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Erdogan droht, die Schleuse zu öffnen

September 2019: Flüchtlinge kommen von der griechischen Insel Lesbos im Hafen von Thessaloniki an. Foto: Sakis Mitrolidis
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Müde sei er, sagte Giannis Balbakakis, der Leiter des Flüchtlingslagers auf der griechischen Insel Lesbos, deshalb trete er zurück. Er gehe aber «mit erhobenem Haupt», denn er sei «weder ein Dieb noch ein protestierender Politiker».

Diese Worte lassen ahnen, dass sich der seit drei Jahren amtierende Chef des überfüllten Camps Moria von den Verantwortlichen in Athen alleingelassen fühlte. Menschenrechtsorganisationen nennen die Zustände dort seit langem «katastrophal». Mehr als 10'000 Migranten leben auf der ehemaligen Militärbasis, viele in Zelten oder einfach unter Planen. Vor Balbakakis' Rücktritt diese Woche war die Zahl der Neuankömmlinge auf Lesbos erneut stark gestiegen.

Türkei will Sicherheitszone

Schon seit längerem registriert die griechische Küstenwache mehr Bootsflüchtlinge, die über die sommerlich ruhige Ägäis aus der Türkei kommen. Die Bilanz, zum Beispiel am Donnerstagmorgen: 427 Ankünfte auf den Inseln Rhodos, Lesbos und Samos in 24 Stunden. Im August trafen in Griechenland nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks der UNO 8103 Menschen ein, im August des vorigen Jahres waren es nur knapp 3200.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat vor wenigen Tagen damit gedroht, sein Land könnte «gezwungen sein, die Tore zu öffnen», wenn es die Last einer möglichen neuen Flüchtlingskrise allein tragen müsse. Er verwies dabei auf die Lage in Syrien und auf seinen umstrittenen Vorschlag, dort – in einem bislang kurdisch kontrollierten Gebiet – eine «Sicherheitszone» zu errichten. In diese sollten dann syrische Flüchtlinge aus der Türkei umgesiedelt werden. Mit den USA ringt die Türkei derzeit um diese Zone. Erdogan hat für den Fall, dass es bis Ende September keine Einigung gibt, auch schon mit einem Alleingang in Syrien gedroht.

Nun wird in Brüssel und Athen diskutiert, ob der «Flüchtlingsdeal» zwischen der EU und Ankara vom März 2016 womöglich bald Makulatur sein könnte. Die Besorgnis ist so gross, dass die deutsche Kanzlerin Angela Merkel mit Erdogan telefonierte. Aus Ankara und Berlin war danach nur zu erfahren, dass es neben dem Thema Syrien auch um die Lage in der Ägäis und die «Zusammenarbeit bei der Mi­grationssteuerung» ging.

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Der Migrationsforscher Gerald Knaus, der 2016 das Abkommen mit der Türkei miteingeleitet hat, sagt, die aktuelle Situation sei mit damals nicht vergleichbar. 2015/2016 waren 850'000 Menschen nach Norden unterwegs. Knaus sagt, wenn das Abkommen «zusammenbricht, dann wegen des Scheiterns auf den griechischen Inseln». Von dort sollten eigentlich alle Migranten, «die keinen internationalen Schutz benötigen», nach abgeschlossenem Asylverfahren in die Türkei zurückgebracht werden. So will es das Abkommen. Die Verfahren laufen aber nur schleppend. Die neue konservative griechische Regierung hat eine Beschleunigung versprochen. Nur knapp 2000 Flüchtlinge sind seit 2016 in die Türkeizurückgebracht worden.

Wie schwierig die Situation ist, hat die türkische Migrationsforscherin Deniz Senol bereits im Mai bei einem Besuch auf Kos erfahren. Im dortigen Registrier­lager fand sie «höchst beengte» Verhältnisse und «überfordertes» Personal. In dem gestiegenen Druck auf syrische Flüchtlinge in der Türkei sieht Senol einen Grund für die neue Fluchtbewegung.

Auch Türken fliehen

Innenminister Süleyman Soylu droht derzeit nicht registrierten Syrern in Istanbul mit Ausweisung. Ein weiterer Grund sei, sagte Senol, dass afghanische Flüchtlinge – die einen hohen Anteil der Neuankömmlinge stellen – in der Türkei keinen Schutz fänden; sie fielen durch alle Raster. Erst würden sie aus dem Iran verdrängt, wo viele Afghanen leben, «dann suchen sie aus der Türkei einen Weg nach Europa».

Thanos Dokos, Chef des griechischen Thinktanks Eliamep, verweist auch auf die Kämpfe in der Region Idlib in Syrien, wo das syrische Regime zusammen mit Russland die letzten Rebellen vertreiben möchte. Bislang lässt die Türkei Flüchtlinge aus Idlib nicht über ihre Grenze. Nach UNO-Angaben hat die Türkei bereits 3,6 Millionen Syrer aufgenommen, mehr als jedes andere Land. Eine Umfrage, die am Donnerstag bekannt wurde, zeigt, dass acht von zehn Türken von ihrer Regierung eine Änderung ihrer Syrien-Politik verlangen.

Teil des EU-Türkei-Deals sind Finanzhilfen von 6 Milliarden Euro für die Türkei. 2,4 Milliarden sind bislang ausbezahlt für achtzig Projekte, unter anderem für Lebensmittel und Mietbei­hilfen. Auch Griechenland hat seither rund 2 Milliarden Euro für Flüchtlinge erhalten.

Vor Erdogan hatte sich auch sein Innenminister zum Thema Migration geäussert. Süleyman Soylu sagte, es komme für die Türkei gar nicht infrage, ihre Grenzen zu öffnen. Der Minister hatte dabei womöglich auch eigene Staatsbürger im Auge. Im August stellten 1306 Türken allein in Deutschland einen Asylantrag – das ist dort Platz zwei hinter den 2927 Anträgen von Syrern. In der Schweiz stellten seit Jahresbeginn gar mehr Türken als Syrer einen Asylantrag: Bis Ende Juli gab es 649 Asylgesuche türkischer Staatsbürger, 624 kamen von Syrerinnen und Syrern, wie das Schweizer Staatssekretariat für Migration mitteilte.