Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen

Volksplage Tinnitus
Mein nerviger Dauergast

Letzte Hoffnung Musiktherapie: Der Autor beim Abhören der App «Tinnitus Music Player». 
Jetzt abonnieren und von der Vorlesefunktion profitieren.
BotTalk

Tinnitus? Natürlich war mir der Begriff bekannt: Als Symptom, das Rockmusiker ereilt, die ihren lauten Sound Mal für Mal ans oberste Limit treiben – und manchmal auch darüber hinaus.

Mir, der solche Events nur selten besucht (und wenn, dann mit Ohrstöpseln bewaffnet), würde so was bestimmt nicht passieren. Dachte ich.

Böses Erwachen

Bis ich vor eineinhalb Jahren völlig unvermittelt mehrmals hintereinander mit einem giftigen Pfeifton im Ohr aufwachte: Tinnitus, da bin ich! Objektiv nicht messbar, aber subjektiv überdeutlich hörbar. Und zu meinem Entsetzen nicht abstellbar – weder mit Manipulationen am Ohr noch durch ein bestimmtes Verhalten.

Und je häufiger ich seitdem den eigenen Tinnitus erwähne, desto öfter vernehme ich von Gesprächspartnern, dass sie ebenfalls betroffen sind. Tatsächlich bin ich nicht allein: Fachleute gehen von 10 Prozent in der Schweizer Bevölkerung aus, also rund 800’000 Menschen, die eigene Tinnitus-Erfahrungen haben. Ein verblüffend hoher Anteil.

Wenn es einmal so weit ist, beginnt die Suche nach Linderung und Gegenmassnahmen. Erste Anlaufstelle ist typischerweise ein Hals-Nasen-Ohren-Arzt – so auch für mich. Der machte einen Hörtest: Dabei fiel auf, dass die Hörkurve meines linken Ohrs bei rund 4500 Hertz einen Knick hat. In dieser Gegend, so seine Folgerung, müsse meine Tinnitus-Frequenz liegen.

Eine verwegene Behauptung: Eigene Vergleichsmessungen mit einer App hatten ein Resultat von rund 9000 Hertz ergeben. Aber bis in diese Tonhöhe geht die Apparatur der meisten HNO-Ärzte gar nicht.

Zum Vergleich: Schon seit vielen Jahren decken selbst die billigsten Musikanlagen für den Heimgebrauch ein grösseres Frequenzspektrum ab.

Egal: Der HNO-Arzt riet mir, möglichst wenig an den Tinnitus zu denken, da sich dieser dadurch nur verschlimmere, und sehr ruhige Umgebungen zu meiden, weil dort das Störgeräusch markant deutlicher wahrnehmbar sei. Leider gebe es – entgegen unlauteren Werbeversprechen – kein Allerweltsmittel und auch kein Medikament, welches das Übel wirksam lindern könnte.

Viele Ursachen möglich

Tatsächlich ist Tinnitus ein Geräusch, das man wahrnimmt, weil es vom Gehirn nicht oder nicht mehr herausgefiltert wird. Die Ursachen dafür können vielfältig sein: Neben der bereits erwähnten übermässigen Lärmbelastung etwa ein Hörsturz (plötzlicher, meist einseitiger Hörverlust), Ohr-Erkrankungen, mechanische Störungen im Hals, Nacken oder Kiefer, Schädel-Hirn-Traumata, aber auch emotionale Überbelastung.

Wer den Tinnitus neu als Dauergast erlebt, ist bald einmal am Verzweifeln: Wie soll man denn einen Störsender, der total nervt, einfach ausblenden oder gar vergessen? Je mehr man das versucht, desto präsenter und grösser wird das Problem – ein wahrer Teufelskreis.

«Kaum freut man sich über das Ausbleiben des nervigen Geräuschs und umarmt schon die halbe Welt, meldet sich der Störsender zurück.»

Felix Weber

Kommt dazu, dass sich die zugehörigen Mechanismen kaum einordnen lassen. Denn zwischen dem Tinnitus-Erlebnis und dem eigenen Verhalten gibt es praktisch nie einen kausalen Zusammenhang: Mal ist das Pfeifen kaum zum Aushalten, mal deutlich leiser und zwischendurch auch mal fast nicht wahrnehmbar – und dies alles ohne erkennbare Gründe.

Bloss eins ist klar: Kaum freut man sich über das weitgehende Ausbleiben des nervigen Geräuschs und umarmt schon die halbe Welt, meldet sich der Störsender prompt zurück. Ein Rätsel ist auch, weshalb der Tinnitus nachts und nach dem Aufwachen deutlich lauter ist als tagsüber. Aber man darf – oder vielmehr muss – ja froh sein, dass man mit dem Pfeifton im Ohr überhaupt schlafen kann.

Meine nächste Anlaufstelle war Swiss Tinnitus in Sarnen, laut eigenen Angaben das «führende Kompetenzzentrum der Zentralschweiz». Erneuter Hörtest (dieses Mal mit einer Apparatur, die auch hohe Frequenzen abdeckt und meinen eigenen Befund grosso modo bestätigte) plus drei Ratschläge: erstens, mit Physiotherapie allfällige mechanische Tinnitus-Auslöser zu bekämpfen; zweitens mit einem entsprechend programmierten Hörgerät den Knick in der Hörkurve zu kompensieren und so zu versuchen, das hörverarbeitende System wieder an den Normalzustand zu gewöhnen; und drittens, mich mithilfe einer App, die beruhigende Geräusche abspielt, vom Tinnitus abzulenken.

Bachgeplätscher und Landregen

Zwei Monate später: Das Hörgerät brachte keinen erkennbaren Fortschritt, sondern nervte vielmehr durch das komplizierte Handling in Kombination mit Brillen und Corona-Masken. Also gab ich das doch recht teure Ding nach der Probezeit retour.

Auch die Physiotherapeutin – meine nächste Station – konnte meinen Tinnitus nicht wegzaubern, mir aber immerhin gute Lockerungsübungen zeigen für Nacken und Kiefer sowie eine gesündere Schlafposition als jene des notorischen Bauchschläfers.

Am meisten geholfen hat mir in jener Phase aber das Abspielen von Bachgeplätscher oder Landregen – inzwischen sind die ein fixer Bestandteil meiner nächtlichen Geräuschkulisse geworden.

Ärger, Stress und ein ständiges Leben auf der Überholspur sind laut einhelliger Meinung Gift für alle Tinnitus-Betroffenen. Ergo geht es für sie darum, ihr überstrapaziertes System herunterzuregeln. Typische Ansätze dafür sind Meditation oder Therapieformen wie Akupunktur, Osteopathie oder das technikgestützte Neuro- und Biofeedback – alles hab ich versucht. Meine Erfahrungen: Der Tinnitus war zumindest zeitweilig deutlich leiser. An welcher Therapie das jeweils lag, war allerdings nie klar.

Das Gehirn umtrainieren

Bleiben noch jene Techniken, die beim eigentlichen Hören ansetzen und spezifisch jene Hirnregion beeinflussen sollen, die den ganzen Wust von neuronalen Hörsignalen in Töne umsetzt. Fakt ist, dass der Tinnitus bei uns Betroffenen als Grundrauschen präsent ist, aber im Normalfall vom Gehirn herausgefiltert wird. Wenn wir ihn hören, ist das ein Symptom einer unerwünschten Veränderung im hörverarbeitenden System.

Die Techniken, die theoretisch nachgewiesen, in der praktischen Umsetzung aber noch nicht ausgereift sind, zielen darauf ab, dem Gehirn diese Veränderung durch gezielte Beeinflussung der entsprechenden Neuronen wieder abzutrainieren.

Warten auf ein «Wundermittel»

Hilfreiche Technik: Mit einer App soll das Gehirn umtrainiert werden.

Die Rede ist von akustischen Beschallungen, die via Handy-App abgespielt werden. Davon sind zwei besonders erwähnenswert: Bei der ersten Technik wird das eigene Tinnitus-Geräusch möglichst getreu simuliert und für kurze Zeit lauter abgespielt als dieses. Stoppt man dann die Wiedergabe, setzt auch der Tinnitus aus (oder wird zumindest leiser). Das Phänomen heisst «Residual Inhibition» und ist Ansatzpunkt für eine Geräuschtherapie.

Bei der zweiten Technik wird Musik abgespielt, die der Tinnitus-Betroffene gerne hört – wobei die Töne eng um die Tinnitus-Frequenz herausgefiltert werden. Studien haben gezeigt, dass diese sogenannte Notch-Technik ebenfalls hilft, die Lautstärke von Tinnitus-Geräuschen zu reduzieren. Eine App, welche diese Technik anwendet, ist zum Beispiel «Tinnitus Music Player».

Beide Techniken in eine benutzerfreundliche App zu integrieren, ist das Ziel einer Schweizer Entwicklung, die bereits patentiert, aber noch nicht fertiggestellt ist. Die App ist voraussichtlich verfügbar ab Mitte 2022 (Infos: www.tinnitus.app).

Doch für mich ist schon jetzt klar: Nach all den vergeblichen Therapieversuchen werde ich auch diese App ausprobieren. Wir Tinnitus-Geplagten warten schon lange auf ein Mittel gegen das ewige Pfeifen im Ohr.

Felix Weber (72) war lange freier Journalist mit den Schwerpunkten Technologie und Finanzen. Danach wechselte er in die Finanzbranche und ist dort bis heute tätig.