G-20-Gipfel startetKann Brasilien noch mit allen – oder endet bald die Samba-Diplomatie?
Brasilien hat sich jahrzehntelang aus den Konflikten der Welt herausgehalten und gute Kontakte zu allen gepflegt. Doch für den Gastgeber des G-20-Gipfels wird das immer schwieriger.
- Der G-20-Gipfel findet in Rio de Janeiro statt.
- Gastgeber Lula da Silva steht wirtschaftlichen und diplomatischen Herausforderungen gegenüber.
- Brasiliens politische Strategie wird in der polarisierten Welt zunehmend infrage gestellt.
Gut möglich, dass es Orte auf dieser Welt gibt, die besser geeignet sind für ein internationales Gipfeltreffen als Rio de Janeiro: Zu unübersichtlich ist die Geografie der Stadt, zu feuchtheiss die Temperaturen, zu hoch die Kriminalität. Auf der anderen Seite sind da aber auch die traumhaften Strände, die bewaldeten Hügel, der Zuckerhut-Felsen und die Christus-Statue, die ihre Arme ausbreitet über der Stadt: Was für eine Kulisse!
Vor ihr findet am Montag und am Dienstag das G-20-Gipfeltreffen statt: Staatschefs und Politiker aus den wichtigsten Industrie- und Schwellenländern treffen sich, um über die Welt und ihre Probleme zu sprechen. Von denen gibt es derzeit wahrlich mehr als genug: Klimakrise, Nahostkonflikt und der Krieg Russlands in der Ukraine. Und während demokratische Werte an Gewicht verlieren, sind Autokraten auf dem Vormarsch.
Ausgerechnet in diesen schwierigen Zeiten steht es Brasilien zu, das G-20-Treffen auszutragen, einem Land, dessen bisherige Aussenpolitik sich wohl am besten zusammenfassen lässt unter dem Motto: Wir können mit allen. Über Jahrzehnte war man mit dieser Samba-Diplomatie höchst erfolgreich: Mal ein Schritt zur einen, dann zur anderen Seite und bei allem nie das Lächeln vergessen. Nun aber, angesichts einer zunehmend polarisierten Welt, stellt sich die Frage, was diese Strategie noch bewirken kann.
Wichtigste Wirtschaftsmacht in der Region
Das Land ist mit etwa 215 Millionen Einwohnern die mit Abstand bevölkerungsreichste Nation Lateinamerikas und gleichzeitig die wichtigste Wirtschaftsmacht der Region. Auch schaltet sich Brasilien immer öfter in internationale Diskussionen ein, etwa als es darum ging, den UNO-Sicherheitsrat zu erweitern. Und Brasilien schmiedet neue Allianzen, allen voran Brics, ein Staatenbündnis, gegründet 2009 gemeinsam mit Russland, Indien und China und später noch erweitert um Südafrika und weitere Staaten.
Das Land sah sich als Mittler zwischen dem globalen Süden, den aufstrebenden Schwellenländern und den reichen westlichen Industriestaaten. Eine durchaus komfortable Situation: Während man weiterhin Geschäfte mit den USA machte, baute man den Handel mit China massiv aus und pflegte dazu noch gute Beziehungen zu Russland.
Vor allem ein Mann wurde zum Gesicht dieses neuen, selbstbewussten und unabhängigen Brasiliens: Luiz Inácio Lula da Silva, der frühere und amtierende Präsident des Landes. 2002 gewann der heute 79-Jährige zum ersten Mal die Wahlen. Es folgte aber ein jäher Absturz: Lula wurde 2017 wegen Geldwäsche und Korruption angeklagt und zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Das Urteil war höchst umstritten und wurde wieder aufgehoben. Da war es allerdings schon zu spät: Statt Lula hatte 2018 bei den Wahlen der rechtsextreme Jair Bolsonaro gewonnen.
Unter seiner Präsidentschaft versank Brasilien in der aussenpolitischen Bedeutungslosigkeit. Das änderte sich erst wieder, als 2022 abermals Lula die Wahlen gewann. Er erklärte vollmundig: «Brasilien ist zurück!»
Brasilien ist mittendrin im Brics-Club der Autokraten
Doch einer sich immer weiter polarisierenden Welt kommt Brasilien mit seinem Anspruch, sich mit allem und jedem zu verstehen, häufiger an seine Grenzen. Das sieht man am Beispiel von Brics: Das Bündnis wurde zuletzt erweitert, neue Mitglieder sind Äthiopien, Saudiarabien und der Iran. Längst sehen manche Brics als Club von Autokraten und De-facto-Diktatoren – und mittendrin Brasilien, eigentlich stolz darauf, die grösste Demokratie in Südamerika zu sein.
Immerhin: Wladimir Putin hat erklärt, an G-20 nicht teilnehmen zu wollen, was Brasilien die Entscheidung erspart, ob es den Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs vollstrecken möchte, der gegen Russlands Präsident vorliegt.
Unangenehme Momente wird es dennoch geben, mit Argentiniens rechts-libertärem Staatschef Javier Milei zum Beispiel: Dieser hatte Lula in der Vergangenheit als «korrupten Kommunisten» bezeichnet. In Rio werden sie sich treffen. Die argentinische Delegation soll versucht haben, die Diskussion über eine Sondersteuer für Superreiche von der Gipfel-Agenda zu streichen – dabei ist diese eines der Hauptanliegen von Präsident Lula.
Neben Unstimmigkeiten wird vor allem auch Unsicherheit das Treffen dominieren. US-Präsident Joe Biden reist an, allerdings als «lame duck». Dessen Tage sind wegen einer Wahlniederlage gezählt. Und auch der deutsche Bundeskanzler kommt in einer geschwächten Position: Wer weiss, was bei den Neuwahlen Anfang nächsten Jahres geschehen wird.
Ob es am Ende des G-20-Treffens brauchbare Ergebnisse gibt, ist ungewiss. Nur eines ist sicher: das obligatorische Gipfelfoto, vielleicht sogar aufgenommen an einem der Strände von Rio de Janeiro, im Hintergrund der Zuckerhut-Felsen. Was für eine Kulisse!
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