Permanente Beschallung Wieso immer mehr junge Menschen von Gehörverlust bedroht sind
Unsere Welt ist zu laut, zu diesem Schluss kommen mehrere neuere Studien zum Thema Schwerhörigkeit. Die WHO sagt voraus, dass bis zum Jahr 2050 jeder Vierte von einer Form von Gehörverlust betroffen sein könnte. Stefan Weder, Co-Leiter des Hörimplantate-Zentrums am Inselspital, ordnet ein.
Die meisten denken sich nicht gross was dabei: Im Club oder in der Bar ist es laut, und man muss selber laut reden, manchmal fast schon schreien, um seinem Gegenüber etwas mitzuteilen. Manchmal versteht man trotzdem nicht, was gerade gesagt wurde. Hinzu kommen lauter Verkehrslärm, stark aufgedrehte Musik im Kleiderladen, der hohe Geräuschpegel im Zug, die Musik über Airpods.
Unser Gehör kann sich nie wirklich erholen, sogar während des Schlafes ist es permanent aktiv, um mögliche Gefahren rechtzeitig erkennen zu können. Bei der Geburt besitzen wir rund 15’000 Haarzellen in jedem Ohr. Sie wandeln die Schwingungen des Schalls in akustische Signale um. Mit dem Alterungsprozess oder einer übermässigen Belastung sterben immer mehr der Haarsinneszellen ab. Sie wachsen nicht mehr nach.
Eine Studie, die im November 2022 im «British Medical Journal Global Health» veröffentlicht wurde, geht davon aus, dass 50 Prozent der 12- bis 34-Jährigen weltweit aufgrund ungesunder Hörgewohnheiten von Hörverlust bedroht sind. Dabei spielt der unsachgemässe Gebrauch von Kopfhörern eine entscheidende Rolle: Sie werden zu lange in Umgebungen gebraucht, die ohnehin bereits sehr laut sind, und sie werden zu nahe am Gehörgang getragen.
Stefan Weder, Co-Leiter des Hörimplantate-Zentrums am Inselspital, betont, dass Aufklärungsprogramme entscheidend sind, um junge Erwachsene über die Risiken von Lärmbelastung zu informieren. «Da auch moderate Lautstärken bei langer Dauer das Innenohr belasten können, ist ein bewusster Umgang mit Musikgenuss in der Freizeit wichtig.» Die Aufklärung könne durch Informationsveranstaltungen an Schulen und Ausbildungsstätten erfolgen.
Der letzte Bericht des Schweizer Gesundheitsobservatoriums von 2022 zeigt bis jetzt noch keine Zunahme von Hörstörungen bei jungen Erwachsenen in der Schweiz auf, wie Weder ausführt. Dieser Aspekt müsse in zukünftigen Untersuchungen aber detaillierter betrachtet werden.
Unsere Welt ist zu laut
Die längerfristige Überbelastung unseres Gehörs kann zu sogenanntem verdecktem Hörverlust und dann Schwerhörigkeit führen, was sich nur schleichend bemerkbar macht. Schuld sind unsere immer lautere Umwelt und der Lebensstil: Der Verkehr auf der belebten Strasse einer Stadt kann rasch eine Lautstärke von 60 Dezibel (dB) erreichen, in einem gut besuchten Restaurant sind 80 dB nicht selten. Das Geräusch eines Motorrads liegt bei 90 dB und die Musik in einem Nachtclub bei 100 dB oder mehr.
Die WHO prognostiziert, dass bis zum Jahr 2050 etwa 2,5 Milliarden Menschen auf der Welt – etwa jede vierte Person – von Hörverlust betroffen sein werden, wobei fast 700 Millionen mit einem mittleren oder höheren Grad an Gehörverlust auf dem besser hörenden Ohr leben werden. Dabei spielen neben Gehörschäden durch zu lauten Schall auch der mangelhafte Zugang zu Gesundheitsversorgung und die fehlende Behandlung von Gehörerkrankungen eine entscheidende Rolle.
Die Sinneszellen des Innenohrs können irreparabel geschädigt werden, wenn sie mehr als vierzig Stunden pro Woche einer Schallintensität von über 80 Dezibel ausgesetzt sind. Wird solch eine übermässige Belastung für einen längeren Zeitraum aufrechterhalten, setzt eine Altersschwerhörigkeit (Presbyakusis) ein, die eigentlich erst im höheren Alter beginnen sollte. Bei Tönen, die 120 Dezibel oder lauter sind, kann es bereits durch einzelne Vorfälle zu bleibenden Hörschäden kommen.
Verdeckter Hörverlust und geschädigte Hörnerven
Das Tückische am Gehörverlust ist, dass er sich meist nur langsam bemerkbar macht und die Schäden nicht mehr umkehrbar sind, wenn sie offenkundig werden: Zuerst hat jemand vielleicht nur Mühe, in lauten Umgebungen Gespräche zu verstehen. Bei einem Gehörtest wird einem immer noch die volle Gehörleistung attestiert. Solch ein Befund kann aber trügerisch sein. Neuere Forschung weist darauf hin, dass durch die übermässige Belastung unseres Gehörs nicht nur die Haarsinneszellen, sondern auch die Hörnerven geschädigt werden können.
Sharon Kujawa und Charles Liberman von der Harvard Medical School konnten aufzeigen, dass die Hörnerven, welche Signale von den Haarsinneszellen zum Gehirn leiten, bei mittelstarker Lärmbelastung anfälliger für Lärmschäden sind als die Haarsinneszellen selbst. Hinzu kommt, dass nicht alle Nervenfasern gleichermassen geschädigt werden. Für verschiedene Lautstärkegerade gibt es verschiedene Nervenfasern: für leise, mittlere und laute. Diejenigen, die laute Töne verarbeiten, sind am anfälligsten für Schäden.
Die neuen Erkenntnisse liefern wichtige Hinweise, um Gehörverlust und auch Tinnitus besser zu verstehen. Sie erklären, wieso Menschen mit vermeintlich normalem Gehör in lauten Umgebungen Probleme haben, Gespräche zu verstehen. Die Forscher gehen davon aus, dass bei den Betroffenen die Hörnerven, die auf leise Töne reagieren, intakt sind, hingegen die Nervenfasern, die auf laute Töne spezialisiert sind, geschädigt wurden. Ein solcher Hörschaden wird verdeckter Gehörverlust oder Hidden Hearing Loss genannt. Die betroffenen Personen haben gemäss Hörtest ein intaktes Gehörvermögen.
Für Stefan Weder vom Inselspital stellt verdeckter Gehörverlust eine diagnostische Herausforderung dar: «Wir müssen feinere diagnostische Werkzeuge entwickeln, um diese Innenohrschädigungen festzustellen.»
Die Forscher fanden weiter heraus, dass Personen mit Tinnitus, aber normalen Ergebnissen bei Hörtests eine geringere Aktivität in den Nerven aufweisen, die vom Ohr zum Gehirn führen, als Menschen ohne Tinnitus. Dies weist darauf hin, dass das Gehirn weniger Input durch die Nerven erhält, welche für laute Geräusche zuständig sind, und das Hirn darauf mit der Erzeugung des Phantomgeräuschs Tinnitus reagiert.
Hörnerven nachwachsen lassen
Bisherige Modelle zu Gehörverlust durch Lärmeinwirkung und Alterung gingen davon aus, dass Schwerhörigkeit das Resultat von geschädigten Haarsinneszellen im Innenohr ist. Die Regeneration von geschädigten Nervenfasern, welche das Innenohr mit dem Gehirn verbinden, könnte allerdings deutlich einfacher zu bewerkstelligen sein als das Nachwachsen der Haarsinneszellen, was bereits seit längerem erforscht wird.
Tierversuche haben aufgezeigt, dass bei starker Lärmeinwirkung zuerst die Synapsen der Hörnerven geschädigt werden. Die Zellkörper sowie die zweite Hälfte der Nervenfaser, die weiter zum Gehirn führt, können hingegen für Jahrzehnte funktionsfähig bleiben, wie Stéphane Maison, Professor für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde an der Harvard Medical School, anlässlich der Veröffentlichung neuer Forschungsergebnisse mitteilte.
Forscher versuchen nun, die noch intakten Fasern und Synapsen durch natürliche Signalmoleküle, sogenannte Neurotrophine, zum Nachwachsen zu bringen. Im Ohr hat man sich auf eine Neurotrophin-Art konzentriert, die normalerweise die Synapsenbildung im Ohr von sich entwickelnden Embryonen fördert, wie Gehörspezialist Gabriel Corfas von der Universität Michigan gegenüber der Wissenschaftszeitschrift «New Scientist» erklärte.
Eine Schwierigkeit im Bestreben der Forscher besteht darin, dass Neurotrophine grosse Eiweissmoleküle sind, die sich nur schwer zum gut geschützten Innenohr bringen lassen. Corfas und seine Kollegen nutzten darum Gentherapien, um das Wachstum von Synapsen zu fördern. In einem Experiment gelang es ihnen, Mäusen mehr neuronale Verknüpfungen als üblich nachwachsen zu lassen, wodurch die Tiere ein überdurchschnittliches Gehör erhielten.
Prävention ist besser als eine Therapie
Das französische Unternehmen Cilcare entwickelt mehrerer Medikamente, welche die Produktion von Neurotrophinen im Innenohr auslösen sollen. Die Biotechfirma will nächstes Jahr mit einer Studie an Menschen mit verstecktem Hörverlust, mit oder ohne Tinnitus, beginnen.
Für Stefan Weder ist diese Forschungsrichtung vielversprechend, sie befindet sich aber noch im Anfangsstadium: «Viele Fragen müssen geklärt werden wie beispielsweise, bei welchen spezifischen Hörstörungen eine medikamentöse Therapie helfen könnte, welche Substanzen ein gutes Nutzen-Risiko-Verhältnis haben und wie die Medikation effektiv ins Innenohr gelangt.»
Es sei zu erwarten, dass die Forschungsbemühungen in diesem Bereich in den kommenden Jahren intensiviert würden. Wie in vielen Bereichen der Medizin gelte jedoch auch hier der Grundsatz: Prävention ist besser als eine Therapie.
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