Jahreswechsel-Gespräch über Pariser Terror-Prozess«Ich ging nach Hause, setzte mich in einen dunklen Raum und weinte»
Emmanuel Carrère hat ein bewegendes Buch über den Pariser Terror-Prozess geschrieben. Neun Monate lang war er fast täglich im Gerichtssaal. Hier spricht er darüber, wie ihn diese Erfahrung geprägt hat.
Monsieur Carrère, erlauben Sie mir einen persönlichen Einstieg in dieses Gespräch: Sie haben ein wirklich grandioses und bewegendes Buch geschrieben.
Oh, finden Sie? Das freut mich sehr.
Ihr «V13» über den Prozess zu den Terroranschlägen von Paris am 13. November 2015 ist voller Empathie und kommt doch ohne Pathos aus. Kein Adjektiv ist zu viel, keine Figur ist überzeichnet, keine Anekdote ist nebensächlich. Man weint oft beim Lesen. Manchmal lacht man aber auch, obschon es gar nichts zu lachen gibt.
Genau so erging es mir im Prozess, und das wollte ich erzählen. Manchmal ging ich am Abend nach Hause, setzte mich in einen dunklen Raum und weinte einfach allein vor mich hin. Ich habe auch oft schlecht geschlafen. Und dann gab es diese schönen, ergreifenden Momente, auch komische waren dabei. Es war ein Mix, manchmal alles gleichzeitig.
Ein Strudel.
Ja, ein ständiger Strudel der Gefühle. Ich hatte kein soziales Leben mehr während der Zeit des Prozesses. Ich hätte nicht zu Diners gehen können mit Freunden, wie ich das sonst gerne mache. Die hätten die Welt nicht verstanden, in der ich gerade war. Manche beklagten sich persönlich bei mir, weil die Île de la Cité im Herzen von Paris, wo der Prozess stattfand, jeweils gesperrt war für den Verkehr. Meine Freunde sagten: «Du nervst mit deinem Prozess, man kommt nicht mehr durch die Stadt.» So sagten sie das: dein Prozess (lacht).
Er sollte exemplarisch werden, so wollte es der französische Staat. Der Prozess sollte zeigen, dass eine Demokratie über der Vendetta steht, auch wenn sie hart getroffen wird, dass sich ein Rechtsstaat nicht rächt. War er denn exemplarisch?
Eine Gerichtsreporterin hat zu Beginn des Prozesses einen treffenden Vergleich gemacht: Sie sagte, V13 sei die Musterwohnung der Justiz.
Auch die riesige Holzbox mit den hellen Möbeln, die für den Prozess in den «Saal der verlorenen Schritte» gestellt wurde, sah so aus wie ein Schau-Appartement.
Mir gefiel diese Formel der Kollegin sehr gut. Zunächst waren wir alle besorgt, dass der Prozess viel zu sehr zu einer Demonstration werden könnte, zu einem Spektakel. Natürlich war es das auch, unweigerlich. Aber die Demonstration fand in einem würdigen Rahmen statt. Alle Rollen in diesem Kino der Justiz waren gut besetzt – und wenn ich Kino sage, meine ich das nicht spöttisch. Das ganze Personal des Rechts, die Richter und die Anwälte beider Seiten, waren von hoher Qualität. Der Gerichtspräsident war absolut bemerkenswert. Um durch ein solches Verfahren zu führen, brauchst du schon ein sehr solides Profil.
War der Prozess also exemplarisch?
Ja, das war er, über das Urteil können wir ja dann noch reden. Aber die Justiz hat sich alle Mittel zugestanden, um den Prozess ganz gross zu machen, sogar die Gendarmen vor dem Gericht waren gut. Vor allem aber hat das Gericht die Überlebenden und die Angehörigen der Opfer mit viel Takt behandelt, und das war das Wichtigste überhaupt. Sie spürten, dass man ihnen zuhörte, sie waren gut aufgehoben in diesem Prozess.
Der Terrorprozess als Gruppentherapie?
Ein bisschen schon – eine Psychotherapie vor Publikum.
Wie kam es, dass Sie über diesen Prozess schreiben wollten?
Eine gute Freundin von mir hatte ihren Partner beim Attentat auf «Charlie Hebdo» verloren: Der Ökonom Bernard Maris schrieb für die Zeitung, er wurde damals mit seinen Kollegen in der Redaktion getötet.
Am 7. Januar 2015.
Und diese Freundin war später Nebenklägerin im «Charlie Hebdo»-Prozess. Sie hat mir oft davon erzählt. Und je mehr ich davon erfuhr, desto mehr bereute ich, dass ich da nicht hingegangen war. Sie sagte zu mir: «Jetzt kommt ja noch ein viel grösserer, geh doch da hin!» Ich habe lange überlegt, ob es vernünftig sei, dass ich V13 mitmachen würde, den ganzen Prozess. Immerhin hatten die Richter vorausgesagt, dass er etwa sechs Monate dauern würde – sechs Monate meines Lebens.
Am Ende sollten es sogar neuneinhalb Monate werden. Alles war einmalig und historisch daran, nicht nur die Dauer: 1740 Nebenkläger, 340 Anwälte . . .
. . . beispiellos, auch beispiellos strapaziös, das war absehbar. Ich habe mich dann aber trotzdem entschieden, darüber zu schreiben, und ging zum «Obs» (dem Nachrichtenmagazin, das früher «Le Nouvel Observateur» hiess, Anm. der Red.). Ich bin mit den Leuten dort befreundet und schlug ihnen eine wöchentliche Chronik aus dem Prozess vor. Sie sagten: «Lustig, genau das wollten wir dir vorschlagen, wir fragten uns aber, ob man das jemandem zumuten kann, so eine lange Sache, und kamen zum Schluss: Du würdest uns absagen.» Wir sind dann so verblieben, dass ich mal schaue, ob ichs schaffe. Es gab die Option, dass ich aussteige, sobald ich spüre, dass das alles zu viel würde, auch emotional.
Haben Sie jemals gezweifelt?
Nie, nicht ein einziges Mal. Obschon es auch viele schwierige Momente gab in diesem Prozess, lange trockene, technische Phasen. Zum Beispiel, wenn sich wieder die belgischen Ermittler per Videokonferenz aus Brüssel zuschalteten.
Sie nennen sie «unsere Freunde, die belgischen Ermittler», die kommen nicht gut weg.
Die waren irritierend. Aber nein, ich habe nie gezweifelt und hielt die Abmachung ein. 7600 Zeichen, fix. Ich setzte meine Ehre daran, immer ganz genau auf Länge zu schreiben (lacht). Abgabe war jeweils Sonntagabend, spätestens Montagmorgen. So verbrachte ich die Werktage am Gericht und schrieb immer am Wochenende.
«L’Obs» hatte drei Chronisten beim Prozess, Sie und zwei Gerichtsreporter, die ihre Berichte unter der Woche für die Webseite schrieben. Wie haben Sie sich aufgeteilt?
Gar nicht. In den ersten Wochen las ich alles, von allen Journalisten, auch die Berichte in «Le Monde» etwa, die waren grossartig. Und ich war ein bisschen eingeschüchtert: Die Kollegen waren alle vom Fach, redeten in Codes und Akronymen, die ich nicht verstand. Zunächst wusste ich auch nicht, wie ich mit dem schweren Stoff umgehen sollte, der da über uns kam – vor allem zu Beginn, mit den vielen Erzählungen aus dem Bataclan. Ich glaube, das merkte man den ersten Chroniken auch an, die waren zögerlich. Für das Buch habe ich dann einige Passagen neu geschrieben, mit bisher unbenütztem Material aus meinen Notizbüchern, auch mit neuen Figuren. «V13» ist um ein Drittel länger als die Sammlung der Chroniken aus dem «Obs».
Wie lange dauerte die Blockade?
Nur ein paar Wochen, dann kam ich besser rein und fühlte mich wohl.
Weil Sie den passenden Tonfall gefunden hatten?
Ja, es war paradoxal: Dieser Prozess war extrem anstrengend, zuweilen waren die Geschichten unglaublich verstörend und schmerzvoll. Aber ich hatte plötzlich sehr viel Freude am Schreiben, ja, ich konnte die Wochenenden kaum erwarten.
Sie sagen, in einem Prozess interessiere man sich normalerweise mehr für die Verbrecher und ihr kriminelles Mysterium als für die Opfer und ihr Leid. Diesmal war es umgekehrt?
Oh ja, die Zeugnisse der Opfer hatten eine unfassbare Kraft – nicht alle, aber viele. Die Angeklagten dagegen waren kleine Figuren, mit wenig Mysterium.
Wie haben Sie die Personen und Geschichten ausgewählt, über die Sie schreiben würden – aus den vielen Hunderten?
Es ist ein bisschen wie bei einem Casting, das klingt jetzt kalt, aber so ist es nicht gemeint: Bei vergleichbarem Leid gab es Zeugen, die drückten sich besser aus, ihr Zeugnis war dadurch fassbarer und berührender. Die Gerichtsreporter wählten dann auch meistens dieselben Geschichten aus, ohne sich untereinander abzusprechen. Inoffiziell gab es auch eine Art Hierarchie des Schreckens: Die Opfer des Bataclan waren die Prominenz des Prozesses, sie stellten die grösste Gruppe dar und waren sehr eng verbunden untereinander – sie hatten ja auch Unfassbares erlebt. Bataclan war der Star, die Aristokratie. Viele Leute sprachen auch einfach vom «Procès du Bataclan», was natürlich unfair war. Dann, an zweiter Stelle, kamen die Opfer der Terrassen. Und zuletzt die vom Stade de France.
Vom Stadion hiess es, das Attentat sei gescheitert: «Nur ein Toter». Aber da gab es auch viele Verletzte.
Und was wäre gewesen, wenn das Attentat aufs Stadion gelungen wäre?
Erzählen Sie uns von Nadia Mondeguer. Ihre Tochter, Lamia, ist auf der Terrasse des Cafés «La Belle Equipe» getötet worden – mit 30.
Ich habe lange überlegt, wie ich Nadia in dieses Buch einbauen könnte. In den Chroniken für den «Obs» war sie nicht vorgekommen, meine Notizbücher aber waren voll. Nadia ist Ägypterin, sie hat mir viel erklärt. Sie ist mir ans Herz gewachsen, wir sind Freunde geworden. Wahrscheinlich lag das auch daran, dass wir etwa gleich alt sind und weil wir Kinder im gleichen Alter haben, da konnte ich mich besser in das Leid einfühlen als zum Beispiel bei einem jungen Konzertbesucher, der im Bataclan war.
Nadia zerreisst einem das Herz mit ihrem Humanismus.
Ich hatte zu Beginn viel Mühe, auf die Menschen zuzugehen, die so Schreckliches erlebt hatten, man kommt sich ein bisschen wie ein Geier vor. Aber das hat sich dann schnell gelegt, die Beziehung zwischen den Opfern und den Journalisten war vertrauensvoll. Mit Nadia verstand ich mich auf Anhieb, sie war jeden Tag im Gericht, ich war auch einmal bei ihr zu Hause. Und ich habe ihr dann das Manuskript des Buches vorab zum Lesen gegeben, das war mir wichtig, sie versteht ja auch viel mehr als ich von der arabischen Welt.
Und?
Ein paar Dinge riet sie mir, zu ändern, und ich habe sie geändert, es war nicht viel. Einmal sagte sie: «Nein, das kannst du so nicht schreiben.»
Es gibt im Buch diesen starken Moment, als sich Nadia an die Strafverteidiger wendet, die jungen Anwälte des Terroristen Salah Abdeslam und der anderen . . .
. . . ja, wenn ich sage, dass dieser Prozess exemplarisch war, dann auch deshalb. Nadia Mondeguer hatte ihr berührendes Zeugnis abgelegt. Als sie fertig war, drehte sie sich zu den Anwälten, die vor der Glasbox mit den Angeklagten sassen, und sagte: «Und nun macht euren Job, und bitte: Macht ihn gut!» Diese demokratische Kultur, dieses Verständnis für die Justiz nach allem, was sie erlebt hatte, das hat mich tief beeindruckt.
Für die Angeklagten gab es ebenfalls Kategorien, sie waren auch nicht alle gleich stark involviert, wenn sie es überhaupt waren: Zum Beispiel der kleine Dokumentenfälscher, der nicht gewusst hatte, dass er Papiere für Terroristen fälschte.
Der hat uns alle berührt mit seiner Geschichte: Wie er seinen Kindern vorspielte, dass er als Wärter in einem französischen Gefängnis arbeite, wenn sie ihn dort besuchen kamen. Als ihn das Gericht freiliess, waren alle erleichtert. In terroristischen Angelegenheiten ist die Justiz besonders gnadenlos. Wenn also jemand so davonkommt, heisst das, dass es wirklich nichts gegen ihn gab.
Von Abdeslam, dem Hauptangeklagten im Prozess, sagen Sie, er sei ein «leeres Mysterium» – ein bisschen so, als hätte er Sie enttäuscht.
Das kann man so sagen. Als Berichterstatter des Prozesses hatten wir uns eine etwas interessantere Persönlichkeit erhofft, eine mit einer komplexeren Psyche. Ich interessierte mich immer schon für kriminogene Mutationen von Religionen. Aber bei Abdeslam war alles ungefähr, auch sein Fanatismus wirkte wie eine Entlehnung. Man hatte den Eindruck, er wisse nicht genau, was er sein will: Mal beschrieb er sich als netten Jungen von nebenan, der zufällig in eine Sache geraten sei, die viel grösser wäre als er. Dann gab er sich wieder als harten Kämpfer, als Super-Jihadisten – es war pathetisch.
Eine zentrale Frage im Prozess war, ob Abdeslam den Sprengstoffgürtel, mit dem er sich in die Luft sprengen sollte, aus Angst nicht aktivierte, oder ob der nicht funktionierte – oder ob er womöglich plötzlich Gewissensbisse bekommen hatte. Was denken Sie, was war es?
Wahrscheinlich hatte er Angst. Und er wusste nicht, welche Version im Prozess besser wirken würde. Dann rieten ihm die Anwälte zur dritten Version. Abdeslam sagte es im Prozess ungefähr so: «Ich stand in dieser Bar und sah alle diese Menschen, die gleich alt waren wie ich, sie hatten gute Laune, da wäre es nicht nett gewesen, wenn ich sie in die Luft gesprengt hätte – nicht cool.»
Abdeslam wurde zu einer lebenslangen Haftstrafe mit lebenslanger Verwahrung verurteilt – das hat es in Frankreich erst viermal gegeben. Obschon er, soweit man das weiss, niemanden umgebracht hatte. Hat sich der französische Staat am Ende doch gerächt?
Ich halte das Urteil für einigermassen schockierend – aber klar, es schockiert mich nicht so stark, dass ich für diesen Abdeslam auf die Strasse gehen würde oder dass ich eine Petition unterschreiben würde. Im Buch verhandle ich das Urteil auch nur knapp.
Aber Sie sagen, es habe Sie schockiert.
Das Gericht hatte sich die Auswahl gegeben zwischen Beispielhaftigkeit und Verhältnismässigkeit, und es hat sich für die Beispielhaftigkeit entschieden.
Schade, nicht?
Ja, finde ich auch. Dennoch, für mich beschädigt das den Prozess als solchen nicht, es gab keine Rechtsverweigerung.
Man hört oft, die Demokratie sei stärker als der Terrorismus, am Ende gewinne sie immer. Aber ist der Hass auf diese Terroristen nicht menschlich und legitim?
Natürlich. Es gab während des Prozesses dieses Grundrauschen, das von der grossen Mehrheit der Teilnehmer getragen wurde: Ihr bekommt unseren Hass nicht. Das war sehr schön und nobel. Dann kam dieser Vater, der seine Tochter im Bataclan verloren hatte, und sagte dem Sinn nach: «Ich kann das nicht mehr hören, ich bin voller Hass, ich will die Todesstrafe zurück, die sollen alle in der Hölle brennen.» Niemand fand ihn sympathisch. Aber es war wichtig, dass man auch seine Stimme hörte.
Nach dem letzten Prozesstag gingen fast alle, die an der Urteilsverkündung dabei waren, rüber in die Brasserie «Les Deux Palais», vis-à-vis vom Tribunal.
Völlig unerwartet und unorganisiert. Da die Polizei wieder die ganze Zone abgeriegelt hatte und nur Leute mit dem Badge unterwegs sein durften rund ums Gericht, war die Brasserie leer, das Lokal gehörte uns, den Anwälten, den Journalisten, den Opfern und Angehörigen – sogar die kleinen Fische unter den Angeklagten, die freigekommen waren, waren dabei. Es war, als wäre die Brasserie reserviert gewesen für uns, für eine geschlossene Gesellschaft.
Fühlte es sich auch so an?
Ja, wir waren eine Gemeinschaft geworden, wir hatten eine so intensive Zeit miteinander verbracht. Es lag dieses Gefühl der Erleichterung auf allen, fast euphorisch war es, wirklich erstaunlich. Und da auch so viele Nebenkläger dabei waren, fühlte es sich nicht falsch an, dass wir das Ende des Prozesses so begingen. Wir haben viel getrunken und gelacht. Ich weiss nicht, wann diese Brasserie normalerweise schliesst: Doch um 4 Uhr in der Früh waren wir immer noch da, ziemlich betrunken. Ich denke, dass dieser Moment auch eine befreiende, kathartische Wirkung hatte, für alle.
Emmanuel Carrère: V13: Die Terroranschläge in Paris.
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