Tinnitusforschung Permanenter Pfeifton im Kopf – das sind die neusten Erkenntnisse
Mithilfe von KI haben Wissenschaftler zwei neuronale Vorgänge identifiziert, deren fehlerhaftes Zusammenspiel wahrscheinlich Tinnitus auslöst. Tinnitus-Experte Tobias Kleinjung ordnet ein.
Für rund 15 Prozent der Weltbevölkerung ist es der Normalzustand: ein permanentes Rauschen, Pochen, Pfeifen oder Klingeln im eigenen Kopf zu hören. Je nach Stärke des Geräuschs kann es die Lebensqualität der Betroffenen stark einschränken und zu Schlaf- sowie auch Konzentrationsproblemen und Depressionen führen.
Über die Ursachen für die Entstehung des Phantomgeräuschs weiss man relativ viel: Oft ist eine Schädigung der Haarzellen im Innenohr, welche die mechanischen Impulse der Gehörknöchelchen in elektrische Nervensignale umwandeln, die Ursache. Dies geschieht durch zu starke Lärmbelastung oder Alterung. Aber auch chronischer Stress, Ohreninfektionen, Kopf- und Nackenverletzungen oder gewisse Pharmazeutika wie Krebsmedikamente oder Antibiotika können an der Tinnitusentstehung beteiligt sein.
Tinnitus als Vorhersagefehler
Was das permanente Rauschen oder Pfeifen aber effektiv verursacht, ist bis heute nicht im Detail geklärt. Bis jetzt gab es zwei grosse Theorieansätze: Das erste Modell, die sogenannte Deafferenzierungstheorie, besagt, dass Tinnitus das Resultat eines eingeschränkten Signalflusses zwischen Ohr und Hirn ist, in der Regel in Form eines Gehörverlusts. Da unser Hirn nicht passiv Sinneseindrücke aufnimmt, sondern mithilfe der Erinnerung permanent Vorhersagen über die unmittelbare Zukunft macht und diese mit den effektiven Sinnesreizen abgleicht, ist das Tinnitusgeräusch gemäss diesem Erklärungsmodell ein Vorhersagefehler.
Das Hirn geht auf Nummer sicher und lässt jenen Frequenzbereich, der vor dem Gehörverlust immer vorhanden war, aus der Erinnerung wieder aufleben. Ein Phantomgeräusch entsteht. Die Vorhersagen für Sinnesreize sind deshalb notwendig, weil deren Verarbeitung zu einer Wahrnehmung etwa dreihundert Millisekunden dauert. Ohne würden wir der Realität leicht hinterherhinken. Die Schwäche dieses Modells besteht darin, dass es nicht erklären kann, warum manche Menschen ohne Hörverlust Tinnitus entwickeln, während umgekehrt andere mit Hörverlust keinen Tinnitus haben.
Tinnitus als mangelhafte Rauschunterdrückung
Das zweite Erklärungsmodell der fehlerhaften Geräuschunterdrückung, das von Neurowissenschaftler Josef Rauschecker entwickelt wurde, geht davon aus, dass Tinnitus das Resultat einer gestörten Lautstärkeregelung und Rauschunterdrückung unseres Gehirns ist. Demnach ist Tinnitus eigentlich bei allen Menschen vorhanden und entspricht der normalen Aktivität der Nervenzellen in unseren Hörbahnen. Wenn wir Stille ausgesetzt sind, kommt es zu einer Anpassung des Gehörs auf die veränderte akustischen Umgebung. Bei Experimenten konnte aufgezeigt werden, dass in schalldichten Räumen über 90 Prozent der Versuchspersonen anfingen, ein Phantongeräusch wahrzunehmen.
Bei Personen mit chronischem Tinnitus wird dieses eigentlich natürliche Betriebsgeräusch des Gehörs nun permanent übertrieben laut wahrgenommen. Auch nimmt das Gehör aller Menschen mit zunehmendem Alter ab, da durch den Alterungsprozess ein natürlicher Abbau von Haarzellen im Innenohr stattfindet. Dieser schleichende Hörverlust führt aber nur bei einem Teil der Menschen zu Tinnitus, beim anderen wird der Ton durch die Rauschunterdrückung des Gehirns ausgeblendet.
Neues Modell: Kombination aus Top-down und Bottom-up
Das neue Modell der Forschergruppe um Neurowissenschaftler Achim Schilling vom Uniklinikum Erlangen baut auf dem ersten Theorieansatz auf, der auch als prädiktive Codierung bezeichnet wird. Die Wissenschaftler machten sich dabei künstliche Intelligenz zur Analyse der bestehenden Forschungsansätze zunutze. Sie kamen zum Schluss, dass der Vorhersagefehler, der im Hirn und damit am Ende des Hörprozesses stattfindet, durch einen zweiten Prozess, der im Gehör selbst entsteht, ergänzt werden muss.
Dabei handelt es sich um ein Verstärkerrauschen, das die Aktivität von Nervenzellen entlang der Hörbahn durch Hinzufügen von neuronalem Rauschen intensiviert, um leise Geräusche besser wahrzunehmen und den bei Tinnitus oft diagnostizierten Hörverlust in gewissen Frequenzbereichen auszugleichen. Dies geschieht gemäss den Forschenden in der Regel aufgrund einer beschädigten Hörschnecke. «Die Idee hinter dem Modell ist, dass ein unterschwelliges Signal – von einer beeinträchtigten Cochlea – über die Erkennungsschwelle angehoben wird, indem neuronales Rauschen hinzugefügt wird», wie die Wissenschaftler schreiben. Es handelt sich daher um einen Kompensationsmechanismus, der darauf abzielt, ein normales Hörvermögen wiederherzustellen.
Der neue Erklärungsansatz geht davon aus, dass das Verstärkerrauschen vom vorausschauenden Teil des Gehirns irrtümlich als realer Hörreiz interpretiert wird. Das Tinnitusgeräusch kommt daher durch die Kombination von Top-down- und Bottom-up-Prozessen im Hirn und der Hörbahn zustande. Die Ergebnisse der Forscher sind nicht nur für das Verständnis von Tinnitus von Bedeutung, sondern geben auch Aufschluss über Prozesse des alltäglichen Hörens.
Noch unklare klinische Anwendung
Für Tobias Kleinjung, leitender Arzt und Leiter der Tinnitussprechstunde am Universitätsspital Zürich, sind die neuen Erkenntnisse neurowissenschaftlich hochinteressant und stellen einen Schritt in die Richtung eines ganzheitlichen Tinnitusmodells dar, wie er gegenüber dieser Redaktion erklärt. Durch die Techniken der künstlichen Intelligenz seien noch weitere Fortschritte in dieser Richtung zu erwarten. Es bleibe allerdings unklar, wie diese eher theoretischen Modelle dann auch auf die klinische Praxis angewandt werden könnten. Das Ziel sei es ja schliesslich, Therapien zu entwickeln, welche das Tinnitusgeräusch ausschalten oder im Idealfall zumindest doch deutlich leiser machen können.
Da Tinnitus verschiedene Ursachen haben kann, herrscht inzwischen der Konsens vor, dass es nicht nur eine Behandlung für alle verschiedenen Subtypen des Phantomgeräuschs geben kann. Die immer noch nicht gelöste Fragestellung ist, wie man diese Subtypen in der Praxis durch möglichst einfache Tests voneinander unterscheiden kann.
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