Umsturz in DamaskusDie EU hat eine Million syrische Flüchtlinge, aber keine Telefonnummer der neuen Machthaber
Manche Länder wollten eben noch die Beziehungen zum Assad-Regime normalisieren, um Asylsuchende zurückzuschicken. Nun stehen sie blamiert da.
- Die Türkei hat bisher am meisten syrische Flüchtlinge aufgenommen.
- Die dramatischen Entwicklungen in Syrien überraschten die EU und beeinflussten Rückführungspläne.
- Die EU hat derzeit keinen Kontakt zu den neuen Machthabenden in Damaskus.
- In Deutschland und Österreich wurden Asylentscheidungen für Menschen aus Syrien vorerst gestoppt.
Einige sind jetzt blamiert: Noch im Sommer drängten die Aussenminister von acht EU-Staaten, die Beziehungen zum syrischen Präsidenten Bashar al-Assad zu normalisieren. Weil seine Macht trotz jahrelanger Sanktionen unerschütterlich erschien. Und vor allem mit der Hoffnung, im Gegenzug möglichst rasch und viele Flüchtlinge aus Syrien endlich in ihre Heimat zurückschicken zu können. Nun ist der Diktator weg, die Pläne Makulatur, und die EU hat keine Kontakte zu den neuen Machthabern in Damaskus.
Die islamistische Gruppe Haiat Tahrir al-Sham (HTS) und deren Anführer seien auf der Terrorliste der UNO und deswegen auch in der EU mit Sanktionen belegt, so ein Sprecher der Aussenbeauftragten Kaja Kallas am Montag. Man werde Anführer wie Abu Mohammed al-Jolani nicht nur an ihren Worten, sondern auch an ihren Taten messen. So schnell kann es gehen, wobei die EU nicht der einzige Akteur ist, der von der Wendung in Syriens Bürgerkrieg unvorbereitet überrascht wurde.
EU ist Zahlmeister
Die EU dürfte bald als Geldgeber für den Wiederaufbau in Syrien gefragt sein. Das ist die Rolle, die Brüssel in der Regel zufällt. Die EU-Aussenminister wollen Montag nächste Woche über die nächsten Schritte beraten. Solange die neuen Machthaber mit Reise- und Kontensperren belegt sind, kann die Hilfe nicht wirklich anlaufen. Im Moment hat man in Brüssel nicht einmal eine Telefonnummer, bei der man in Damaskus anrufen kann. Sehr schnell wieder begonnen hat dafür die Diskussion um die Rückführung von Asylbewerbern und Flüchtlingen, wenn auch unter ganz anderen Voraussetzungen.
Die Aussenminister Italiens, Österreichs, Kroatiens, der Tschechischen Republik, Zyperns, Griechenlands, Sloweniens und der Slowakei hatten in ihrem Brief noch vorgeschlagen, sogenannte sichere Zonen in Gebieten unter der Kontrolle des Assad-Regimes zu definieren. Der Vorstoss sah implizit auch vor, die Beziehungen zu Damaskus mehr oder weniger zu normalisieren. Die EU brauche eine neue Strategie, sagte Italiens Chefdiplomat Antonio Tajani unter dem Eindruck, dass an Diktator Assad kein Weg vorbeiführt. Nach 13 Jahren Krieg müsse die EU sich eingestehen, dass ihre Syrien-Politik nicht gut gealtert sei, stellte Österreichs Aussenminister Alexander Schallenberg die Strafmassnahmen gegen Damaskus infrage.
Eine Million Flüchtlinge
Nun ist sein Regime gefallen, und plötzlich soll das ganze Land sicher sein. Die EU-Staaten haben insgesamt eine Million syrische Flüchtlinge aufgenommen, wobei 60 Prozent in Deutschland leben dürften. Besonders schnell ist Österreichs Regierung. Innenminister Gerhard Karner hat nach eigenen Worten seine Behörde beauftragt, ein «geordnetes Rückführungs- und Abschiebeprogramm» für Syrien vorzubereiten. Die politische Lage habe sich in den letzten Tagen «grundlegend und vor allem rasant» verändert, heisst es in Wien. Das Innenministerium beobachte und analysiere aktuell die neue Lage. Bereits gestoppt wurden offene Asylverfahren in erster Instanz, insgesamt 7300 Fälle. In Österreich leben insgesamt knapp 100’000 syrische Asylbewerber und anerkannte Flüchtlinge.
In Deutschland hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) die Entscheidungen über Asylanträge von Syrern ebenfalls vorerst angehalten. Jede Entscheidung stünde sonst auf «tönernen Füssen», hiess es. Derzeit sind in Deutschland mehr als 47’000 Asylanträge von Syrern hängig. Innenministerin Nancy Faeser und Aussenministerin Annalena Baerbock äusserten sich jedoch zurückhaltend. Die Situation sei sehr unklar. Prognosen über Rückkehrmöglichkeiten seien nicht möglich. Die Lagebeurteilung hänge von der Entwicklung in Syrien ab.
In Brüssel warnte die EU-Kommission vor allzu grossen Hoffnungen auf schnelle und unproblematische Rückkehrmöglichkeiten. Die Bedingungen für eine sichere und würdevolle Rückkehr nach Syrien seien nach derzeitiger Einschätzung momentan nicht gegeben.
Die aktuelle Lage sei von grosser Hoffnung, aber auch von grosser Unsicherheit geprägt. Die Beurteilung werde davon abhängen, wie die neuen Machthaber mit religiösen Minderheiten umgingen. Mit mehr als drei Millionen Syrern hat die Türkei mit Abstand am meisten Flüchtlinge aus dem Nachbarland aufgenommen, von denen grössere Gruppen sich bereits auf den Weg in die Heimat gemacht haben.
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