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Sonderdebatte zur Europapolitik
Cassis verteidigt sich: «Das ist nun der Preis für das Nein»

Aussenminister Ignazio Cassis, hier mit Staatssekretärin Livia Leu, musste im Nationalrat Red und Antwort zur Europapolitik stehen.

Das Wichtigste in Kürze:

  • Nach dem Ende der Verhandlungen mit der EU über ein Rahmenabkommen Ende Mai hielt der Nationalrat eine Sonderdebatte zum Thema Europa ab.

  • Alle sechs Fraktionen hatten Fragen an den Bundesrat eingereicht.

  • Aussenminister Ignazio Cassis verteidigte den Entscheid der Regierung und erklärte sich.

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Zusammenfassung

Zwei Stunden hat der Nationalrat über das Thema Europa debattiert – für einmal mit vertauschten Rollen: Normalerweise zieht die SVP bei solchen Gelegenheiten über den Bundesrat und die gesamte politische Konkurrenz her, hält ihnen Volksverrat und anderes vor, während sich die Mitte-links-Parteien staatstragend geben.

Diesmal kam von der SVP das dickste Lob für die Regierung: Der Zürcher Nationalrat Roger Köppel pries den Abbruch der Verhandlungen um das Rahmenabkommen mit der EU als «Sternstunde». Ausdrücklich lobte Köppel die FDP-Bundesratsmitglieder Karin Keller-Sutter und Ignazio Cassis und sogar den «weitsichtigen» Gewerkschaftspräsidenten Pierre-Yves Maillard. Sie alle hätten die Rechte des Volks verteidigt.

Ungewohnte Rolle: SVP-Nationalrat Roger Köppel lobte den Bundesrat in höchsten Tönen.

Die solide eingemitteten Grünliberalen dagegen hielten dem Bundesrat «komplettes Versagen» vor, wie es der Luzerner Roland Fischer formulierte. Obschon der Bundesrat die Verhandlungen beendet hat, halten die Grünliberalen an ihrer alten Forderung noch immer fest: Die Exekutive solle das Abkommen paraphieren und dem Parlament zur Entscheidung vorlegen. Die EU habe hierfür die Türe nicht zugeschlagen, betonte Fischer.

«Geheimpapier» wird öffentlich

Das vielleicht interessante Resultat der Debatte ist eine kleine Transparenzoffensive des Bundesrats: Er macht das «Geheimpapier» öffentlich, auf das er sich vor seinem Entscheid über das Rahmenabkommen stützte. Dieses war in Umrissen durch eine Indiskretion bereits früher publik geworden. Es listet eine ganze Reihe schwerwiegender Nachteile auf, die der Schweiz bei einem Absturz des Rahmenabkommens drohten.

In der Debatte verlangten mehrere europafreundliche Nationalräte von Aussenminister Ignazio Cassis (FDP) zu wissen, warum der Bundesrat trotz dieses Szenarios die Verhandlungen beendet habe. Cassis konterte, das Papier schildere ein «Worst-Case-Szenario», also die schlechtest denkbare, nicht die wahrscheinlichste Entwicklung.

Viel Kritik an Wermuth

Am meisten Kritik musste sich nicht Cassis, sondern SP-Co-Präsident Cédric Wermuth anhören, insbesondere aus den Reihen der FDP. Deren Fraktionschef Beat Walti bezeichnete ihn als «linken Diskussionsverweigerer». Walti spielte damit auf die kategorische Haltung der SP zu den flankierenden Lohnschutz-Massnahmen an, die die EU in den Verhandlungen gerne aufgeweicht hätte.

SP-Co-Präsident Cédric Wermuth musste viel Kritik einstecken.

Wermuth seinerseits warf den Freisinnigen und übrigen Bürgerlichen «ideologische Blockade» beim Thema Unionsbürgerrichtlinie vor. Die EU erwartet von der Schweiz eine Übernahme dieser Richtlinie. Die SP wäre hier zu Konzessionen bereit, die Bürgerlichen dagegen fürchten einen Ansturm auf die Schweizer Sozialhilfe.

Deeskalations-Milliarde

Wie aber geht es nun weiter in der Europapolitik? Aussenminister Cassis antwortete auf entsprechende Fragen ebenso vage wie bereits am Tag des Verhandlungsabbruchs. Er setzt nun auf den «politischen Dialog», den er mit der EU etablieren will.

Ausserdem möchte er, als Zeichen der Deeskalation, rasch die blockierte Kohäsionsmilliarde zugunsten Osteuropas auszahlen. Ob das klappt, ist unklar: Die SVP lehnt die Zahlung rundweg ab, die FDP und die Mitte-Fraktion äusserten sich bislang nicht eindeutig.

Ende der Debatte

Nach zwei Stunden ist die Europa-Debatte im Nationalrat beendet. Es folgt an dieser Stelle noch eine Zusammenfassung.

Der Preis für das Nein

Doris Fiala (FDP) weist Ignazio Cassis darauf hin, dass Firmen der Medizinaltechnik-Branche bereits Stellen in die EU verlagerten, weil die Union aufgrund des Verhandlungsabbruchs nicht mehr bereit sei, den Marktzugangsvertrag mit der Schweiz zu aktualisieren. Man habe immer darauf hingewiesen, dass sowohl ein Nein als auch ein Ja zum Rahmenvertrag ihren Preis hätten, antwortet Cassis. «Das ist nun der Preis für das Nein.»

Nicht mehr im Schweizer Interesse?

Die überzeugte EU-Befürworterin Christa Markwalder (FDP) will von Cassis wissen, was sich seit Frühjahr 2019 verändert habe. Damals hatte der Bundesrat erklärt, das Rahmenabkommen sei «in weiten Teilen im Interesse der Schweiz».

Es habe sich nichts verändert, antwortet Cassis, aber das Resultat sei insgesamt eben ungenügend. Es habe in drei zentralen Bereichen (Unionsbürgerrichtlinie, Lohnschutz, staatliche Beilhilfen für Unternehmen) keine Einigung mit der EU gegeben.

Sie alle hatten Fragen an den Bundesrat (v.l.n.r.): Christine Bulliard-Marbach (Mitte), Damien Cottier (FDP), Christa Markwalder (FDP), Roger Köppel (SVP) und Eric Nussbaumer (SP).

Cassis verteidigt Ostmilliarde

Die vom Bundesrat geplante Zahlung der Kohäsionsmilliarde zugunsten Osteuropas sei ein «Unding», kritisiert Roger Köppel (SVP). Aussenminister Cassis entgegnet, die Zahlung basiere auf dem vom Parlament genehmigten Osthilfegesetz. Die Milliarde sei keine «Marktzugangsgebühr», wie das die SVP behaupte.

Forderungen an die EU

Cassis erhebt Forderungen an die EU: Trotz Scheitern des Rahmenabkommens habe die Union keinen Grund, die Schweiz beim Marktzugang schlechter zu behandeln als andere Drittstaaten. Cassis preist den «politischen Dialog», den er mit der EU führen will, als vielversprechenden Weg: Ein solcher Dialog habe bislang «nicht existiert».

Jetzt spricht Cassis

Aussenminister Ignazio Cassis (FDP) hat das Wort. Er beginnt damit, die Entscheide des Bundesrat zu erklären. Man habe sich den Abbruch der Verhandlungen «nicht leicht gemacht». Die Diskussion sei «umsichtig» geführt worden. Die EU sei leider zu den notwendigen Zugeständnissen nicht bereit gewesen. Jetzt gelte es, nach vorne zu schauen. Das Rahmenabkommen habe die Debatte «lange genug dominiert».

Bundesrat Ignazio Cassis bespricht sich mit Staatssekretärin Livia Leu.

Mitte sorgt für Verwirrung

Was will die Mitte-Fraktion in der Europapolitik? Das war in den vergangenen Monaten nicht immer klar – und heute gerät auch Mitte-Nationalrätin Elisabeth Schneider-Schneiter deswegen unter Erklärungsdruck. Roger Köppel (SVP) wirft ihr vor, das Rahmenabkommen zu verteidigen, während Mitte-Präsident Gerhard Pfister den Vertrag bekämpft habe. Welche Haltung denn nun für die Mitte massgeblich sei, will Köppel wissen.

Sein Parteifreund Roland Büchel doppelt nach: «Ich komme nicht mehr draus, wenn ich Ihnen zuhöre», sagt er zu Schneider-Schneiter. Die Nationalrätin weicht der Frage zunächst aus, erklärt dann aber, in der vorliegenden Form sei das Rahmenabkommen «nicht zukunftsfähig».

Maillard als Pausenclown?

«Muss Gewerkschaftpräsident Maillard für Sie den Pausenclown spielen?» Das will SVP-Mann Roland Büchel von SP-Fraktionschef Roger Nordmann wissen. Maillard lehne das Rahmenabkommen ab, doch die SP wolle die Schweiz direkt in die EU führen, so Büchel. Nordmann verteidigt die SP-Position: Die Schweiz solle «dort teilnehmen, wo Entscheide gefällt werden».

Und wieder Schelte für Wermuth

FDP-Fraktionschef Beat Walti bescheinigt seiner Partei eine «positive Haltung» zum Rahmenabkommen; das Scheitern der Verhandlungen nehme man «mit Bedauern und Besorgnis» zur Kenntnis. Walti lässt es sich aber nicht nehmen, «seinem» Aussenminister Ignazio Cassis (FDP) indirekt ein Kompliment zu machen: Der «politische Dialog», den Cassis in der kommenden Zeit mit der EU aufnehmen will, sei eine gute Idee.

Hart ins Gericht geht Walti dafür mit den «linken Diskussionsverweigerern wie Cédric Wermuth». Der SP wirft Walti vor, mit ihrer sturen Haltung beim Lohnschutz die Blockade «massgeblich provoziert» zu haben. Den Sozialdemokraten werde es aber nicht gelingen, ihre «sozialistischen Ladenhüter» durchzubringen. Gemeint sind damit verschiedene innenpolitische Forderungen, die Wermuth nach dem Verhandlungsende erhoben hat.

Köppel in Hochstimmung

SVP-Nationalrat Roger Köppel, sonst nie um scharfe Worte verlegen, lobt den Bundesrat für einmal in höchsten Tönen: Der 26. Mai, als der Bundesrat die Verhandlungen abbrach, sei eine «Sternstunde» gewesen. Die Regierung habe die Rechte des Volks verteidigt.

In seiner Hochstimmung lobt Köppel gar den «weitsichtigen» Gewerkschaftspräsidenten Pierre-Yves Maillard (der das Rahmenabkommen energisch bekämpfte). Auch die freisinnigen Bundesratsmitglieder Karin Keller-Sutter und Ignazio Cassis werden ausdrücklich gelobt.

Standpauke für Bundesrat

Der Grünliberale Roland Fischer hält dem Bundesrat eine Standpauke: Dass die Regierung die Verhandlungen um das Rahmenabkommen abgebrochen habe, sei ein «komplettes Versagen» und ein «aussenpolitisches Fiasko ohnegleichen». Trotz Verhandlungsabbruch hält Fischer hält an der Forderung der Grünliberalen fest: Der Bundesrat soll das Rahmenabkommen paraphieren und dem Parlament vorlegen.

Auch FDP attackiert Wermuth

Auch FDP-Nationalrat Hans-Peter Portmann greift SP-Co-Chef Wermuth an: Er wirft ihm vor, die «sozialpartnerschaftliche Annäherung» an die EU sabotiert zu haben (womit er auf die kategorische Haltung der SP beim Schutz der Schweizer Löhne anspielt).

Wermuth gibt zurück: Die SP sei bereit, der EU bei der sogenannten Unionsbürgerrichtlinie weit entgegen zu kommen. Bei diesem Thema jedoch herrsche bei den Bürgerlichen eine «ideologische Blockade». Die Bürgerlichen lehnen die Unionsbürgerrichtlinie ab, weil sie fürchten, dass EU-Bürger zu einfach an Schweizer Sozialhilfe kämen.

Streit zwischen SP und Grünlberalen

Die Debatte beginnt mit einem Schlagabtausch zwischen SP und Grünliberalen. SP-Co-Präsident Cédric Wermuth legt am Rednerpult zuerst seine europapolitische Strategie dar, wie er sie auch im Interview mit dieser Redaktion formuliert hat.

Cédric Wermuth muss von bürgerlicher Seite Kritik einstecken.

GLP-Nationalrat Beat Flach wirft ihm darauf hin vor, «komplett substanzlose» Ausführungen gemacht zu haben. Wermuth habe faktisch nichts Konkretes vorgeschlagen – ausser eine rasche Auszahlung der sogenannten Kohäsionszahlung zugunsten Osteuropas (was auch der Bundesrat will). Wermuth weist den Vorwurf zurück – und kontert, er wolle «keine Wolken versprechen».

Ausgangslage

Die Schweiz steckt europapolitisch in einer verzwickten Situation. Am 26. Mai hat der Bundesrat die Verhandlungen über ein institutionelles Rahmenabkommen mit der EU für gescheitert erklärt. Dieses Abkommen hätte eine Reihe bestehender Verträge, darunter die Personenfreizügigkeit, in einen gemeinsamen, neuen Mechanismus überführt: Die Verträge wären laufend an die sich ändernde Rechtslage in der EU angepasst worden.

Der Bundesrat und die meisten Parteien fürchteten allerdings schwerwiegende Nachteile für die Schweiz. Gross war insbesondere die Angst, der EU-Gerichtshof könnte die flankierenden Massnahmen zum Schutz der Schweizer Löhne schleifen.

Ohne Rahmenabkommen wiederum drohen die bestehenden bilateralen Abkommen ihren Wert zu verlieren. Die EU hat für diesen Fall angekündigt, weder neue Abkommen mit der Schweiz abzuschliessen noch die bestehenden zu aktualisieren.

Bundesrat Ignazio Cassis geht in den Nationalrat waehrend der Sommersession der Eidgenoessischen Raete, am Dienstag, 15. Juni 2021 im Nationalrat in Bern.

Nach dem Abbruch der Verhandlungen übten die Parteien Kritik am Bundesrat: Er habe es verpasst, einen überzeugenden «Plan B» für die Europapolitik vorzulegen. Heute Dienstag fordern sie von der Regierung nun Antworten ein. Auf Veranlassung der SP und der Grünliberalen führt der Nationalrat eine sogenannte «aktuelle Debatte» über die Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU.

Alle sechs Fraktionen (SVP, SP, FDP, Mitte, Grüne, GLP) haben in Interpellationen Fragen und Forderungen an den Bundesrat formuliert – wobei sich die Fragen je nach Absender stark unterscheiden. So will etwa die SVP wissen, ob der Bundesrat bereit wäre, einen «Bundesbrief der Unabhängigkeit und Freiheit wie 1291» zu formulieren. Die Grünliberalen dagegen möchten vom Bundesrat erfahren, ob er einen Beitritt zu EWR und EU in Betracht zieht. Gespannt sein darf man auch auf die Antworten von Aussenminister Ignazio Cassis.

Die Debatte beginnt um 8 Uhr.

Interview zum Thema

«Die Schweiz muss sich von ihrer Bittsteller-Rolle emanzipieren»: Arbeitgeber-Chef Valentin Vogt geht auf Konfrontation mit den Gewerkschaften: Ihre Blockadehaltung will er an der Urne herausfordern. Und mit der EU rechnet er politisch ab. Ihr System sei schlicht nicht kompatibel mit jenem der Schweiz. Zum Interview (Abo).

Valentin Vogt, Präsident des Arbeitgeberverbands, zum Abbruchentscheid betreffend Rahmenabkommen: «Wir bedauern ihn, aber er war zu diesem Zeitpunkt die einzige valable Option.»