US-Präsident auf dem AbstellgleisWas macht «lame duck» Biden aus der restlichen Amtszeit?
Joe Biden ist nach seinem Rückzug das, was man «lame duck» nennt: ein Regierungschef, der bald weg ist. Aus dem Weissen Haus heraus will er Kamala Harris unterstützen – und an seinem Erbe feilen.
Ab sofort ist Joe Biden also das, was man «lame duck» nennt. Kein schöner Name, so werden Politiker genannt, die noch auf Posten sind, aber in absehbarer Zeit abgelöst werden. Geradezu grässlich ist das Bild einer lahmen Ente für den Präsidenten der USA, den mächtigsten Menschen der Welt. Spötter würden jetzt vielleicht sagen, dass dies zu Bidens schleppendem Gang passt. Aber das wäre unfair, regiert hat der 81-Jährige bis zuletzt souverän.
Fragt sich nur, wie Biden in den kommenden knapp sechs Monaten regieren wird, nachdem er seine Kandidatur am Sonntagnachmittag abgegeben hat. Wie es aussieht, übernimmt Kamala Harris, die Vizepräsidentin. Wahrscheinlich tritt sie am 5. November gegen Donald Trump an, und am 20. Januar 2025 zieht die Demokratin oder der Republikaner ins Weisse Haus ein. Spätestens dann zieht Joe Biden aus.
Oder gar früher? Seit dem Rückzug seiner Bewerbung kommt natürlich auch die Frage auf, ob er zugunsten seiner Stellvertreterin nicht gleich seinen Platz räumen sollte, damit sie sich an oberster Stelle auf das Duell mit Trump vorbereiten kann. Amtsinhaber haben gegenüber ihren Herausforderern in der Regel Vorteile in der öffentlichen Wahrnehmung, weil sie einfach ständig im Einsatz zu sehen sind.
Kamala Harris hätte sofort die Weltbühne für sich, würde Biden ausser als Kandidat auch vorzeitig als Präsident abtreten. Das wäre wahrscheinlich noch wirkungsvoller als der Wahlkampf allein, zumal sie in den dreieinhalb Jahren als Nummer zwei nicht so übermässig aufgefallen ist. Aber das Szenario ist fürs Erste unwahrscheinlich, eher will Biden wenigstens seine vier Jahre beenden, sofern die Gesundheit mitspielt.
Israels Gegenmodell zum scheidenden Amerikaner
Für Dienstag war zunächst eine Art Höflichkeitsbesuch von Benjamin Netanyahu im Oval Office vorgesehen, denn Israels Premier soll am Mittwoch vor dem US-Kongress sprechen – auf Einladung der Republikaner. Biden und Netanyahu sind sich in gegenseitiger Abneigung verbunden und warten auf das Ende der jeweiligen Ära. Im Juni hatte Biden seine Vermutung geäussert, dass Netanyahu den Krieg in Gaza verlängere, um an der Macht zu bleiben. Der israelische Regierungschef ist ein Gegenmodell zum scheidenden Amerikaner, denn er hält sich mit Unterbrechungen bereits gut 16 Jahre, trotz allem.
Doch die Begegnung vor der Rede des Gastes aus Jerusalem könnte ausfallen, weil Biden zumindest zu Wochenbeginn noch mit den Viren zu tun hatte. Seit vergangener Woche verbringt er wegen seiner Covid-Infektion die Quarantäne in seinem Ferienhaus am Strand von Rehoboth Beach, Delaware, während die mögliche Erbfolgerin Harris auf Tour geht.
Die Krankheit scheint immerhin weitgehend überstanden zu sein. Der Präsident habe seine zehnte Dosis Paxlovid erhalten, berichtete am Montag sein Arzt Kevin O’Connor, in dieser Sache von der Schweigepflicht befreit. Seine Symptome seien fast verschwunden, Puls, Blutdruck, Atemfrequenz und Temperatur seien «absolut normal». Seine Sauerstoffsättigung sei «bei Raumluft weiterhin ausgezeichnet, die Lunge frei. «Der Präsident», schrieb O’Connor «übt weiterhin alle seine präsidialen Pflichten aus.»
Biden sah ein, dass es keinen Sinn mehr ergibt
In diesen Tagen will Biden seine Entscheidung vom Wochenende genauer erläutern, wenn die Stimme mitmacht, bisher hatte er seinen Beschluss nur schriftlich und relativ knapp kundgetan. Obwohl jeder ahnt, warum er als Bewerber aufgibt. Das Alter, der Widerstand von Parteigranden wie Barack Obama, Bill Clinton und Nancy Pelosi, die schlechten Umfragewerte. Er sah ein, dass es keinen Sinn mehr ergibt.
Lob kommt dafür auch aus Texas. «Präsident Biden, Sie sind ein Patriot ohnegleichen», schreiben die Töchter von Lyndon B. Johnson, der 1968 als bisher letzter US-Präsident auf eine weitere Nominierung verzichtet hatte. In seinem Fall geschah das im Zuge des Vietnamkriegs sowie der Ermordung von Martin Luther King und Robert F. Kennedy – allerdings mit unangenehmen Folgen, denn Vize Hubert Humphrey gewann zwar in einer Kampfabstimmung beim Parteikongress in Chicago, verlor aber gegen Richard Nixon.
Führende Republikaner attackieren Biden wie gehabt, auch wenn deren Gegnerin fortan Kamala Harris heisst. In Gestalt von Mike Johnson fordern ihn republikanische Mandatsträger nun zum Rücktritt auf. Wenn Biden nicht in der Lage sei, für das Amt des Präsidenten zu kandidieren, «dann ist er auch nicht in der Lage, als Präsident zu dienen», meint der Sprecher des Repräsentantenhauses. Er müsse zurücktreten.
Auch Trumps früherer Sicherheitsberater und UNO-Botschafter John Bolton warnte im «Wall Street Journal» vor fast einem halben Jahr mit Biden als «lame duck» in Zeiten der Weltkrisen. Wobei Bolton zu Recht darauf hinweist, dass auch ein wiedergewählter US-Präsident sofort eine «lame duck» ist, weil ja nur zwei Amtszeiten erlaubt sind.
«Unerreicht in der modernen Geschichte»
Erst kürzlich hatte Biden in Washington den Nato-Gipfel hinter sich gebracht, mit Versprechern, aber der Gewissheit, dass das Bündnis seit Russlands Angriff auf die Ukraine wuchs. Der Nahostkrieg dagegen hat seiner Bilanz schwer geschadet. Ansonsten kann Biden ohne den Druck des Nominierten womöglich entspannter an seinem Erbe feilen.
Er könnte in den letzten Wochen Kraft seines Amtes Verordnungen herausgeben, um Studenten zum Beispiel Studienschulden zu erlassen. Er könnte Last-minute-Begnadigungen aussprechen, bei Donald Trump waren es 2021 deren 143 – und vor allem soll er Kamala Harris dabei helfen, Trump zu schlagen.
Harris durfte den kranken Vorgesetzten am Montag bei einem Termin vertreten, es war ihre Premiere, seit er seine Vizepräsidentin als Kandidatin empfohlen hatte. «Ich bin aus erster Hand Zeuge, dass unser Präsident Joe Biden jeden Tag für das Volk kämpft, und wir sind zutiefst dankbar für seinen Dienst an unserer Nation», sagte sie. Bidens Vermächtnis sei «unerreicht in der modernen Geschichte», in einer Amtszeit habe er bereits das Erbe der meisten Präsidenten mit zwei Amtszeiten übertroffen.
Es war eine Veranstaltung für Meistermannschaften aus dem College, die Rednerin Harris stand dabei auf dem South Lawn vor dem Weissen Haus. Dachte man sich den Schriftzug «Vizepräsidentin der Vereinigten Staaten» auf dem Pult vor ihr kurz weg, dann sah es fast so aus, als stehe da Amerikas neue Präsidentin.
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