen der FDP – zu jenen gehören, die am meisten Geld haben. Für manche ist es wohl eine Herausforderung, sich die Lebensrealität der weniger gut Verdienenden vorzustellen.

Aktivisten von "Renovate Switzerland" protestieren vor dem Gotthard Tunnel bei Goeschenen im Kanton Uri, weahrend dem sich der Oster Reiseverkehr vor dem Gotthard Nordportal auf mehrere Kilometer staut, am Freitag, 7. April 2023 in Goeschenen. (KEYSTONE/Urs Flueeler).

In der Klimabewegung haben die Radikalen der Letzten Generation die jungen fröhlichen Leute von Fridays for Future längst abgelöst, jedenfalls in der öffentlichen Wahrnehmung. Wie deuten Sie das?

Die Letzte Generation hat die Protestform des zivilen Ungehorsams gewählt, ihre Aktionen unterbrechen den Alltag, um zu zeigen, wie problematisch diese Normalität ist. Zuletzt ist da aber etwas gekippt. Warum das Brandenburger Tor durch Farbe beschädigt oder der Berliner Marathon gestört werden musste, haben auch viele in der Bewegung nicht verstanden. Um zu begreifen, woher die zunehmende Ohnmacht der Aktivistinnen und Aktivisten rührt, muss man aber auch sehen, wie barsch ihre Forderungen abgelehnt wurden: Wenn Deutschland es nicht einmal schafft, etwa ein Tempolimit auf Autobahnen einzuführen, dann wird es schwer, zu behaupten, man setzte sich mit allem, was möglich sei, für mehr Klimaschutz ein.

Die Leute der Letzten Generation sind ehrlich verzweifelt.

Auch die Fridays-for-Future-Leute waren nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2021, als die Regierung trotz der höchstrichterlichen Mahnung erneut unzureichende Massnahmen erliess, fassungslos: «Die sitzen uns einfach aus! Was können wir denn jetzt noch machen? Wir haben doch alles getan: Wir haben gebettelt, wir haben getanzt, wir haben informiert, wir sind in die Talkshows gegangen. Hat alles nichts genützt!» Sie hatten das Gefühl, alle demokratischen Mittel ausgeschöpft zu haben. Aber ja: Je lästiger die Aktionen zuletzt wurden, umso grösseren Widerstand riefen sie hervor. Je mehr über die Form des Protests gesprochen wurde, umso mehr trat dessen Anliegen in den Hintergrund.

Welche Bewegung wünscht sich eigentlich die Transformationsforscherin?

Die Fridays-for-Future-Bewegung war deswegen so stark, gerade in Deutschland, weil sie nicht nur auf den Strassen präsent war, sondern weit in die Gesellschaft hineinreichte: Wir haben etwa die «Scientists for Future» gegründet, die «Parents for Future» entstanden, die «Psychologists for Future» und so weiter. Dies förderte die Erkenntnis, dass alle, quer durch die Gesellschaft, in ihren Sektoren zur Einhegung der Klimakrise beitragen können. Es entstand eine Aufbruchsstimmung, ein gesellschaftliches Innovationslernen. Aber dann kam Corona…

Die aktuelle Transformationspolitik, nicht nur in Deutschland, folgt zwei Axiomen: Keinem soll etwas zugemutet werden, niemand muss auf etwas verzichten. Die Regierenden behaupten, die ökologische Wende sei zu schaffen, ohne dass jemand sein Leben zu ändern brauche. Wie weit kommen wir damit?

Nicht weit. Das gilt aber auch für andere Themen, das Rentensystem zum Beispiel, die Erneuerung der Infrastrukturen oder des Bildungssystems. Eine ehrliche Schlussbilanz der Ära von Angela Merkel ergibt, dass zuletzt viel liegen geblieben ist. Viele, auch CDU-Politiker, meinen heute: Es wäre gut gewesen, früher zu handeln. Gegen diesen Reformstau trat die neue «Fortschrittskoalition» von SPD, Grünen und FDP an.

«Verlust, Verbot, Verzicht – damit macht man den Leuten gern Angst.»

Nur mit Anreizen, Aufklärung und Appellen kam aber auch sie nicht weit.

Viele gesellschaftliche Akteure haben sich so lange nicht für die Grundlagen der Transformation interessiert, dass sie nun von den nötigen und teilweise längst vereinbarten Massnahmen der Wärme- oder Verkehrswende vollkommen überrascht sind. Statt die langjährige Studienlage anzuerkennen und zu lernen, beschwören sie lieber eine angebliche Ökodiktatur herauf … Das ärgert mich dann schon. Verlust, Verbot, Verzicht – damit macht man den Leuten gern Angst. Aber wie kann Politik ihre Verantwortung denn überhaupt noch wahrnehmen, wenn all die Appelle und Anreize nur dazu geführt haben, dass wir die Klimaziele jedes Jahr von neuem reissen? Muss sie dann nicht einfach mal Standards und Rahmenbedingungen setzen, um glaubwürdig zu bleiben?

Was motiviert Bürgerinnen und Bürger in einer Wendezeit am besten?

Die Einsicht in die Notwendigkeit hilft: «So darf es nicht mehr weitergehen.» Wir merken, dass Dinge, die wir für normal gehalten haben, eigentlich ganz schön verrückt sind. Was wollen wir also durch Veränderung erhalten? Wer wollen wir eigentlich sein? Was Menschen ebenfalls motiviert, ist die Energie, die von Innovationen ausgeht. Die Lust, die sich in Start-ups zeigt: «Wäre doch gelacht, wenn wir das nicht hinbekämen!» Schliesslich gibt es einen grossen Teil, der gern nachahmt, wenn er sieht, was andere schon machen. Berichte über gelungene Beispiele würden da helfen.

Wann braucht es Verbote?

Wenn wir alles andere schon ausprobiert und erfahren haben, dass wir so ein gemeinsam vereinbartes Ziel nicht erreichen. Dazu gehören auch Dinge, die wir verbindlich regeln wollen, um Gemeinwohl und individuelles Wohl auszutarieren. Bei den Steuern sagen wir ja auch nicht: «Oh, ich habe heute aber keinen Bock, Steuern zu bezahlen.»

Wie gelingt es, Verzicht anders zu sehen als nur als Verlust?

Ich finde, es täte uns gut, einen Schritt zurückzutreten und zu überlegen: Was sind eigentlich die ganzen versteckten Zumutungen im Status quo? Warum haben wir uns angewöhnt, so mit Tieren umzugehen, wie wir das heute tun? Können wir das nicht besser? Dann kann Verzicht auf eine normalisierte Praxis ein Fortschritt sein. Wir haben ja auch irgendwann drauf verzichtet, Vergewaltigung in der Ehe zu akzeptieren oder Frauen vom Wahlrecht auszuschliessen.

Eines der Grundprobleme des ökologischen Umbaus ist, dass die Politik meist sehr kurzfristig denkt, die Aufgabe aber eine langfristige ist. Wie kann man zu einer besseren Balance finden?

Die Kurzsichtigkeit ist fatal, weil es bei solchen Umwälzungen gefühlt zunächst schlechter wird, bevor es besser wird: Erst kommen die Investitionen, erst kommen die Baustellen, erst kommen die neuen Gewohnheiten – das ist alles aufwendig! Irgendwann hat sich das Neue dann eingespielt, aber das dauert. Wir sollten deshalb häufiger beschreiben, welchen Zustand wir anstreben, und den Fortschritt auf dem Weg dahin messen, statt mit den Ideen von gestern das Morgen bewerten.

Es gibt eine soziale Unwucht bei Klima- und Umweltschutz: Die Ärmsten sind, weltweit, oft am stärksten betroffen, können sich Schutz aber am wenigsten leisten. Wie schafft man hier Gerechtigkeit?

Das ist schwer, weil der Befund auf der Oberfläche viel Zustimmung erhält, bei der Suche nach konkreten Antworten aber sehr viel Abwehr auslöst. Wenn wir den Planeten nur einmal haben, scheint es gerecht, davon auszugehen, dass jede Erdenbürgerin einen ähnlichen Anteil der globalen Gemeingüter beanspruchen können sollte. Rechnet man das hoch, kommt für Bürger der westlichen Welt natürlich ein sehr viel kleineres Nutzungsbudget heraus als jenes, an das wir uns gewöhnt haben. Dann hagelt es Vorwürfe: «Kommunismus! Zurück in die Höhlen!» Dabei gibt das Gedankenexperiment ja nur Hinweise, wie eine gerechte Verteilung aussehen könnte.

«In einer 2 Grad wärmeren Welt lebt man deutlich besser als in einer 3 Grad wärmeren.»

Das 1,5-Grad-Ziel sei nicht mehr erreichbar, sagen Fachleute. Ist es längst zu spät, das Klima richtig zu schützen?

Bei komplexen Systemen gibt es kein «zu spät». Dieses Urteil ist eine menschliche Entscheidung. Die ökologischen Veränderungen, die wir abbremsen, anhalten und umdrehen wollen, sind graduell. Das 1,5-Grad-Ziel ist eine Grenze, nach deren Überschreitung gemäss Forschung immer mehr und schnellere Veränderungen in den Erdsystemprozessen und im Klima erfolgen. In einer um 2 Grad erwärmten Welt lässt es sich immer noch deutlich besser leben als in einer um 3 oder um 4 Grad erwärmten. Es lohnt sich also, für jedes Zehntelgrad zu kämpfen. Wenn wir weit über das Ziel hinausschiessen, müssen wir danach die Kurve umso stärker abflachen.

«Zu spät» rufen jene am liebsten, die mit dem Ziel sowieso nie einverstanden waren.

Am allerliebsten sind mir diejenigen, die jetzt behaupten: «Ich bin halt Realist, wir schaffen das nicht.» Häufig sind das sehr privilegierte Leute. Wäre es nicht ehrlicher, zu sagen: «Lass mich in Ruhe mit dem Thema. Ist mir egal.»

Was macht Ihnen eigentlich Hoffnung, dass wir die Kurve noch kriegen?

Es gibt bei jedem Trend einen Gegentrend. Ich dachte, wir hätten uns vor ein paar Jahren gut auf den Weg gemacht. Es gab einen politischen Konsens, die Finanzinvestoren waren aufgewacht, es herrschte Aufbruchsstimmung. Mit der Pandemie ist das ein Stück weit zusammengebrochen.

Dabei ist die Dekarbonisierung eigentlich eine beschlossene Sache.

Ja, und dahinter fallen wir wahrscheinlich auch nicht mehr zurück. Dafür können wir jetzt herausfinden, wer wir in diesem Prozess sein wollen: diejenigen, die sich für die Zukunft einsetzen und das Beste aus der Lage machen wollen? Oder jene, die beim ersten grösseren Widerstand einfach aufgeben? Nochmals gemeinsam aufzubrechen, gäbe uns Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der Gesellschaft zurück. Es würde aus meiner Sicht auch Angst und Wut zurückdrängen. Zugleich müssen wir uns bewusst sein, dass manche Akteure exakt dieses Vertrauen zerstören wollen. Es geht deswegen gerade nicht nur um Nachhaltigkeit, sondern auch um Demokratie.

Vielen ist nicht bewusst, dass die Dekarbonisierung ein Projekt ist, das in völkerrechtlichen Verträgen fixiert ist und von Gerichten überwacht wird. Welche Rolle könnte die Justiz künftig noch spielen?

Das Bundesverfassungsgericht hat ja bereits verordnet, dass der CO₂-Ausstoss schneller reduziert werden muss, weil sonst die Freiheitsrechte und der Gestaltungsspielraum künftiger Generationen nicht ausreichend geschützt werden. Die Gerichte lassen das jetzt auch nicht auf sich beruhen, sondern mahnen die Regierungen weiter, sobald gegen die unzureichende Umsetzung der Klimagesetze geklagt wird. Ich finde das sehr beruhigend. Macht das nicht den Rechtsstaat aus?

Auch die Wirtschaft hat sich, anders als die oft sprunghafte Politik, insgesamt sehr ernsthaft auf den langfristigen Transformationspfad begeben.

Absolut. Seit einigen Jahren bekennen sich immer mehr Unternehmen öffentlich zu ihrer Verantwortung und stellen ihrerseits Forderungen an die Politik: Unter welchen Rahmenbedingungen schaffen wir den Umbau? Oft gibt es staatliche Subventionen oder Anschubinvestitionen, die danach von privaten gehebelt werden. Auch was die Planbarkeit angeht: Verbote sind nicht einfach «Freiheitsberaubung», sondern können befreien, indem sie die Lage klären und Verbindlichkeit herstellen.

Ist Hoffnung wichtig, wenn man die Welt umbauen will?

Die Frage ist, was man damit meint. Hoffnung zu haben, bedeutet aus meiner Sicht nicht, etwas zu tun und genau zu wissen, was dabei herauskommt. Sondern etwas zu tun, weil es das Richtige in diesem Moment ist. Was dabei entsteht, weiss ich oft nicht genau, es hängt auch nicht nur von mir ab. Aber ich kann mich sehr freuen, wenn das, was ich tue, andere ansteckt.