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Reportage aus Kiew
«Die Armee ist hoch motiviert und wird bis zum Letzten kämpfen»

Lydia Solohub und ihr Mann Wolodimir Solohub glauben an das ukrainische Militär.
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Eine prächtige Wintersonne lässt die goldenen Kuppeln des Kiewer Michaelsklosters erstrahlen, als der Hauptmann der Reserve Wladimir Lysenko mit hellroten Nelken in der Hand zur doppelten Erinnerungsmission antritt. 300 Kilometer weit ist Lysenko nach Kiew gefahren, um an diesem Tag gefallener Freunde zu gedenken.

Der 20. Februar 2014 war der blutigste Tag der Revolution auf dem Maidan, als der von Moskau gestützte Präsident Wiktor Janukowitsch Proteste gegen seine Abkehr vom europäischen Kurs der Ukraine von Spezialeinheiten zusammenschiessen liess. Es war der Anfang vom Ende der Janukowitsch-Herrschaft – seitdem gedenken die Ukrainer jedes Jahr der «Himmlischen Hundert», der rund 130 auf dem Maidan für einen europäischen Kurs und gegen ein Leben unter russischer Oberherrschaft gestorbenen Landsleute.

Die Flagge hat er über die Schulter gelegt

Auch Wladimir Lysenko kam damals mit Gleichgesinnten aus dem 47’000-Einwohner-Städtchen Ochtyrka östlich von Kiew auf den Maidan. Auch mit seinen 55 Jahren ist er noch ein Mann wie ein Bär, mit blauen Augen, Schnurrbart und kurzen grauen Haaren. Lysenko hat sich an diesem Tag die ukrainische Fahne mit der Aufschrift «Ochtyrka» über die Schultern gelegt, die er vor acht Jahren auf dem Maidan getragen hat. 

Lysenko ist immer noch Hauptmann der Reserve, die letzten zwei Wochen Auffrischungstraining hat er im vergangenen August absolviert. Ochtyrka liegt nur ein paar Dutzend Kilometer von der russischen Grenze entfernt, die dort angrenzende Region Belgorod gehört jetzt zum Hauptaufmarschgebiet der russischen Armee rund um die Ukraine.

Im Donbass verstärkten die Truppen der von Moskau kontrollierten Separatistengebiete der «Volksrepublik Donezk» und der «Volksrepublik Luhansk» ihre Artillerieangriffe auf ukrainische Stellungen, wie Einwohner «Kyiv Independent» bestätigten. Von einer Massenflucht könne entgegen Behauptungen russischer Medien bisher keine Rede sein, berichtete eine Mitarbeiterin des Infodienstes Ostro aus Donezk.

Soldaten bleiben in Weissrussland

Das Conflict Intelligence Team stellte am Sonntag weitere Verstärkungen und Vorbereitungen für einen möglichen Angriff fest. Nach US-Präsident Joe Biden sagte auch Englands Premierminister Boris Johnson, die Informationen wiesen auf eine russische Invasion hin, «nicht nur durch den Osten im Donbass (...), sondern auch vom Norden von Weissrussland und Kiew einkreisend». Am Wochenende wurde ein weiterer beunruhigender Fakt bekannt. Russische Soldaten bleiben in Weissrussland länger als zuvor angekündigt – und damit unweit von der Grenze zur Ukraine. Der Westen hatte mit einem Abzug nach dem Ende eines Manövers am Sonntag gerechnet.

Glaubt nicht, dass Putin einmarschiert: Wladimir Lysenko in Kiew.

Trotz allem ist Lysenko noch immer optimistisch. «Ich glaube nicht, dass Putin einmarschiert. Wer einen Krieg vorbereitet, tut dies nicht so, dass jede Einheit von Satelliten fotografiert werden kann – er will Europa und uns nur maximal einschüchtern, um seine Ziele zu erreichen.»

Die meisten glauben nicht an einen Einmarsch

Auch der pensionierte Ingenieur Wolodimir Solohub und seine Frau Lydia kommen am Sonntag zum Michaelskloster. Im Kloster nehmen sie an einem Gottesdienst zu Ehren der Maidan-Toten teil, und auch sie machen an der Gedenkmauer halt. Wolodimir Solohub glaubt ebenfalls nicht an einen russischen Angriff. «Putin will uns nur so lange wie möglich an der Gurgel halten und verhindern, dass wir nach Europa kommen.» Dies ist, allen Informationen über den Aufmarsch zum Trotz, die Meinung der meisten Ukrainer: In einer am 17. Februar abgeschlossenen Umfrage der Agentur Rating schätzten nur 19 Prozent der Befragten einen russischen Angriff als sehr wahrscheinlich ein.

Doch Lydia Solohub ist sich nicht sicher. «Die Geschichte Russlands ist die Geschichte der Eroberung anderer Länder – und Putin ist unberechenbar.» Immerhin, da ist sie mit ihrem Mann einig, «haben wir heute, Gott sei Dank, eine völlig andere Armee als noch 2014. Sie ist hoch motiviert und wird bis zum Letzten kämpfen.» Militärspezialisten des Londoner Royal United Services Institute legten freilich einen ebenso gründlichen wie pessimistischen Bericht über die Chancen des ukrainischen Militärs gegen die technisch überlegenen Russen vor. Doch in der Rating-Umfrage äusserten sich knapp zwei Drittel der befragten Ukrainer überzeugt, ihre Armee könne einen russischen Angriff zurückschlagen.

Auch Reservehauptmann Wladimir Lysenko ist optimistisch. «Die Ukraine von heute ist nicht die Ukraine von 2014 – heute haben wir eine echte Armee und eine halbe Million Reservisten wie mich, die mit der Waffe umzugehen wissen. Das weiss auch Putin», sagt Lysenko. «Wenn ich mich irre und die Russen doch einmarschieren, weiss ich, wo ich meine Waffe abholen muss. Ich habe ohnehin keine andere Wahl, als zu kämpfen: Entweder erschiessen uns die Russen, oder sie schicken uns nach Sibirien.»