Vorwürfe gegen MigrantenEr weiss, was junge Afghanen brauchen, damit sie nicht kriminell werden
Die Betreuung seiner jugendlichen Landsleute sei kompliziert, sagt der afghanische Gastronom Akram Sattary. Er hilft, indem er sie in seinen erfolgreichen Zürcher Restaurants einstellt.

- In den Restaurants von Akram Sattary arbeiten vorwiegend Afghanen.
- Der Gastronom unterstützt junge Landsleute bei der Integration und der Jobsuche.
- In der Heimat würden Schlepperbanden jungen Afghanen das Blaue vom Himmel versprechen.
- Die Gewalt, die sich in der Schweiz entlädt, sei oft eine Folge geplatzter Träume, sagt Sattary.
Mit seinen weiten Hosen und der Wollmütze sieht Akram Sattary wie ein gewöhnlicher Zürcher Gastronom aus. Er führt in Zürich mit seiner Frau Jenny zwei erfolgreiche afghanische Restaurants, ihre Foodtrucks mit afghanischen Speisen sind am Weihnachtsmarkt auf dem Sechseläutenplatz und in Micas Garten präsent. Bald übernimmt Sattary ein Café am Limmatplatz.
Doch etwas unterscheidet ihn von den meisten anderen Gastrounternehmern: Seine 15 Angestellten sind vorwiegend afghanische Männer. Und die haben gerade einen schlechten Ruf.
Nach Veröffentlichung der Kriminalitätsstatistik vor einigen Wochen hat Regierungsrat Mario Fehr (parteilos) diese Personengruppe hervorgehoben. Sie seien für überdurchschnittlich viele angezeigte Verbrechen verantwortlich. Der Bund müsse konsequente Rückführungen ermöglichen, sagte Fehr.
Und auch der bekannte forensische Psychiater Frank Urbaniok findet: Die Schweiz hat ein Problem mit Ausländerkriminalität. In seinem neuen Buch «Schattenseiten der Migration» hat er verschiedene Kriminalitätsstatistiken ausgewertet. Dabei habe sich unter anderem gezeigt, dass Afghanen mehr als fünfmal öfter wegen schwerer Gewalttaten angezeigt würden als Schweizer, sagte er kürzlich in einem Interview mit der «NZZ am Sonntag».
«Die Politik macht die Sache schlimmer»
Sattary kennt diese Anschuldigungen. Und doch ist er frustriert, wenn er sie wieder hört. Dies sagt der 46-Jährige im Gespräch in seinem Restaurant Afghan Anar im Kreis 5, unweit des Limmatplatzes. «Mit solchen Aussagen macht die Politik die Sache nur noch schlimmer.» Aus seinem Alltag weiss er, dass es manchmal Probleme gibt mit jungen Afghanen. Er kenne auch solche, die lieber Sozialhilfe beziehen würden statt zu arbeiten.
Und doch: «Was soll es bringen, wenn man diese Gruppe herausstreicht?», sagt Sattary und lehnt sich nach vorn. Seine Stimme wird lauter.
Durch seine Erfahrung im Umgang mit Dutzenden jungen Afghanen glaubt er zu wissen, was es braucht, um diese Probleme in den Griff zu bekommen. «Ich versuche, die jungen Männer zu motivieren, sich einen Job zu suchen und Deutsch zu lernen», sagt er. Damit sei er erfolgreich: Dutzende, für die er Ansprechpartner gewesen sei, würden nun an einer Kasse im Supermarkt oder in einem Restaurant arbeiten. «Die jungen Männer hören auf mich, weil sie sehen, dass ich meinen Weg in der Schweiz gegangen bin.»
Ein anderes Bild von Afghanistan
Sattary ist 1999 als Flüchtling nach Zürich gekommen – und hat sich rasch integriert. Sechs Monate nach seiner Ankunft arbeitete er schon in der Pizzeria Santa Lucia im Service. Dort traf er die Entscheidung, sich selbstständig zu machen. Den Ausschlag gab, wie er sagt, ein unanständiger Kommentar eines Gastes, der im Zuge von 9/11 anmerkte, die Afghanen seien «eh alles Terroristen».
«Danach wollte ich ein anderes Bild von meinem Heimatland vermitteln», sagt er.

Fotografien an den Wänden seines Restaurants sollen dieses andere Heimatland zeigen. Zu sehen ist auf Dutzenden Bildern ein folkloristisches und gleichzeitig aufgeschlossenes Afghanistan. Modernistische Architektur in Kabul, lachende Studentinnen in Röcken an der Polytechnischen Universität, eine Fotostrecke mit Bauern in der «Vogue» aus dem Jahr 1969.
Sattary erzählt beim Rundgang durch sein Restaurant von den erfolgreichen Kriegen Afghanistans gegen die Grossmächte USA und Russland, welche die Mentalität seiner Landsleute prägten. Und von der angespannten politischen Lage in seinem Heimatland, wie auch von den Konflikten zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen im Land.
«In der Schweiz liegt das Geld auf dem Boden»
«Es hilft im Umgang mit diesen jungen Männern, wenn man solche Zusammenhänge versteht», sagt Sattary. Und dem Druck, dem junge afghanische Männer, die nach Europa geschickt werden, ausgesetzt sind. «Die Familien sehen das als Investition an und verkaufen teilweise ihr Hab und Gut, um die Reise zu bezahlen», sagt er. Dabei machten sie sich völlig falsche Vorstellungen vom Leben in der Schweiz.
Auf seinem Handy zeigt Sattary ein Video, mit dem Schlepperbanden auf Instagram für die Schweiz werben. Darin zu sehen sind grüne Hügel, aufgeräumte Strassen, Geldbündel und Banken. Eine Stimme sagt aus dem Off: «In der Schweiz liegt Geld auf dem Boden herum, und die Leute bücken sich nicht einmal danach. Hier herrscht eine Dreitagewoche, und selbst wer nicht arbeitet, erhält 2000 Franken.» – «Absurd!», sagt Sattary und schüttelt den Kopf. Die Leute würden das wörtlich nehmen.
«Dank Social Media stösst diese Propaganda mittlerweile bis in die hintersten Winkel Afghanistans vor», sagt Sattary. «Die Gewalt, die man heute teilweise sieht, ist oft eine Folge von geplatzten Träumen.»

Sattarys Alltag lässt sich als konstante Bemühung beschreiben, realistische Einschätzungen von der Schweiz, aber auch von Afghanistan zu vermitteln. Einmal sind die Adressaten junge Afghanen, die glauben, sie fänden in der Schweiz am Boden liegendes Geld vor, und ein andermal sind es jene Schweizerinnen und Schweizer, die Afghanistan mit Kriminalität und Terrorismus gleichsetzen.
Manchmal glaubte er auch, sich beweisen zu müssen. Als er die Aussagen von Regierungsrat Mario Fehr in der Zeitung las und sich der Frust in ihm breitmachte, zeigte er die Schlagzeilen in der Küche herum. «Schaut mal, das denkt dieser Mann von uns», sagte er zu seinen Angestellten. Damit wolle er das Küchenpersonal auch anspornen, diesem Bild nicht zu entsprechen, sagt er.
Direkt vom Flüchtlingszug auf die Restaurantterrasse
Manchmal wird es ihm auch zu viel. Zum Beispiel vor einem Jahr, als Sattary am Morgen auf der Restaurantterrasse mehrfach junge Afghanen antraf, die direkt mit dem Zug aus Österreich oder Italien zu ihm kamen. Müde und in teils schmutzigen und zerschlissenen Kleidern wollten sie von ihm wissen, wie sie am schnellsten nach Frankreich weiterreisen können. Manche suchten auch nur den Weg ins Bundesasylzentrum. «Ich hätte ‹Asylbehörde› an den Eingang schreiben können», sagt Sattary und lacht.
Manche Jugendliche begleitete er zum Bahnhof und kaufte ihnen ein Ticket bis an die Schweizer Grenze. Doch damit hat er aufgehört. «Ich kann mich nicht um alle kümmern.» Dafür helfe er seinen Angestellten und all jenen, die hier lebten und sich bei Problemen an ihn wendeten. Er übersetzt Briefe für die Jugendlichen, spricht mit ihnen, wenn es ihnen schlecht geht, oder unterstützt sie bei der Lehrstellensuche. «Asylbetreuer sind Psychologen, Berufsberater, Übersetzer, Sozialarbeiter und Buchhalter in einem», sagt er.
Im Idealfall würden junge Afghanen von Leuten begleitet, die selbst afghanische Wurzeln hätten, sagt er. Seine Landsleute, die es in der Schweiz zu etwas gebracht haben – Ärzte oder Anwälte –, versucht er deshalb zu animieren, die Jugendlichen auf den Strassen Zürichs zu unterstützen. «Ich sehe das als unsere Pflicht.»
Vieles ist für junge Afghanen in der Schweiz fremd
Ähnlich sieht es Abdullah Moradi, der seit 2016 in der Schweiz lebt. Der 33-Jährige weiss, wie es sich anfühlt, auf sich allein gestellt zu sein. Die ersten Jahre nach seiner Ankunft durfte er nicht arbeiten, fühlte sich isoliert und musste zudem einen Todesfall in der Familie verkraften. «In solchen Situationen kann es schnell kritisch werden», sagt er.
Auch im Flüchtlingsparlament, in dem er einsitzt, höre er oft, wie belastend solche Erfahrungen seien. So vieles sei anders in der Schweiz: das Schulsystem, die familiären Beziehungen, die ganze Mentalität.

Moradi half sich selbst, indem er Anschluss suchte an hiesige NGOs, die sich um Asylbewerber kümmern. «Es ist zunächst wichtig, dass man Deutsch lernt und etwas zu tun hat», sagt er. Moradi trat in den afghanischen Kulturverein im Kanton Zug ein. Mit diesem feiert er traditionelle afghanische Feste. Der Verein unterstützt Landsleute, die mit den Gegebenheiten in der Schweiz noch nicht vertraut sind, bei Übersetzungen oder Behördengängen.
Integration ist keine leichte Aufgabe
Moradi, der mittlerweile als Krankenpfleger arbeitet und seit ein paar Monaten im Vorstand der SP Baar ist, kommt deshalb zu einem ähnlichen Schluss wie Sattary: «Die jungen Afghanen brauchen Hilfe von Landsleuten, man muss Geduld mit ihnen haben und an sie glauben.»
Pauschalisierende Äusserungen wie jene von Regierungsrat Mario Fehr hält er für schädlich. «Viele Afghaninnen und Afghanen leisten einen wichtigen Beitrag für die Gesellschaft – zum Beispiel im Gesundheitswesen, im sozialen Bereich, auf Baustellen oder im öffentlichen Verkehr», sagt er. Man werde ihnen nicht gerecht, wenn man sie in einen Topf werfe. Kriminalität sei kein kulturelles, sondern ein soziales Problem.
Davon ist auch Akram Sattary überzeugt. Die Erfolgsquote unter den rund 40 Jugendlichen, denen er, wie er sagt, über die Jahre bei der Bewältigung des Alltags geholfen habe, würde ihm recht geben.
Regierungsrat Mario Fehr äussert sich zu den Vorwürfen, dass seine Aussagen schädlich seien, so: «Eine glaubwürdige Asyl- und Ausländerpolitik muss bestehende Probleme ansprechen.» Er sei allen dankbar, die einen Beitrag zur Integration leisteten. Doch seien Afghanen überdurchschnittlich vertreten bei Delikten gegen Leib und Leben und bei Sexualdelikten. Deshalb brauche es zusätzliche Massnahmen. «Die sofortige Ausschaffung straffälliger junger Männer ist im Interesse aller, die hier friedlich leben wollen.»
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