Italien und die MigrationMelonis albanische Lösung ist erst mal vertagt
Italiens Premierministerin will bis zu 36’000 Bootsflüchtlinge pro Jahr nach Albanien bringen. Das Projekt verzögert sich, und Skeptiker prophezeien einen teuren Flop.
Vier Scheiben Zwieback, ein Butterbrot, zwei Portionsdöschen Marmelade oder Honig: Das Frühstück steht schon fest. Wann es zum ersten Mal auf den Tisch kommt in Gjadër und Shëngjin, ist weniger klar. Am vorletzten Montag hätten dort im Nordwesten Albaniens Erstaufnahme- und Abschiebungszentren öffnen sollen für Flüchtlinge, die übers Mittelmeer Italien erreichen wollen.
Premierministerin Giorgia Meloni präsentierte im November den Überraschungscoup: Die Vereinbarung mit Albaniens Regierungschef Edi Rama, dass Italien bis zu 36’000 Bootsflüchtlinge jährlich in diese Zentren bringen kann, um das eigene Aufnahmesystem zu entlasten. Laufzeit: fünf Jahre.
So sollen Migranten, nur erwachsene Männer aus sicheren Herkunftsländern, die kaum Aussicht auf Asyl haben, gar nicht erst ins Land kommen. Es ist das grosse Versprechen der Rechtsregierung in Rom, irreguläre Immigration einzudämmen. Italien preschte vor mit dem Modell, ausserhalb des Landes Flüchtlinge aufzuhalten und zu überprüfen. Erst im April beschlossen die EU-Länder in ihrer Asylreform, an den Aussengrenzen ein derartiges System aufzubauen. Das Rom-Tirana-Modell interessiert auch andere EU-Länder.
Gesamtkosten von 650 Millionen bis 2028
Doch Melonis Projekt verzögert sich. Ehe die ersten Migranten nach Shëngjin und Gjadër gebracht werden können, wird der Sommer vorbei sein. Erst prüfte Albaniens Verfassungsgericht das Vorhaben, im Februar segneten es die Parlamente beider Länder ab. Ausserdem fehlt auf dem Militärgelände bei Gjadër alles, was es braucht, um bis zu 3000 Menschen unterzubringen.
Die Zeitung «Il Fatto Quotidiano» veröffentlichte Fotos von Gjadër: Sie zeigen ein altes Flugfeld und angegammelte Schützenbunker. Pioniereinheiten der italienischen Armee sollen nun für den Bau von Gebäuden und Infrastruktur sorgen. Nötig sind zum Beispiel eine ausreichende Strom- und Wasserversorgung sowie eine Kläranlage. Auch der Hafen im Küstenstädtchen Shëngjin muss für die Ankunft von Migranten ausgebaut werden.
Gesamtkosten von 653,5 Millionen Euro hat das Finanzministerium in Rom bis 2028 kalkuliert. Und niemand weiss, ob das reicht. Nötig sind Neubauten samt einem kleinen Gefängnis und Personalwohnungen. Innerhalb der Mauern des Zentrums in Gjadër gilt das Recht Italiens, es muss alle Beamten stellen. Nötig sind 152 zusätzliche Richter, Sicherheitskräfte und Beamte der Ministerien für Inneres, Justiz und Gesundheit. Dafür sind 42,5 Millionen Euro vorgesehen.
Für Carabinieri, Polizisten, Finanzpolizisten und Vollzugsbeamte sind 260 Millionen Euro bis 2028 veranschlagt, und 94 Millionen Euro für albanische Sicherheitskräfte, die das Gelände von aussen bewachen. Die Verfahren der Migranten sollen in Videokonferenzen mit dem Gericht in Rom ablaufen, dort wie in Gjadër sind Räume, Technik und Personal nötig, was nochmals 31 Millionen Euro erfordert. Dazu kommen Reisespesen von Anwälten und Übersetzern sowie Ausgaben von 104 Millionen Euro für das Chartern von Schiffen.
Die meisten Kosten entstehen, weil Migranten vorübergehend in ein Nicht-EU-Land ausgelagert werden. Flüchtlingsorganisationen und Oppositionspolitiker fragen, ob es nicht viel sinnvoller wäre, Geld für Flüchtlingsstrukturen in Italien auszugeben und dafür, dass die Justiz die Verfahren schneller bewältigt. Zumal nicht sicher ist, ob das Albanienprojekt die Strukturen in Italien wirklich entlastet. Skeptiker prophezeien einen teuren Flop.
Schon die Zahl von 3000 Migranten, die Gjadër im Monat durchlaufen sollen, wirft Fragen auf. Denn alles soll wie eine Art Drehtür funktionieren mit beschleunigten Prüfverfahren in maximal 28 Tagen.
Das bezweifelt selbst Albaniens Premier Rama. «Das Problem wird sein, das Zentrum am Funktionieren zu halten», sagte er kürzlich der Zeitung «La Repubblica». «Wie will man 3000 Leute in 28 Tagen rotieren lassen mit italienischer Bürokratie und EU-Regeln?» Was er meint, ist, dass Verfahren auch länger dauern werden und so mit der Zeit immer weniger Plätze für neu Ankommende bleiben. Erst recht für die Abschiebehaft, die bis zu 18 Monaten dauern soll. Ist Gjadër voll, müssen alle Migranten nach Italien.
Ein Projekt mit vielen offenen Fragen
Bisher werden von dort aus im Monat durchschnittlich nur 400 Migranten abgeschoben oder zurückgeführt, 2023 waren es 4750 bei rund 160’000 angekommenen Bootsflüchtlingen. Sollen es deutlich mehr werden, braucht es mit den Herkunftsländern eine enge Kooperation, und die ist das Problem, mit dem alle EU-Länder kämpfen. Es könnten bald so viele Migranten wie bisher in Italiens Abschiebezentren und Flüchtlingsstrukturen landen.
Wie die Migranten ausgewählt werden, die nach Albanien sollen, wirft auch Fragen auf. Laut Abkommen geschieht das in internationalen Gewässern, wenn Marine, Küstenwache, Polizei oder Carabinieri Flüchtlingsboote aufgreifen. Was sehr oft so aussieht, dass sie die Migranten erst aus Seenot retten müssen.
Es ist schwer vorstellbar, dass dann gleich entschieden werden kann, wer nach Gjadër muss. Erst recht, da viele Migranten und Flüchtlinge keine Ausweise haben, einige auch keine Angaben zu ihrer Herkunft machen. Unpraktisch ist zudem, dass die Routen der meisten Flüchtlingsboote 600 bis 700 Kilometer weit von Shëngjin liegen. Marineschiffe, die Migranten dorthin bringen, wären jedes Mal hin und zurück etwa drei Tage unterwegs.
Schliesslich gibt es die juristischen Fragen: Bleiben die Rechte der Flüchtlinge wirklich gewahrt? Darf man ihnen verbieten, sich ausserhalb des Zentrums zu bewegen, wie es im Vertrag mit Tirana steht? Wird der Europäische Gerichtshof verbieten, dort Menschen mehr als 48 Stunden festzuhalten? Sind bis zu 18 Monate Abschiebehaft rechtens? Diese Fragen sind nicht restlos geklärt.
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