USA blicken zum ParteitagDer Moment, an dem für die Demokraten die Zukunft beginnt
«Amerika, ich habe mein Bestes für dich gegeben», ruft Joe Biden in Chicago. Die Arena feiert ihn – doch richtig laut wird es, als Kamala Harris unangekündigt auf die Bühne tritt.
Am Abend, als die Demokraten Joe Biden verabschieden, kommt plötzlich auch sie auf die Bühne. Kamala Harris, die neue Kandidatin, die neue Hoffnung all jener, die eine Rückkehr von Donald Trump verhindern wollen. Der Parteitag in Chicago ist kaum drei Stunden alt, da erscheint sie ohne Ankündigung plötzlich auf dem tiefblauen Podium. «Zu Beginn möchte ich unseren unglaublichen Präsidenten Joe Biden feiern», sagt sie, die vorher eher dezente Stimmung im United Center schlägt binnen Sekunden in lauten Jubel um.
Die Vizepräsidentin Harris spricht nur ein paar Minuten lang bei ihrem ersten Auftritt auf der National Democratic Convention, sie spricht vor allem über ihn. Über den Präsidenten Biden, den man in diesem Moment noch nicht sieht.
«Ich danke dir für deine historische Führungsrolle, für deinen lebenslangen Dienst an unserer Nation und für alles, was du weiterhin tun wirst», sagt sie. «Wir sind dir für immer dankbar.» Sie sagt auch diesen Satz, der ein Motto im Duell mit Trump geworden ist: «Wenn wir kämpfen, gewinnen wir.» Aber es ist vor allem eine Hommage an den Mann, dessen Bewerbung ihr weichen musste, um gewinnen zu können.
Vor Biden treten Harris, Ocasio Cortez und Clinton auf
Wäre alles gekommen wie bis vor wenigen Wochen geplant, als es wieder der Zweikampf Biden gegen Trump zu werden schien, dann hätte Biden seinen grossen Auftritt erst ganz am Ende dieser Veranstaltung gehabt. Er würde am Donnerstag sprechen, zum Finale des viertägigen Treffens, knapp 80 Tage vor Amerikas Wahl. Doch die grosse Abschlussrede wird nun die Frau halten, die seine Kandidatur nach seinem Rückzug Ende Juli übernommen hat, Kamala Harris. Joe Biden, der spätestens im Januar 2025 abtreten wird, im Alter von dann 82 Jahren, ist ersatzweise schon an Tag eins an der Reihe, an diesem Montag. Gleich wird es so weit sein.
Vor Biden bekommt das Publikum aus Delegierten und Beobachtern im Parkett und auf der Tribüne ausser kurz Harris noch etliche andere Rednerinnen und Redner zu sehen und hören. Darunter sind Alexandria Ocasio Cortez, der Star der Linken aus New York, und Hillary Clinton. Die frühere Aussenministerin war selbst zweimal Bewerberin für den mächtigsten Posten der Welt, jetzt wirbt sie wie Barack Obama und Biden für Kamala Harris. «Es ist eine Menge Energie in diesem Raum, genau wie im ganzen Land», ruft sie. «Es tut sich etwas in Amerika, man kann es spüren.»
Hillary Clinton: «Ein wahrer Patriot»
Tatsächlich wird es für einige Momente wieder sehr lebendig in der Arena, deren Lautstärke ja ständig mit der vor einem Monat beim Festival von Trumps Republikanern verglichen wird. Auch die Wahlkämpferin Clinton huldigt Biden. Ein Verfechter der Demokratie im In- und Ausland sei er gewesen. «Er hat Würde, Anstand und Kompetenz zurück ins Weisse Haus gebracht und gezeigt, was es bedeutet, ein wahrer Patriot zu sein.»
Sie danke ihm, «für Ihren Dienst und Ihre Führung», sprach sie. «Und jetzt schlagen wir ein neues Kapitel in der Geschichte Amerikas auf.» Es ist das Kapitel Kamala Harris, sie habe «die Erfahrung und den Weitblick, uns vorwärtszuführen». Trump kümmere sich nur um sich selbst, Kamala Harris kümmere sich um die Menschen. «Das ist etwas, was Donald Trump nie verstehen wird», sagt Hillary Clinton, die 2016 gegen ihn verlor.
Als Präsidentin werde Kamala Harris «uns immer den Rücken stärken und für uns kämpfen. Sie wird dafür kämpfen, die Kosten für hart arbeitende Familien zu senken, die Türen für gut bezahlte Arbeitsplätze weit zu öffnen und, ja, sie wird landesweit das Abtreibungsrecht wiederherstellen.» Man möge «für Kamala» kämpfen, «denn sie wird für uns kämpfen». So sagt das Hillary Clinton, 76, ihr Mann Bill wird in dieser Woche auch noch reden.
Gaza-Proteste vor dem Parteitag
Draussen weht eine frische Brise in Chicago, der Windy City. Dort vor dem United Center ist auch eine Schar von Demonstranten unterwegs, die es mit dem scheidenden Präsidenten nicht so gut meint. Sie protestiert gegen die amerikanische Unterstützung Israels im Gazakrieg. Unter den Teilnehmern der Widerstandsbewegung sind etliche propalästinensische Organisationen mit jenen Parolen, die seit Monaten weltweit die Runde machen.
Für Biden und auch für seine mögliche Erbin Harris sind die Gewalt in Nahost und die Treue zur israelischen Regierung ein Problem, das Stimmen ganz links kosten kann, besonders im Swing State Michigan, in dem zahlreiche arabischstämmige Amerikaner leben. Zu viel Kritik wiederum kann Teile der jüdischen Gemeinde verärgern. «Die Demonstranten auf der Strasse haben nicht ganz Unrecht, es werden viele unschuldige Menschen getötet, auf beiden Seiten», wird Biden in Kürze sagen.
Denn dann, es ist bereits 22.30 Uhr am Lake Michigan und früher Morgen in Europa, ist Joe Biden dran. Erst aber sagt Jill Biden ein paar Worte, die First Lady, im Glitzerkleid. «Tief in seiner Seele» habe Joe Biden beschlossen, nicht mehr anzutreten, sagt sie. Es gehe «um etwas Grösseres als uns», Harris habe «den Glauben und die Überzeugung, Kamala und Tim werden gewinnen». Danach tritt Bidens Tochter Ashley ans Mikrofon, Sozialarbeiterin in Pennsylvania, sie kündigt ihren Vater mit verständlichem Pathos an. Anschliessend, nach Umarmung und Tränen, folgt sein Moment.
Bidens Stimme klingt vergleichsweise fest
Es gibt Standing Ovations für ihn, der Trump einmal besiegt hatte und dem ein zweiter Erfolg kaum mehr zugetraut wurde. «Thank you, Joe!», skandieren die Delegierten, es steht auch auf Schildern. In der folgenden Dreiviertelstunde unternimmt Biden einen Streifzug durch seine Karriere und besonders die gut dreieinhalb Jahre im Weissen Haus, nachdem Trumps Anhänger am 6. Januar 2020 das Capitol gestürmt hatten.
Seine Stimme klingt vergleichsweise fest, besser als bei seinem katastrophalen TV-Duell mit Trump, dem Anfang vom Ende als Kandidat. Er erinnerte an das Ende der Pandemie, an den wirtschaftlichen Aufschwung, seinen Einsatz für Jobs, Klima, Krankenversorgung, seinen «Kampf um die Seele der Nation». Er gibt den Landesvater, der die US-Demokratie bewahrt, und den Weltpolitiker, der die Nato zusammengehalten hat.
Immer wieder fällt der Name Trump, mit dem es jetzt seine Stellvertreterin aufnehmen will. Nichts habe Trump aufgebaut, «not a damn thing». Trump gehe es zuerst um ihn selbst «und zuletzt um Amerika», Trump sei ein Verlierer, ein verurteilter Straftäter. Man dürfe Immigranten nicht verteufeln. Und das landesweite Recht auf Abtreibung, das konservative Richter vor zwei Jahren gekippt hatten: «Kein Scherz», sagt Biden. «Die Republikaner haben 2022 die Macht der Frauen kennen gelernt, und Donald Trump wird 2024 die Macht der Frauen kennen lernen.»
Hier in Chicago hätte er seine Nominierungsrede halten sollen, es wird eine Abschiedsrede. Kämpferisch, stolz, melancholisch. «Amerika, ich habe mein Bestes für dich gegeben», sagt er. Da steht ein sichtlich gealterter Mann, dessen Gesundheit nach 50 Jahren Spitzenpolitik nicht mehr mitspielt. «All das Gerede darüber, dass ich wütend auf all die Leute bin, die gesagt haben, ich solle mich zurückziehen – das ist nicht wahr», sagt Biden, was vielleicht nur die halbe Wahrheit ist. «Ich liebe meinen Job, aber ich liebe mein Land mehr, und wir müssen unsere Demokratie bewahren.»
Dann wird es nochmals sehr laut
Biden verspricht, «dass ich der beste Freiwillige sein werde, den Harris und Walz je gesehen haben». Kamala werde «eine Präsidentin sein, die von den führenden Politikern der Welt respektiert wird, weil sie es bereits ist. Sie wird eine Präsidentin sein, auf die wir alle stolz sein können, und sie wird eine historische Präsidentin sein, die Amerikas Zukunft ihren Stempel aufdrückt, denn wie viele unserer besten Präsidenten war sie auch Vizepräsidentin.»
Er war ebenfalls Vizepräsident, ehe er Präsident war. Jetzt bleiben Biden noch fünf Monate im Amt, bevor er an Harris oder Trump übergibt. Vereinzelte Delegierte verlassen schon den Saal, ehe er fertig ist, doch dann wird es nochmals sehr laut, weil Kamala Harris und ihr Vizekandidat Tim Walz zu den Bidens auf die Bühne kommen. Es ist der Moment, als bei den Demokraten endgültig die Zukunft begonnen hat.
Fehler gefunden?Jetzt melden.