Nach der «Katastrophe» Jetzt hecken die Europa-Freunde eine Initiative aus
Nach dem Kater kehrt der Kampfgeist zurück: Das Scheitern beim Rahmenabkommen wollen die EU-Befürworter rund um die Operation Libero nicht auf sich sitzen lassen.
Wer am Tag danach das Telefon abnimmt, wer eine bestimmte politische Haltung vertritt und am Mittwoch dem Bundesrat erschrocken beim Abbruch der Verhandlungen mit Europa zugeschaut hat, der beginnt das Gespräch meist mit einer Art gutturalem Ausbruch. Uff. Ach. Chhhr. Pfff!
Der Schock am Tag danach: Er lässt sich für jene Kräfte in der Schweiz, die auf ein Rahmenabkommen mit Europa gehofft hatten, nur schwer in Worte fassen. Die Katerstimmung sei enorm, sagt Stefan Schlegel von der Operation Libero. Die planlose Kapitulation des Bundesrats erschüttere sie, sagt Tiana Moser, die Fraktionschefin der Grünliberalen. Für SP-Nationalrat Fabian Molina ist es die «maximale politische Katastrophe».
Rettung in letzter Sekunde
Mit weniger als der «maximalen politischen Katastrophe» geht es am Tag danach kaum. Dabei ist es ja nicht so, dass diese Leute den Entscheid nicht hätten kommen sehen. Sie haben vor ihm gewarnt, schon länger. Sie haben ihn zu verhindern versucht, bis ganz zum Schluss.
Noch am letzten Freitag lud die Operation Libero in einer breit gestreuten E-Mail interessierte Kreise kurzfristig zu einer Sitzung. «Es sind zweifelsohne entscheidende Tage für die Schweizer Europapolitik», schrieb Renato Perlini, der Co-Kampagnenleiter für Europa bei der Operation Libero, in der Einladung. Nun gehe es darum, die Kräfte zu bündeln. Jene Kräfte, die finden, dass die Schweiz einen Weg finden müsse mit ihrer einzigen Nachbarin, der Europäischen Union.
Am Dienstagabend um 20 Uhr fand die Sitzung statt, per Video. Rund 25 Personen tauschten sich zu einem einzigen Thema aus: eine eidgenössische Volksinitiative für eine institutionelle Einigung mit der EU. Ist das eine gute Idee? Oder eine kontraproduktive? Wie lautet der Initiativtext? Und welche Organisationen würden bei diesem Kampf überhaupt helfen?
Nicht alle finden eine Initiative eine gute Idee, zu ihnen gehört Balthasar Glättli, der Präsident der Grünen, der beim Videocall auch dabei war. Doch über eines sind sich alle einig: Etwas muss passieren. Die Bestätigung dafür erhalten sie wenige Stunden später, als sich in Bern die Ereignisse überschlagen. Am Mittwochnachmittag, punkt 15.45 Uhr, erklärt der Bundesrat das Rahmenabkommen offiziell für tot.
Der Kampfgeist kehrt zurück
Vor lauter Frust vertwittert Stefan Schlegel von der Operation Libero am späten Abend einen fünfzig Jahre alten Text von Max Frisch. Über die «Verteidigungsmentalität» der Schweizer. Über das Fehlen jeglicher politischen Vision. Und über das Fehlen jeglichen Bedauerns über das Fehlen jeder Vision.
Doch schon am nächsten Morgen ist der Kampfgeist zurück.
Nein, ein Initiativprojekt sei mit dem Bundesratsentscheid überhaupt nicht vom Tisch, im Gegenteil, sagt Stefan Schlegel am Telefon. Schon nächsten Montag finde eine weitere Sitzung interessierter Kreise statt. Einziges Traktandum: Wie könnte der Initiativtext lauten?
Eine Initiative soll es sein
Verschiedene Varianten stehen zur Debatte. Mindestens eine liegt als fertiger Initiativtext bereits vor, ausgearbeitet von Koryphäen der Schweizer Rechtswissenschaft: ein Verfassungsartikel, der die sofortige Unterzeichnung des Rahmenabkommens verlangt. Auch Schlegel muss zugeben, dass diese Variante mit dem Bundesratsentscheid vom Mittwoch schwieriger geworden ist, dass sie sofort dem Einwand ausgesetzt wäre: «Ein totes Pferd kann man nicht mehr reiten.» Doch der Abkommensentwurf sei deswegen nicht aus der Welt. Für Stefan Schlegel steht daher weiterhin eine Initiative im Vordergrund, die sich darauf beschränkt, ein Abkommen zu den institutionellen Fragen herbeizuführen.
Doch es kursieren auch weiter gehende Ideen: eine Initiative für den Beitritt zur EU, eine Initiative für den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR), oder ein relativ breit gefasster Verfassungsartikel, der den Bundesrat dazu zwingt, die institutionellen Probleme mit der EU doch noch irgendwie zu lösen. Zwar sei eine Volksinitiative schon lange ein Thema, nach dem Mittwoch habe sie aber «an Dringlichkeit gewonnen», sagt Schlegel.
«Regierungsversagen!»
Das Ziel einer Initiative müsse sein, endlich eine richtige europapolitische Debatte in Gang zu bringen, sagt Thomas Cottier. Der 71-jährige emeritierte Rechtsprofessor ist Präsident der Vereinigung «Die Schweiz in Europa». Bis zuletzt hat er für das Rahmenabkommen gekämpft, hat Gutachten verfasst und Aufrufe lanciert. Den Plan B, den der Bundesrat am Mittwoch vorgestellt hat, hält er für ein kolossales Eigentor der Schweiz. Der Plan B bestehe im Wesentlichen darin, dass die Schweiz sich künftig noch stärker als bisher selbstständig ans EU-Recht anpassen soll. «Das bedeutet, dass die Schweiz die institutionelle Zusammenarbeit ablehnt mit dem Resultat, dass sie noch mehr EU-Recht ohne Mitsprache übernimmt als bisher – ohne damit den Marktzugang in die EU sichern zu können.» Dafür hat Cottier nur ein Wort: «Regierungsversagen!»
Darum müssten «jetzt andere Kräfte im Staat aktiv werden». In erster Linie sieht Cottier das Parlament in der Verantwortung. Damit dieses das Thema garantiert nicht versanden lässt, sei eine Volksinitiative ein wohl unverzichtbares Druckmittel.
Während die Vertreter der Zivilgesellschaft bereits am Text für eine Initiative herumstudieren, sind Vertreterinnen der Institutionen noch damit beschäftigt, den entstandenen Schaden zu begutachten. «Wir können jetzt nicht einfach zum Alltag übergehen», sagt Tiana Moser von den Grünliberalen. So etwas hinterlasse Spuren bei der Zusammenarbeit der verschiedenen Gremien. Moser ist Präsidentin der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrats, die sich kürzlich mit grossem Mehr dafür ausgesprochen hat, die Verhandlungen mit der EU nicht abzubrechen. «Unsere Bedenken hat der Bundesrat einfach weggewischt.»
Damit habe die Regierung die demokratischen Grundprinzipien verletzt, sagt Moser. Sie ist nicht die Einzige, die so denkt. Der ehemalige Zürcher Regierungsrat und Jurist Markus Notter argumentiert in einem bisher nicht publizierten Gutachten, dass ein Verhandlungsabbruch gar nicht in der Kompetenz des Bundesrats gelegen habe. Ein «definitiver Nichtabschluss» sei durch die Bundesversammlung zu genehmigen, schreibt Notter. Der Bundesrat besorge die auswärtigen Angelegenheiten unter Wahrung der Mitwirkungsrechte der Bundesversammlung – das halte die Verfassung fest. «Der wichtigste Anwendungsfall dieser parlamentarischen Mitwirkung ist zweifellos die Genehmigung völkerrechtlicher Verträge.»
Inwiefern das Gutachten von Notter im Nachhinein noch eine Wirkung haben wird, ist offen. Klar ist hingegen, dass sich viele Stimmbürgerinnen und Stimmbürger am Tag nach dem Entscheid des Bundesrats erstaunt darüber gezeigt haben, dass der Abbruch der Verhandlungen gänzlich ohne Mitbestimmung (von Parlament oder Volk) vonstattenging.
Das dürfte sich in einem nächsten Schritt ändern. «Wir werden für die künftigen Beziehungen zur EU auf ein bestehendes Format zurückgreifen müssen. Auf den Rahmenvertrag – allenfalls in abgewandelter Form – oder den EWR», sagt Tiana Moser. SP-Co-Präsident Cédric Wermuth hatte bereits am Mittwochabend eine erneute Abstimmung über den EU-Beitritt zur Sprache gebracht, und auch Eric Nussbaumer, SP-Nationalrat und Präsident der Europäischen Bewegung, sieht für die nähere Zukunft der Schweiz in Europa jetzt nur noch zwei Möglichkeiten: den EWR oder den Beitritt. «Wir müssen uns jetzt damit auseinandersetzen, was real überhaupt noch möglich ist. Das wird nicht von heute auf morgen gehen.»
Die Europa-Freunde sehen das gar nicht so unähnlich wie Christoph Blocher, der das Rahmenabkommen während Jahren bekämpft hatte. Am Mittwoch, am Tag seines Triumphs, sagte Blocher nur, er stehe nie am Ende eines Auftrags, sondern immer an dessen Anfang. Das gilt für einmal auch für seine politischen Gegnerinnen und Gegner.
Fehler gefunden?Jetzt melden.