Jans in Nordafrika«Man bekommt einen anderen Blick auf die Migration, wenn man die Schweiz verlässt»
Bundesrat Beat Jans hat auf seiner ersten Dienstreise ausserhalb Europas Tunesien besucht. Das Land ist nicht erfreut über die negative Presse in der Schweiz.
Die Rückkehr nach Tunesien sei schwierig gewesen, sagt Sonia Guesmi. Daran habe auch die Rückkehrhilfe der Schweiz nicht viel geändert. Houssemeddine Sebali zögert einen Moment mit seiner Antwort auf die Frage von Bundesrat Beat Jans. Dann sagt er: «Am Anfang war es nicht einfach. Aber jetzt bin ich froh, wieder zurück zu sein. In der Schweiz war es etwas grau.»
Beide lebten eine Weile in der Romandie – und mussten dann zurückkehren. Zurück nach Tunesien, in ihr Heimatland.
Jans trifft die beiden in einem Konferenzraum der Schweizer Botschaft in Tunis. Ihre Geschichte klingt nicht typisch – jedenfalls nicht so, wie sich viele in der Schweiz eine Geschichte von maghrebinischen Migranten vorstellen. Die beiden stellten kein Asylgesuch: Sie hatten in der Schweiz eine Aufenthaltsbewilligung. Guesmi verlor die Bewilligung, weil sie ihr Studium beendet hatte. Sebali, weil er sich scheiden liess.
In den vergangenen Wochen waren Menschen wie sie ein grosses Thema in der Schweiz: «die Maghrebiner». Migranten aus Algerien, Marokko und Tunesien. Als Jans ganz frisch Justizminister war, machte er sie zum Thema seiner ersten Medienkonferenz als Bundesrat. Er kündigte 24-Stunden-Verfahren in allen Asylzentren an – eine Massnahme, die abschreckend wirken soll auf Menschen, die kaum Chancen auf Asyl haben. Nun hat er für seine erste Dienstreise ausserhalb Europas ebenfalls einen Maghrebstaat gewählt.
Eine Reise mit Symbolcharakter? Jans sagt: «Eine Reise in ein wichtiges Migrationsland.»
572 Asylgesuche aus Tunesien
Tunesien ist nicht nur ein Herkunftsland, sondern auch eines der Haupttransitländer auf der Mittelmeerroute Richtung Europa. So wie die Schweiz auf «die Maghrebiner» schaut, schaut Tunesien auf Flüchtlinge und Migranten aus Subsahara-Afrika. «Man bekommt einen anderen Blick auf die Migration, wenn man die Schweiz verlässt», sagt Jans. Ihm sei bei dieser Reise bewusst geworden, wie stark Tunesien unter Druck sei.
Mehr als die Hälfte der über 150’000 Menschen, die letztes Jahr in Italien ankamen, starteten von Tunesien aus. Ein Asylsystem hat das Land nicht: Die UNO-Flüchtlingsorganisation UNHCR registriert Asylsuchende – zurzeit sind es rund 12’000.
In der Schweiz haben im vergangenen Jahr 572 Tunesier ein Asylgesuch gestellt – 40 Prozent mehr als im Vorjahr. Tunesien war unter den zehn wichtigsten Herkunftsländern, obwohl weniger als ein Prozent bleiben dürfen. Darum ist die Rückkehr der Tunesier ein wichtiges Thema für Jans, für die Schweiz. Manche kehren freiwillig zurück, andere werden dazu gezwungen.
Ein weitverbreiteter Irrtum dabei: dass die Zusammenarbeit mit den Maghrebstaaten nicht funktioniere. Alle drei Staaten kooperieren bei Rückführungen. 120 Tunesier sind derzeit im Rückkehrprozess. Das funktioniere reibungslos, sagen die Fachleute. Es gab allerdings auch schon schwierige Phasen. Tunesien ist gegenüber westlichen Ländern in letzter Zeit kritischer geworden. Jans’ Besuch – der Besuch eines Bundesrats – soll dazu beitragen, dass die Zusammenarbeit mit der Schweiz weiterhin funktioniert.
Vier Migrationsdialoge in sieben Tagen
Der Experte für die Beziehungen zu den Herkunftsstaaten ist Vincenzo Mascioli, Vizedirektor im Staatssekretariat für Migration. Er ist Teil der Delegation, die Jans auf seinem zweitägigen Trip begleitet. Sein Credo: den Ländern auf Augenhöhe begegnen, sich langfristig engagieren. «Man kann den Dialog nicht erst dann aufnehmen, wenn Probleme auftreten.» Auf Masciolis Programm stehen diese Woche auch noch Dialoge mit Bosnien und Gambia. Jans empfängt eine Delegation aus dem Irak. Die Schweiz führt also in sieben Tagen vier Migrationsdialoge.
Mit Tunesien ist die Schweiz schon 2012 eine sogenannte Migrationspartnerschaft eingegangen – die umfassendste Form der Zusammenarbeit. Kurz vorher war der Diktator Ben Ali gestürzt worden. Im Land herrschte Aufbruchstimmung: der Arabische Frühling. Auf der Avenue Habib Bourguiba, der breiten Strasse, die am Innenministerium vorbeiführt, hatten die Proteste begonnen.
Nun wird die Schweizer Delegation im Innenministerium erwartet. Gleich drei Minister trifft Jans an diesem Tag. Die Schweiz habe ein gutes Image, sagt Jans nach dem letzten Gespräch im prunkvollen Aussenministerium. Sie verfolge einen etwas anderen Ansatz als manche andere Länder. Einen ganzheitlichen. Das werde wahrgenommen.
Die tunesischen Minister hätten sich besonders interessiert gezeigt an Unterstützung bei der Rückkehr – der Rückkehr jener, für die Tunesien ein Transitland ist. Die beiden Länder wollen denn auch die Zusammenarbeit intensivieren, die tunesische Seite habe explizit danach gefragt, weil die Schweiz mehr Erfahrung habe, erzählt Jans.
Verärgert über Medienberichte
Auch schwierige Themen kommen zur Sprache. Die kritischen Berichte in Schweizer Medien zum Thema «Maghrebiner» hat man in Tunesien nicht goutiert. Jans sagt dazu: «Ich habe erzählt, dass ich in den Medien auch ständig kritisiert werde – und trotzdem die Pressefreiheit hochhalte.»
Als Jans den Aussenminister zur Ukraine-Friedenskonferenz in die Schweiz einlädt, wird der Gazakrieg zum Thema. Tunesien wirft – wie andere arabische Staaten – dem Westen vor, bei den beiden Konflikten nicht dieselben Standards anzuwenden.
Und dann: die Menschenrechte. UNO-Organisationen und auch NGOs kritisieren Tunesiens Umgang mit den Subsahara-Migranten: Immer wieder gibt es Berichte über Menschen, die in der Wüste ausgesetzt werden. Jans kennt diese Kritik. Selbstverständlich habe er die Menschenrechte angesprochen.
Die NGOs sehen auch die Zivilgesellschaft unter Druck. In den vergangenen Wochen seien zunehmend NGO-Mitarbeitende verhaftet worden. Präsident Kais Saied führe das Land immer autoritärer.
Alle Menschen sollen würdig behandelt werden
Die Diskussion wird nun grundsätzlich. Sollte man die Zusammenarbeit unter diesen Umständen tatsächlich intensivieren? Jans findet: «Nur wenn wir im Dialog sind, können wir auf Verbesserungen hinwirken. Zentral ist, dass alle Menschen würdig behandelt werden.»
Ortskundige berichten, Tunesien fühle sich ungerecht behandelt von Europa, unverstanden. Jeder habe einen Onkel oder Schwager, der in Europa gearbeitet habe. Das sei vor Schengen gewesen. Nun ist das nicht mehr so einfach möglich. Gleichzeitig soll Tunesien aber für Europa die Grenzpolizei spielen. Die Abwanderung junger Menschen bringt Tunesien einerseits Devisen und führt andererseits zu einem Mangel in manchen Branchen.
Projekt mit Fotovoltaik
Der einfachste Teil des Tages ist der Besuch eines Berufsbildungszentrums. Es geht um den Austausch junger Berufsleute. Bis zu 18 Monate können junge Tunesierinnen und Tunesier in Schweizer Firmen Berufserfahrung sammeln. Bisher wurde das Kontingent von 150 Personen im Jahr bei weitem nicht ausgeschöpft.
Nun wollen die Schweiz und Tunesien propagieren, dass auch mehrere Einsätze von ein paar Monaten möglich sind. Zum Beispiel für die Installation von Solarpanels im Sommer. Eine Architektin berichtet Jans von wertvollen Erfahrungen, die sie im Rahmen des Programms in einem Genfer Architekturbüro sammelte.
Die Jugendarbeitslosigkeit in Tunesien liegt bei 40 Prozent. Daran kann auch das Programm für die jungen Berufsleute nichts ändern. Oder die Tatsache, dass Tunesien ein Schwerpunktland der Schweizer Entwicklungshilfe ist – mit 28 Millionen Franken im Jahr – und dass sich diese auf wirtschaftliche Entwicklung, Stärkung der Rechtsstaatlichkeit und Migrationsgouvernanz konzentriert. Jans sagt: «Wir können die grossen wirtschaftlichen Probleme des Landes nicht lösen. Aber wir können im gegenseitigen Interesse zusammenarbeiten.»
Rückkehrer Houssemeddine Sebali hat sich inzwischen als Informatiker selbstständig gemacht und beschäftigt 25 Personen. Rückkehrerin Sonia Guesmi versucht es im Patisseriegeschäft. Sie beliefert Hochzeiten. Anders als viele andere haben die beiden wieder Fuss gefasst.
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