Leitartikel zur Krise in der UkrainePutin startet einen neuen Kalten Krieg
Die Wutrede des Kremlführers war eine Kriegserklärung an die westliche Freiheit. Nato, EU und auch die Schweiz müssen sich wappnen. Die Ukraine dagegen droht hinter dem neuen Eisernen Vorhang zu verschwinden.
Mit seiner TV-Ansprache hat Wladimir Putin jene Epoche beendet, die mit dem Fall der Berliner Mauer begonnen hatte. Es war eine Epoche der Hoffnung, die trotz vieler Rückschläge noch bestand. Damit ist es definitiv vorbei, seit Putin dem souveränen UNO-Mitglied Ukraine die Existenzberechtigung als Staat abgesprochen hat. Indem er die zwei von Russland unterstützten abtrünnigen Regionen in der Ostukraine anerkannte, spuckte er auf das internationale Völkerrecht. Das ist etwa so, als würde der österreichische Kanzler die Kantone Thurgau und St. Gallen als unabhängige Republiken bezeichnen, weil er sich der Ostschweiz «kulturell verbunden» fühlt.
Und Putin doppelte nach, als er umgehend seine Streitkräfte in Richtung Donezk und Luhansk entsandte. Damit fabrizierte er die Grundlage für einen Krieg – auch wenn er ihn nicht ganz ausrief. Der Einmarsch in die Ostukraine ist eine Eskalation seiner perfiden Heavy-Metal-Diplomatie mit schweren Panzern: Sollten die russischen «Friedenstruppen» beschossen werden von jenen, «die die Macht in Kiew ergriffen haben», so seine Drohung, würde zurückgeschossen. Nebenbei hat er das Minsker Abkommen geschreddert, eigentlich die Grundlage für die friedliche Beilegung des Konflikts.
Doch Putin geht es nicht nur um die Ukraine, sondern vielmehr um die Nato mit den USA an der Spitze. Die Allianz ist sein liebevoll gehegtes Feindbild, obwohl Russland mit seinen gut 20’000 Kilometern Landesgrenze nur gerade entlang von 1170 Kilometern an Nato-Staaten stösst. Obwohl er die Nato seit Jahren als Vorwand nutzt für seine aggressive Aussenpolitik: Die Militärallianz bedroht Russland nicht, plant keinen Krieg, und ein Beitritt der Ukraine ist ausserdem nicht absehbar. Auch hinter der sogenannten Osterweiterung der Nato steckte keine offensive Strategie. Allein der Begriff «Osterweiterung» ist schon irreführend: Es war nicht die Allianz, die sich aus Machtstreben erweitert hat, sondern die osteuropäischen Staaten hatten um Aufnahme in die Nato gebeten, wenn nicht gar gebettelt – aus leidvoller historischer Erfahrung mit Moskau.
Putin ist ein Gegner, der in Syrien Spitäler und Bäckereien bombardieren liess.
Nun muss der Westen insgesamt, also auch die Schweiz, zur Kenntnis nehmen, dass im Kreml ein Gegner herrscht. Dieser Gegner ist ein Autokrat, der die Demokratie hasst, der Oppositionelle vergiften lässt oder sie ins Straflager steckt. Ein Gegner, der in Syrien Spitäler und Bäckereien bombardieren liess und der bereits vor der Ukraine seine Macht mit Waffengewalt ausdehnte. Ein Gegner ausserdem, der versucht, den Westen zu unterwandern, der Wahlen stört, der extremistische Kräfte links wie rechts unterstützt und mit Hackerangriffen Unternehmen und staatliche Institutionen angreift. Kurz: ein Gegner, der die westliche Freiheit bedroht.
Putin will eine neue Epoche einleiten: die eines neuen Kalten Kriegs. Der Prozess der Teilung, der spätestens 2014 mit der russischen Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim begann, nähert sich seinem Höhepunkt. Heute steht dem Westen nicht mehr das kommunistische Sowjetimperium gegenüber wie einst, dafür eine postideologische Autokratie à la Putin. In Europa geht erneut ein Eiserner Vorhang nieder, diesmal von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer, also einfach einige Hundert Kilometer östlicher als in den späten 1940er-Jahren.
Die Gefahr besteht, dass sich Putin bald auch den baltischen Nato-Staaten «kulturell verbunden» fühlt.
Damals hat der weitsichtige amerikanische Diplomat George F. Kennan davor gewarnt, dass Moskau «anhaltenden Druck» ausübe, um die Demokratien zu stören: «Wir empfinden die Aussenpolitik des Kreml als beunruhigend, vor allem Moskaus Geheimniskrämerei, den Mangel an Offenheit, die Doppelzüngigkeit, das Misstrauen und die grundsätzlich unfreundlichen Absichten.» Als ehemaliger US-Botschafter in Moskau forderte er eine «langfristige, geduldige, aber feste und wachsame Eindämmung der russischen expansiven Tendenzen». Kennans Aufsatz von 1947 war ein Weckruf und wurde zur Blaupause für den Umgang mit dem Regime im Kreml.
Heute, 75 Jahre später, sind seine Worte wieder aktuell. US-Präsident Joe Biden ist es – mit Putins gütiger Mithilfe – gelungen, den Zusammenhalt in der bereits als «veraltet» und als «hirntot» diffamierten Nato wiederherzustellen. An der Ostflanke des Bündnisses treffen erste zusätzliche Truppen ein, die mit Moskau vereinbarte Zurückhaltung ist obsolet geworden. Denn die Gefahr besteht, dass sich Putin bald auch den baltischen Nato-Staaten «kulturell verbunden» fühlt. Und da nun sogar der deutsche Kanzler seine Gaspipeline nach Russland auf Eis gelegt hat, dürften sich die Reihen schliessen.
Auch hier gibt es lautstarke Putin-Versteher, die die Nato für die Krise verantwortlich machen, seien es alte Linke oder neue Rechte.
Auch die Regierung in Bern sollte die neue Realität anerkennen. Vermittlungsversuche sind zwar nicht ausgeschlossen. Die Schweiz ist aber gut beraten, als neutraler Staat ihren politischen wie auch militärischen Beitrag zur europäischen Sicherheit zu leisten, obwohl sie weiterhin vom Nato-Schutzschirm profitieren kann. Und obwohl auch hier lautstarke Putin-Versteher die westliche Militärallianz für die jetzige Krise verantwortlich machen, seien es alte Linke, die das untergegangene kommunistische Reich verklären, oder seien es neue Rechte, die vom antiliberalen Kremlführer begeistert sind. Beide verbindet ein tiefsitzender Antiamerikanismus.
Die ersten Leidtragenden im neuen Kalten Krieg sind die Ukrainerinnen und Ukrainer. Der US-Präsident und die Nato sind bereit zu helfen, mit Sanktionen gegen den russischen Aggressor, mit Waffen und vielen warmen Worten. Kämpfen vor Ort aber will die Nato nicht – in realistischer Anerkennung der Kräfteverhältnisse. Die Ukraine, eine unfertige Demokratie, aber immerhin eine Demokratie, droht deshalb hinter dem neuen Eisernen Vorhang zu verschwinden, allenfalls sogar nach einem heissen Krieg. Es ist der schmerzhafte Preis der neuen Konfrontation zwischen Ost und West in Europa – gewollt und ausgelöst von Wladimir Putin.
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