Appell von ukrainischem Aussenminister«Luftverteidigung wäre leichter, als wenn Sie eines Tages selbst kämpfen müssten»
Aussenminister Dmitro Kuleba richtet klare Worte an die Verbündeten. Es sei an der Zeit, die Ukraine mit derselben Einigkeit zu unterstützen wie Israel.
Als am Morgen nach dem iranischen Angriff der Erfolg der israelischen Flugabwehr und das Ausmass der Unterstützung aus den USA sichtbar wurden, schickte der ukrainische Aussenminister Dmitro Kuleba seinem Präsidenten eine Textnachricht. Über deren Inhalt muss man nicht lange spekulieren.
Die jugendfreie Version machte Wolodimir Selenski kurz darauf auf einem Nachrichtenkanal öffentlich: Jetzt sei es an der Zeit, auch die Ukraine mit derselben Einigkeit zu unterstützen wie Israel. Einigkeit sei nicht nur möglich, sondern «hundertprozentig wirksam». Nicht verkneifen konnte er sich den Hinweis, dass die Ukraine wie Israel nicht Mitglied der Nato sei. Die versteckte Botschaft: Warum werden Verbündete des Westens unterschiedlich behandelt? Warum gibt es in der Unterstützung der Ukraine so wenig Einigkeit?
Nun legt der ukrainische Aussenminister nach. Kuleba, der den Ruf grösster Besonnenheit geniesst, empfängt uns in seinem Amtssitz gleich neben dem Michaelskloster in Kiew und vergeudet keine Zeit: «Wir stehen am Rande eines Kriegs in der Europäischen Union», warnt er. «Dieser Krieg kann noch immer verhindert werden, aber nur, wenn die Ukraine die nötigen Waffen und die Munition dafür erhält – jetzt und schnell, nicht später.»
Mehrere europäische Länder haben Patriots
In Sachen Luftverteidigung gibt es dafür eine simple Zahl: «Wir benötigen mindestens sieben weitere Patriot-Batterien, um unsere Städte und die Wirtschaftszentren vor der Zerstörung zu bewahren», sagt Kuleba und schiebt gleich eine Botschaft nach Berlin hinterher. «Wir sind dankbar für die Entsendung einer zusätzlichen Patriot-Batterie aus Deutschland, überhaupt für die enorme Hilfe insgesamt.» Deutschland gebe «ein exzellentes Vorbild ab, dem die anderen folgen können». Die anderen – da hat die Ukraine faktisch die halbe Nato und vor allem die USA im Blick.
Tatsächlich wurden die Patriots bisher an 19 Nationen ausgeliefert, nicht alle davon Nato-Mitglieder. 240 Abschusseinrichtungen sind laut Hersteller im Einsatz. 2 oder 3 dieser Startgeräte bilden zusammen mit dem Radar und einer Feuerleitstelle eine Batterie. Die USA halten mit Abstand das grösste Arsenal vorrätig. Aber neben Deutschland sind es in Europa Spanien, Rumänien, die Niederlande, Griechenland, Schweden und Polen, die auf das System vertrauen. Genaue Bestandszahlen lassen sich schwer ermitteln.
In ihrer Verblüffung über den Stolz der Luftverteidiger an der Seite Israels stellt die Ukraine nun in Person ihres Aussenministers eine simple Frage: «Die einfachste und schnellste Antwort auf die russischen Luftangriffe ist die Luftverteidigung. Warum ist es so schwer, sieben Patriot-Batterien zu finden?»
10 Patriot-Systeme für halbwegs flächendeckenden Schutz
Die aus ukrainischer Sicht schnellste Lösung steht an der Grenze zu Polen bereit. Der Flughafen Rzeszow östlich von Krakau ist der wichtigste Umschlagplatz für die Militärhilfe aus dem Westen, allein hier stehen 2 Batterien zum Schutz vor russischen Angriffen. In der Ukraine sind nur 3 Batterien im Einsatz, abgetreten von Deutschland und den Niederlanden.
Der Vorschlag aus Kiew: Eine der polnischen Batterien könnte in den Westen der Ukraine verlegt und von ukrainischen Flugabwehrsoldaten betrieben werden. Damit würde nicht nur der Flugplatz auf der polnischen Seite, sondern auch grosse Teile im Westen des Landes inklusive der Stadt Lwiw geschützt.
Nach Schätzungen aus dem ukrainischen Verteidigungsministerium und dem Nationalen Sicherheitsrat benötigt das Land mindestens 10 Systeme für einen halbwegs flächendeckenden Schutz. Für eine umfassende Abwehr wären 26 Systeme nötig.
Die westliche Unterstützung Israels hat in Kiew ein neues Gefühl der Ungleichbehandlung und der Perspektivlosigkeit ausgelöst. Grund ist das seit Wochen anhaltende Bombardement vorwiegend der Stadt Charkiw und anderer Bevölkerungszentren in Frontnähe durch die russischen Angreifer. Auch Kiew ist trotz seiner massiven Luftverteidigung fast täglich Ziel von Angriffen.
Hochrangige Gesprächspartner aus dem Präsidialamt, dem Verteidigungsministerium und dem Nationalen Sicherheitsrat sprechen von der härtesten Phase des Kriegs seit der Eröffnungsoffensive vor zwei Jahren. In dieser Situation fühlt sich die Ukraine von ihren Verbündeten alleingelassen.
Anhaltende Bitten nach Munitionslieferungen wurden bislang nicht erfüllt. Die weitere Finanzierung des Kriegs hängt momentan von einer Entscheidung des US-Repräsentantenhauses ab, wo 60 Milliarden Dollar auf ihre Freigabe warten. Auch an anderer Stelle ist die Hilfe ins Stocken geraten: Die bisher von Tschechien in grosser Geste angekündigte Beschaffung von 500’000 Schuss Artilleriemunition sind nach ukrainischen Angaben bislang nicht angekommen.
Unterdessen rüstet Russland auf
Unterdessen verschlechtert sich die Lage der Verteidiger immer mehr. Nach Angaben des ukrainischen Verteidigungsministeriums, die von westlichen Nachrichtendiensten ähnlich bestätigt werden, verfügt die russische Seite inzwischen über 6400 Drohnen, nahezu doppelt so viele wie vor einem Jahr.
Zwar würden bei den russischen Streitkräften dreimal so viel Mann und Munition aufgerieben wie bei den ukrainischen Streitkräften. Dafür ist der Nachschub an Mann und Material deutlich gewachsen und ersetzt nicht nur die Verluste, sondern steigert sogar das Angriffspotenzial. Die ukrainische Aufklärung geht von einer massiven Bodenoffensive in den kommenden Wochen aus, um der russischen Führung einen Triumph zum Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs am 9. Mai zu liefern.
Der sonst so besonnene Kuleba drückt sein Unverständnis inzwischen schonungslos aus: «Luftverteidigung wäre der leichteste Weg, um zu helfen. Viel leichter, als wenn Sie eines Tages selbst kämpfen müssten.» Und dann hält er noch einen Ratschlag mit Blick auf den Kriegsherrn im Kreml bereit, der die Verbündeten in ihrer Entscheidung leiten soll: «Wir können unterschiedlicher Meinung sein, profitieren wird Putin nur von unserer Angst.»
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