Unterschätztes DemenzrisikoWarum ein Hörverlust behandelt werden sollte
In der Schweiz leben über eine Million Menschen mit einer Hörminderung – Tendenz steigend. Die gute Nachricht: Selbst für schwere Fälle gibt es heute eine Lösung, wie das Beispiel von Martin Probst zeigt.
In der Schweiz leben über eine Million Menschen mit einer Hörminderung – Tendenz steigend. Die gute Nachricht: Selbst für schwere Fälle gibt es heute eine Lösung, wie das Beispiel von Martin Probst zeigt.
Zum Kontrolltermin erscheint Martin Probst mit sichtlicher Anspannung. Im Frühling ist dem 54-jährigen Ingenieur am Universitätsspital Zürich am rechten Ohr ein sogenanntes Cochlea-Implantat eingesetzt worden – dies, nachdem er vier Jahre zuvor bereits eines am linken erhalten hat.
Cochlea-Implantate kommen dann zum Einsatz, wenn normale Hörgeräte nicht mehr ausreichen, um den Hörverlust auszugleichen: Während ein Hörgerät auf eine Restfunktion der Haarzellen des Innenohrs angewiesen ist und den Schall akustisch verstärkt, stimuliert das Cochlea-Implantat elektrisch direkt die Sinneszellen. Weil ein Teil dieser Elektronik in die Hörschnecke (Cochlea) eingebracht werden muss, ist dafür ein operativer Eingriff unter Vollnarkose von rund anderthalb Stunden nötig.
Und jetzt also eine Nachkontrolle am Zürcher Unispital. Tobias Kleinjung, Leitender Arzt für Ohren-, Nasen-, Hals- und Gesichtschirurgie, prüft Sitz und Lage des äusseren Teils des Implantats, also den Sprachprozessor und die Sendespule. «Sieht schon mal gut aus.» Dann schaut er mit dem Ohr-Mikroskop ins Innere. «Auch Gehörgang, Trommelfell und Mittelohr sind in Ordnung.»
Wiederholte Mittelohrentzündung
Martin Probst ist sichtlich zufrieden. Es sei zwar ein anderes Hören als mit einem Hörgerät, ein «elektronisches» eben mit mehr Hochtonanteil für ein besseres Sprachverständnis. «Bis ich mich daran gewöhnt habe, braucht es einige Zeit und Geduld», ist er sich bewusst. Erst mit der Zeit würden Stimmen und Geräusche als «natürlich» wahrgenommen. Er kennt es ja schon vom anderen Ohr.
Dennoch sei es für ihn die einzige Möglichkeit gewesen, als er sich für die Implantate entschieden habe. Damals habe er praktisch nichts mehr gehört, blickt er zurück. «Mit einem Gegenüber konnte ich zwar noch einigermassen kommunizieren, aber sobald mehr Leute oder Umgebungslärm dazukamen, verstand ich kaum noch etwas.»
Eine unhaltbare Situation für ihn, der als Ingenieur in einer international tätigen Maschinenbaufirma arbeitet und auf eine gute Kommunikation angewiesen ist.
Den Grund für seine starke Schwerhörigkeit vermutet Martin Probst in seiner Kindheit: Damals habe er häufig an Mittelohrentzündung gelitten. Vorerst konnten Hörgeräte das Defizit erfolgreich kompensieren: Alle paar Jahre wechselte er sie mit der jeweils neuesten Generation aus und profitierte von der Miniaturisierung und der technischen Verfeinerung. Bis auch leistungsstarke Hörgeräte nicht mehr halfen.
Der starke Hörverlust von Martin Probst ist sicher ein drastischer Fall, und ein Cochlea-Implantat ist nur selten nötig. Ein Einzelfall ist er aber nicht: Von einer Hörminderung seien immer mehr Menschen betroffen, sagt HNO-Arzt Kleinjung. Dies vor allem, weil wir immer älter würden, aber auch, weil die Lärmbelastung zunehme.
Diese Entwicklung bestätigen die Hörgerätehersteller: Gemäss ihrem Branchenverband HSM (Hearing System Manufacturer) haben sich die Verkäufe von Hörgeräten in der Schweiz allein in den letzten 20 Jahren fast verdoppelt – auf heute rund 86'000 pro Jahr. Laut einer Befragung, die der Verband alle zwei Jahre durchführt, tragen gegenwärtig rund 300'000 Menschen in der Schweiz ein Hörgerät. Die Zahl der Schwerhörigen dürfte indes mehr als doppelt so hoch sein, wie die Befragung ebenfalls ergeben hat.
Und dabei sind die Zahlen des Branchenverbands noch konservativ: Befragungen, die auf einer Selbsteinschätzung beruhen, würden erfahrungsgemäss eher zu tiefe Resultate generieren, gibt Verbandspräsident Luca Mastroberardino zu bedenken und meint: Wer bezeichnet sich schon gerne als schwerhörig?
Pro Audito, die unabhängige Anlaufstelle für Menschen mit Schwerhörigkeit in der Schweiz, geht inzwischen von 1,3 Millionen Betroffenen aus – ein Wert, der auf Berechnungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) basiert.
Welche Zahl auch immer zutrifft – für Menschen mit nachlassendem Gehör gilt: Sie sollten ihren Hörverlust abklären und nötigenfalls auch behandeln. Denn Schwerhörigkeit gehört laut WHO zu den bedeutenden Risikofaktoren für eine Demenzerkrankung. «Aufgrund von Beobachtungen gehen wir davon aus, dass Hörreize und Inhalte einen positiven Einfluss auf den Verlauf einer demenziellen Entwicklung haben und diese sogar hinauszögern können, erklärt HNO-Arzt Kleinjung den Zusammenhang. Mit anderen Worten: Dank akustischen Signalen von aussen bleibt das Gehirn aktiv – wie ein Muskel, der trainiert wird.
Womöglich ist schlechtes Hören auch deshalb so schädlich fürs Gehirn, weil es andere Risikofaktoren für Demenz verstärkt: sozialer Rückzug, Vereinsamung, Depressionen.
Kleinjung empfiehlt deshalb auch jüngeren Leuten, bei ärztlichen Untersuchungen das Thema Gehör früh anzusprechen. Vor allem bei einer subjektiv empfundenen Hörminderung, zum Beispiel wenn man im Stimmengewirr eines Restaurants das Gegenüber nicht mehr gut versteht. «Spätestens aber ab etwa 60 sind spezifische Hörtests für alle sinnvoll», sagt der Facharzt. Eine Hörhilfe zu tragen, sei heute kein Makel mehr.
Heute hört er sogar wieder gerne Musik
Das kann Martin Probst nur bestätigen. «Ich habe zu lange zugewartet und hätte mich schon früher für die Implantate entscheiden sollen», sagt er rückblickend.
Ausser in seinem anspruchsvollen Beruf hat er die kleinen Dinger nämlich auch in seiner Freizeit schätzen gelernt. Musik hören zum Beispiel mache ihm wieder Freude, sagt er: «Zuletzt habe ich nur noch die Melodien wahrgenommen, heute verstehe ich auch die Songtexte wieder.»
Fehler gefunden?Jetzt melden.