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Militärexperte erklärt Lage in Charkiw
«Dann muss die Ukraine weiter zurückweichen»

Ukrainian workers build the fortification line of defence in the Kharkiv region, Ukraine, Thursday, March 21, 2024. Ukraine is building three lines of defence extending 2000 kilometres amid the Russian invasion of Ukraine, President Volodymyr Zelenskyy has said.(AP Photo/Efrem Lukatsky)
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In einer Stadt zu leben, auf die fast jeden Tag Bomben und Raketen fallen, für die Menschen in Charkiw ist dieser Horror ihr Alltag. Seit Mitte Dezember beschiessen die russischen Truppen Charkiw mit so vielen Marschflugkörpern und Drohnen wie noch nie seit Kriegsbeginn.

Seit Ende März werden auch verstärkt Gleitbomben mit gewaltiger Zerstörungskraft eingesetzt. Wie in den anderen Teilen des Landes ist auch in der zweitgrössten Stadt der Ukraine vor allem die Energieinfrastruktur das Ziel, immer wieder fällt der Strom aus, aber auch Wohnhäuser werden getroffen. Es gibt Verletzte und Tote. Und selbst die Helfer, die den Opfern zu Hilfe eilen, können sich nicht mehr sicher fühlen.

Denn die russischen Invasoren haben die mörderische Taktik des Terrors aus der Luft in ihrer Brutalität noch einmal gesteigert. Durch viele Augenzeugenberichte ist bestätigt, dass immer öfter 30 bis 40 Minuten nach dem ersten Angriff eine zweite Rakete oder Drohne auf dasselbe Ziel abgefeuert wird. Dann nämlich, wenn die Rettungskräfte eingetroffen sind.

«Double tap», Doppelschlag, werden diese perfiden Angriffe genannt. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski glaubt, dass die Stadt unbewohnbar gemacht werden soll, die Bewohner sollen zur Flucht gezwungen werden. «Es ist offensichtlich, dass die Luftverteidigungskapazitäten, die wir haben, nicht ausreichen», sagt er. Und sein Aussenminister Dmitro Kuleba fordert von den westlichen Partnern: «Gebt uns endlich diese verdammten Patriots.»

F-16-Kampfflugzeuge sind noch nicht einsatzbereit

Gegen die Angriffe aus der Luft kann Charkiw derzeit kaum geschützt werden. Zu wenige Luftabwehrsysteme vom leistungsstarken Typ Patriot hat die Ukraine bislang bekommen, die F-16-Kampfflugzeuge sind noch nicht einsatzbereit. Das nutzt der russische Präsident Wladimir Putin aus. Charkiw, nur 20 Kilometer von der Grenze entfernt, hat für Russland nicht nur einen strategischen, sondern auch einen hohen symbolischen Wert.

Seit die russische Armee 2022 beim Versuch, die Stadt zu erobern, spektakulär scheiterte, steht sie für eine der grössten russischen Niederlagen des Krieges. Jetzt will Putin dort die eigene Übermacht unter Beweis stellen.

Firefighter's vehicle is seen on fire after Russian drone strikes on residential neighborhood in Kharkiv, Ukraine, on Thursday, April. 4, 2024. (AP Photo/George Ivanchenko)

Kurz nachdem er von der Schaffung einer demilitarisierten «Pufferzone» entlang der russischen Grenze gesprochen hatte, wurden in Russland Gerüchte gestreut, dass Charkiw das Ziel einer kommenden Bodenoffensive sein könnte. Über Pläne, die Stadt erneut auch mit Bodentruppen anzugreifen, sie zu umzingeln, berichteten russische Medien tagelang.

Dabei erscheint eine solche Operation für die russische Armee gegenwärtig nicht durchführbar. Die Stadt ist heute besser befestigt als 2022. Östlich der Stadt, zehn Kilometer von der russischen Grenze entfernt, baut die Ukraine die sogenannte «Linie 1», Verteidigungsstellungen mit Schützengräben, Bunkern und Panzersperren.

Und bis zur Front im Osten sind es noch etwa 90 Kilometer, auch hier wurden in den vergangenen Monaten starke Befestigungen errichtet. Ein Durchbruch bis Charkiw ist deshalb zumindest in den kommenden Monaten kaum möglich.

Die Drohungen seien aber Teil der russischen psychologischen Kriegsführung im Informationsraum, glaubt Markus Reisner, Oberst des österreichischen Bundesheeres und Ukraine-Experte. Die Botschaft an den Westen und in die Ukraine: Seht her, wir sind so überlegen, dass wir selbst eine Grossstadt wie Charkiw mit ihren 1,5 Millionen Einwohnern ins Visier nehmen können. Doch gleichzeitig warnt Reisner: «Wenn sich günstige Momente ergeben, dann werden die Russen diese nutzen. Das Gefechtsfeld ist sehr dynamisch.»

OBERST MARKUS REISNER, KOMANDANT GARDE, OBERST DES GENERALSTABSDIENSTES, ÖSTERREICHISCHES BUNDESHEER

Tatsächlich ist die Lage für die ukrainischen Streitkräfte zurzeit äusserst schwierig. «2024 ist für die Ukraine das Jahr der Defensive», sagt Reisner. Man versuche, keine weiteren Gebiete zu verlieren, Verteidigungsstellungen auszubauen und gleichzeitig mit weitreichenden Drohnen «in die Tiefe Russlands zu schlagen». Doch der russische Druck ist immens, immer wieder gelingen den russischen Streitkräften Einbrüche entlang der Front.

Bislang können sie diese nicht zu grossen Durchbrüchen ausweiten. Doch das muss nicht so bleiben. «Wenn die Ukraine nicht mehr Ressourcen bekommt, dann muss sie weiter zurückweichen», sagt Reisner. Immer noch ist vor allem die Unterlegenheit bei der Artilleriemunition ein Problem für die Ukraine. Das Schussverhältnis beträgt 6 zu 1, teilweise 10 zu 1 zugunsten der russischen Armee.

Und die schwierigste Phase in diesem Jahr dürfte für die Ukraine erst noch kommen. Viel deutet darauf hin, dass die aktuellen Angriffe vor allem der Vorbereitung auf eine grosse russische Offensive dienen, die Ende des Frühjahrs oder im Sommer kommen könnte.

Schickt Russland weitere 300’000 Soldaten?

Markus Reisner verweist in dem Zusammenhang darauf, dass zu den 500’000 russischen Soldaten, die jetzt bereits in der Ukraine kämpfen – nur 190’000 waren an der Invasion 2022 beteiligt – in den kommenden Wochen und Monaten wohl «weitere 300’000 Soldaten zulaufen werden».

Eine solch grosse Zahl an Soldaten habe, vorausgesetzt, sie würden gut ausgerüstet, «ein gewaltiges Offensivpotenzial». Dem etwas entgegenstellen zu können, darauf bereitet sich die Ukraine gerade unter grössten Anstrengungen vor. Doch vor allem die ausbleibenden Waffen- und Munitionslieferungen aus den USA stellen das Land vor Probleme.

Derzeit greifen die russischen Streitkräfte hauptsächlich an fünf Stellen der Front an. Und testen so die ukrainische Verteidigung. Sie versuchen, «weiche Stellen» zu identifizieren, «an denen man tiefer vorstossen könnte», wie Reisner sagt. Die Ukraine müsse aus diesem Grund ständig Reserven über teilweise grosse Distanzen verlegen. «Mit der Zeit werden die ukrainischen Streitkräfte so abgenützt.»

Deshalb sei auch der Eindruck falsch, dass sich im Moment an der Front nichts tue, erklärt der Militärexperte. Bei einem solchen Abnützungskrieg bewege sich vielmehr «der Zählerstand der Ressourcen von beiden Seiten Richtung null». Wenn eine Seite an einem Abschnitt dann tatsächlich keine Ressourcen mehr habe, «kann alles sehr schnell gehen». Dann könne es zu einem «Dammbruch-Effekt» kommen. Die Folge wäre ein russischer Vorstoss, der kaum mehr zu stoppen ist.