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Monsterprozess zu den Pariser Attentaten
Erschütternde Einblicke in eine traumatisierte Nation

Menschen werden mit einem Bus vom Bataclan-Theater in Paris evakuiert (13. November 2015). 
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«Am Anfang wird Leid bezeugt und am Ende Recht gesprochen»: In diesem knappen Satz fasst Emmanuel Carrère einen Prozess zusammen, der von September 2021 bis Juni 2022 in Paris stattfand und der in der französischen Geschichte nicht seinesgleichen hat. Sein Ziel: die Terroranschläge vom 13. November 2015, bei denen 130 Menschen starben und weitere 350 verletzt wurden, zu – ja, was: zu sühnen, aufzuarbeiten, aufzuklären?

Keiner der Mörder stand vor Gericht, sie waren alle tot, hatten sich entweder in die Luft gesprengt oder waren von der Polizei erschossen worden. Die 14 Angeklagten waren bis auf einen, Salah Abdeslam, dessen Sprengstoffgürtel nicht explodiert war – ein technischer Defekt, Angst, Bedenken in letzter Minute? –, Helfer, die Autos gefahren, Unterkünfte besorgt oder Pässe gefälscht hatten. Mittlere oder kleinere Fische, darunter allerdings harte IS-Kämpfer.

Salah Abdeslam, der Hauptverdächtige im Monsterprozess zu den Pariser Anschlägen vom 13. November 2015.

542 Bände Ermittlungsakten, 130 Tote, 1800 Geschädigte

Auch über den Ablauf der Massaker im Konzertsaal Bataclan, auf mehreren Caféterrassen und vor dem Stade de France erbringt der Prozess kaum Erkenntnisse, die nicht längst bekannt und in 542 Bänden Ermittlungsakten niedergelegt sind (ein Stapel von 53 Metern Höhe). Die Schuld der Angeklagten ist mehr oder weniger klar, es geht juristisch meist darum, wer was wusste und ob eine Verurteilung wegen Mitgliedschaft in einer «terroristischen» oder bloss einer «kriminellen» Vereinigung erfolgt (eine Frage des Strafmasses).

Braucht es dafür neun Monate, einen eigens vor dem Palais de Justice gebauten Saal für 600 Menschen (und 7 Millionen Euro), 30 Anwälte der Verteidigung, rund 350 Nebenklägeranwälte? Ja, braucht es. Die Nebenkläger vertreten die 1800 Geschädigten, also Menschen, die entweder bei den Attentaten verletzt, verstümmelt, traumatisiert wurden oder die einen nahen Angehörigen verloren haben. Denn das ist das Besondere an diesem Monsterprozess: Es geht nicht so sehr, wie sonst, um die Täter und ihre Motive als vielmehr um die Opfer.

Wie sehr die Attentate von Freitag, dem 13. November («V13», der Titel von Carrères Buch, ist die Kurzform von Vendredi 13), ganz Frankreich traumatisiert haben, spiegelt sich etwa in der auch bei uns sehr erfolgreichen TV-Serie «En thérapie». Dieser Prozess ist ebenfalls eine Art Therapie für die Geschädigten, aber auch, in zweiter Linie, für Beobachter wie Emmanuel Carrère. Bei allem Bemühen um protokollarische Sachlichkeit erschüttert ihn das, was er zu hören und zu sehen bekommt, bis zu Tränen. Ein normales Leben, schreibt er, sei für ihn in diesen neun Monaten nicht möglich.

Brennende Kerzen, Blumen und Botschaften an einer behelfsmässigen Gedenkstätte rund um die Gedenktafel vor dem Konzertsaal Bataclan.

Am schlimmsten sind die ersten fünf Wochen des Prozesses, bei der Lektüre sind es die ersten Seiten. Da erzählen Überlebende von den unendlichen Minuten der Todesangst im Bataclan, als die Attentäter im hellen Saallicht Handgranaten in die Menge werfen und dann schiessen, gezielt, auf den einen, dann auf den nächsten. Oder im Café Carillon, wo sich Maia, junge Architektin, mit ihrem Mann Amine und drei Kollegen getroffen hat und erlebt, wie Amine von 22 Kugeln getroffen wird. Wie sie selbst Schüsse in die Beine erhält – sie wird nie mehr rennen können. Wie neben ihr ein Unbekannter stirbt:

«Ich höre sein Keuchen, sein Röcheln, ich weiss, das sind seine letzten Augenblicke. Ich weiss, dass ich gerade die letzten Augenblicke seines Lebens miterlebe. Das ist etwas sehr Intimes, vielleicht das Intimste, was man mit jemandem teilen kann. Ich sehe ihn nicht, er liegt hinter mir, aber ich spüre seinen Atem, ich höre ihn. Ich bin die einzige Zeugin seines Todes. Ich werde nie wissen, wie er hiess.»

«Wir waten durch Leichen, die ineinander verkeilt oder verschlungen oder gestapelt sind.»

Bericht eines Ermittlers

Ein Ermittler, der als einer der Ersten das Bataclan betrat, als die Attentäter schon tot waren, berichtet: «Wir waten durch Leichen, die ineinander verkeilt oder verschlungen oder gestapelt sind, ich weiss nicht, wie man das nennen soll. Wir schlittern durch Blutlachen, wir zertreten Zahn- und Knochenteile, und überall vibrieren Telefone, weil die Familien anrufen. Als wir anfingen, die Leichen abzutransportieren, waren sie so vollgesogen mit Blut und so schwer, dass wir sie zu viert tragen mussten.»

Wie in der Engführung einer Fuge montiert Carrère dann auf fünf Seiten einzelne Sätze der Überlebenden – und nicht nur da muss man die Lektüre immer wieder unterbrechen, um sich zu fassen. Die Stärke seiner «Gerichtsreportage» (im Original heisst die Gattungsbezeichnung nüchterner «Chronique judiciaire») liegt allerdings darin, gerade nicht Emotionen anzusprechen, sondern die Vernunft.

Der Prozess findet im Rahmen des Rechtssystems statt, und dessen Regeln werden penibel befolgt. Dazu gehört auch die ausserordentliche, von Carrère bewundernd konstatierte Qualität der Juristen – der Richter, der Staatsanwälte, aber auch der Verteidiger. Letzteren ruft Nadia, die Mutter einer ermordeten jungen Frau zu: «Machen Sie Ihren Job, und machen Sie ihn gut! Das ist mein Ernst.» Dieselbe Nadia sucht in ihrer Aussage auch verzweifelt nach den Motiven der Täter, junger Menschen, die andere junge Menschen kaltblütig und wahllos ermordet haben: «Sie alle waren einmal kleine Kinder, die jemand an der Hand geführt hat.»

Unglaublich, es gibt auch falsche Opfer und Trittbrettfahrer 

Carrères Prozessbericht ist aus wöchentlichen Beiträgen für den «Nouvel Observateur» hervorgegangen, sie sind auch in der Schweizer «Le Temps» erschienen. Er beschreibt die eigentümliche Gruppendynamik, die sich zwischen den Anwesenden entwickelt. Er verschweigt nicht Durststrecken und Durchhänger des Prozesses, hat aber auch Auge und Ohr für Kurioses und Paradoxes.

So findet in einem Untergeschoss des Gerichtsgebäudes zeitgleich eine Nachverhandlung gegen den lebenslänglich einsitzenden Superterroristen Carlos statt – der hatte in den 1970er- und 1980er-Jahren Paris erstmals in Angst und Schrecken versetzt. In einem anderen Parallelprozess wird um die Entschädigungssummen für die Geschädigten von V13 gerungen, zwischen Opferanwälten und den Vertretern eines in Frankreich eingerichteten, sehr gut ausgestatteten Garantiefonds für Terroropfer. Unglaublich, aber tatsächlich gibt es auch falsche Opfer und Trittbrettfahrer.  

«Das haben Sie in Frankreich doch auch gemacht! Sie haben sogar Ihren König geköpft!»

Ein Angeklagter verteidigt die Enthauptungsvideos des IS 

Wie das Gericht bemüht sich auch Carrère darum, die Motive der Täter zu begreifen – und bleibt doch letztlich ratlos. Ein Experte für Jihadismus erläutert die Entstehung des IS aus dem syrischen Bürgerkrieg. Der Hauptangeklagte Abdeslam verweist auf Bomben, die Frauen und Kinder im Nahen Osten getötet hätten, der französische Staat, der sich in Syrien und im Irak engagiere, habe ebenso verbrecherisch gehandelt. Ein anderer Angeklagter rechtfertigt die Enthauptungsvideos des IS, mit denen sich die Attentäter aufputschten, mit dem Satz: «Das haben Sie hier doch auch gemacht! Sie haben sogar Ihren König geköpft!» 

Der Eiffelturm leuchtet im November 2015 in den französischen Farben zu Ehren der Opfer der Anschläge.

Überaus deprimierend, dem Vater eines der Mörder zuzuhören, der von der zunehmenden Radikalisierung seines immer unerreichbareren Sohnes berichtet. Aber: Dieser Vater hat mit dem Vater einer getöteten Tochter Kontakt aufgenommen, der hat sich auf einen Austausch eingelassen, beide haben sogar zusammen ein Buch veröffentlicht. Vielen Opfern ist der Weg zurück ins Leben schwergefallen, nicht allen ist er gelungen. Der 131. Tote des 13. November ist ein junger Mann, der sich zwei Jahre später umgebracht hat. 

Für die, die am Prozess teilnahmen, als Zeugen oder Zuhörer, muss er wie eine Katharsis gewirkt haben, glaubt man Carrère. Ihm gelingt es, auch die Leser in diese «Kiste», den fensterlosen Gerichtssaal, hineinzunehmen. Wir verlassen ihn, beklommen, durchgeschüttelt, aber auch mit einer Spur Erleichterung. Hat das Recht über den Terror triumphiert? Bei so vielen Toten und Geschädigten, bei der Erschütterung einer Nation verbietet sich das Wort Triumph. Aber immerhin hat das Recht, hat die Zivilisation das letzte Wort behalten. 

Emmanuel Carrère: V13. Die Terroranschläge in Paris. Gerichtsreportage. Aus dem Französischen von Claudia Hamm. Matthes & Seitz, Berlin 2023. 276 S., ca. 38 Fr.