Machtwechsel in BrasilienWas Lula erreicht hat – und was nicht
Wirtschaft, Amazonas, Weltbühne: Das erste Amtsjahr lief gut für Lula. Mit einem Personalentscheid hat er aber selbst die eigene Anhängerschaft irritiert.
Etwas ausserhalb des brasilianischen Millionenmolochs Rio de Janeiro liegt die Restinga da Marambaia, eine Insel voller Palmen und Strände, viele davon fast menschenleer. Nur eine Brücke verbindet die Restinga da Marambaia mit dem Festland, Zugang haben lediglich ausgesuchte Personen: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, welche die Natur vor Ort erforschen wollen, Militärangehörige, unter deren Verwaltung die Restinga da Marambaia steht – und die Präsidenten Brasiliens. Sie machen traditionell hier Ferien.
Auch der aktuelle Staatschef des südamerikanischen Landes, Luiz Inácio Lula da Silva, ist nun, ein paar Tage nach Weihnachten, in die Ferien auf der Insel aufgebrochen. Zusammen mit seiner Frau Rosangela da Silva will der 78-Jährige Sonne und Strand geniessen. Vielleicht wird er Muscheln suchen, vielleicht auch nur etwas Ablenkung und Ruhe. Denn Erholung, so viel steht fest, hat der Präsident dringend nötig.
Ein Jahr ist vergangen, seit Lula am 1. Januar 2023 sein Amt angetreten hat. Schon damals war klar, dass die Herausforderungen riesig sein würden: Nach vier Jahren unter der Regierung von Jair Bolsonaro war Brasilien tief gespalten. Wie gross die Macht des rechtsextremen Ex-Präsidenten immer noch war, zeigte sich nur wenige Tage später, am 8. Januar 2023, als ein Mob radikaler Bolsonaro-Anhänger das Regierungsviertel in der Hauptstadt Brasília stürmte (lesen Sie hier die Analyse zum Sturm auf Brasiliens Institutionen). Ein Umsturz, das weiss man heute, konnte damals wohl nur knapp verhindert werden.
Unter Bolsonaro kehrte der Hunger zurück
Zu den politischen Herausforderungen kamen ökonomische Probleme: Brasiliens Wirtschaft war bei Lulas Amtsantritt angeschlagen, und der Hunger, den man eigentlich schon Jahre zuvor besiegt geglaubt hatte, kehrte zurück. In Rio de Janeiro oder São Paulo durchwühlten ganze Familien die Mülleimer nach Sandwichresten, im Amazonas drangen illegale Goldsucher immer tiefer in Schutzgebiete vor. Die Abholzung im grössten Regenwald der Erde hatte unter Bolsonaro immer grössere Ausmasse angenommen, weshalb Brasilien international am Pranger stand und zunehmend isoliert wurde.
All das ist Vergangenheit. Ein Jahr nach Lulas Amtsantritt ist das Panorama in Südamerikas grösster Nation ein anderes. Die Ängste vor einem Putsch sind verschwunden. Die Anhängerschaft von Jair Bolsonaro mag zwar noch stark sein, Gerichte haben den rechten Ex-Präsidenten jedoch für Jahre von jeder Teilnahme an einer Wahl ausgeschlossen. Dazu wurden auch eine ganze Reihe von Skandalen aufgedeckt, von gefälschten Impfpässen bis zu veruntreuten Staatsgeschenken. Kurz sah es sogar so aus, als würde Bolsonaro zu einer Haftstrafe verurteilt. So weit kam es nicht, der Ex-Präsident sitzt also nicht im Gefängnis, dafür aber sein linker Nachfolger Lula umso fester im Sattel.
Positive Wirtschaftsindikatoren
Das liegt auch daran, dass die Wirtschaft in Brasilien wieder brummt: Um 3 Prozent ist sie 2023 gewachsen, viel mehr als die eigentlich vorausgesagten 0,6 Prozent. Die Inflation ist auf dem tiefsten Stand seit 2019 und die Arbeitslosigkeit so niedrig wie seit fast zehn Jahren nicht mehr: Derzeit beträgt sie weniger als 8 Prozent.
Selbst die Abholzung im Amazonas hat massiv abgenommen, um fast zwei Drittel im Vergleich zum Vorjahreszeitraum, und Lula hat Brasilien auch wieder zurück auf die Weltbühne gebracht. Noch bevor er überhaupt sein Amt angetreten hatte, war er im November 2022 schon nach Ägypten zur UNO-Klimakonferenz gereist; danach flog er in die USA, nach China, Südafrika, Japan, Grossbritannien, Deutschland. Jeden Monat gab es im Schnitt mindestens eine Reise, dazu noch Besuche ausländischer Staatsgäste im Land. Turnusgemäss führte Brasilien zudem internationale Gremien, vom südamerikanischen Staatenbündnis Mercosur bis hin zur G-20-Gruppe derzeit.
Bei seiner Weihnachtsansprache jubelte Präsident Lula: «Wir beenden dieses Jahr in aussergewöhnlich guter Form!» Jetzt also erst mal Ferien. Trotz aller Erfolge 2023 warten im nächsten Jahr noch eine Menge Probleme auf Brasiliens Staatschef.
Abholzung bleibt ein Problem
Da wäre etwa der Naturschutz: «Null Abholzung bis 2030» hat Lula für den Amazonas versprochen, davon ist man aber trotz eines Rückgangs bei der Entwaldung noch weit entfernt. Und: Auch wenn der Kahlschlag im grössten Regenwald der Erde zurückgegangen ist, so ist er anderswo massiv angestiegen, allem voran im Cerrado, einer Feuchtsavanne im Zentrum des Landes. Immer noch werden in Brasilien auch neue und anderswo verbotene Pestizide zugelassen und ausgebracht, auch gibt es höchst umstrittene Projekte zur Ölförderung, unter anderem im Mündungsgebiet des Amazonas.
Und bei näherem Hinsehen wird klar: Viele Erfolge der linken Regierung in Brasilien haben auch Schattenseiten. Die riesigen Sozialprogramme haben zwar dafür gesorgt, dass es den untersten Bevölkerungsschichten wieder etwas besser geht. Die Frage ist aber, wie lange der brasilianische Staat sich diese Massnahmen noch leisten können wird: Schon für dieses Jahr übersteigt das Haushaltsdefizit die eigentlichen Planungen.
Heikle Personalentscheidung
Im Kongress wiederum trifft Lula auf immer härteren Widerstand, und zuletzt stieg trotz aller Fortschritte auch wieder der Unmut in der Bevölkerung. Für Kritik sorgte insbesondere die Berufung von Lulas persönlichem Rechtsanwalt – der ihn in Korruptionsverfahren verteidigt hatte – zum Richter am obersten Gerichtshof, die Lula selbst veranlasst hatte. Auch bei Fans des Präsidenten erweckte diese Personalie den Eindruck von Vetternwirtschaft.
In ein paar Tagen schon will Lula aus den Ferien wieder zurückkehren in die Hauptstadt Brasília, vom Strand der Restinga da Marambaia zurück in den Präsidentenpalast. Dort erwarten ihn dann alte Probleme ebenso wie neue Herausforderungen.
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