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Gesundheitsrisiko im Alter
Wer besser hört, bleibt geistig fitter und psychisch gesünder

So verstehen auch Schwerhörige gut. Die schwierigsten Situationen für Betroffene sind Gruppengespräche in grossen Räumen mit Nebengeräuschen.
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Ein Besserwisser war er immer schon, lieber selbst zu reden, als zuzuhören, ist eine Art Familienkrankheit, und dass der Vater beim Essen plötzlich von seiner Arbeit anfing, als alle anderen noch über die drolligsten Buchstabendreher der Zweijährigen sprachen, war auch nicht aussergewöhnlich. In den Familienferien aber fiel auf, dass er einfach nicht reagierte, wenn man ihn von der Seite ansprach. «Ich hole mir noch einen Kaffee, willst du auch einen?» «Papa?» «Papa, magst du noch einen Kaffee!?!» Woraufhin die zehnjährige Enkelin fuchtelnd vor ihm auf- und absprang: «GROSSPAPI, DIE MAMA HAT DICH WAS GEFRA-HAGT!»

Den Kaffee nahm er dankend an, den vorsichtigen Hinweis auf sein nachlassendes Hörvermögen nicht. Könne unmöglich sein, schliesslich sei er Musiker. Beim Klarinettespielen im Orchestergraben würde er eine etwaige Schwerhörigkeit ja wohl sofort merken, und da klappe noch alles prima.

«Demenz und Schwerhörigkeit ähneln sich in ihrer Symptomatik»

In Familien wird viel kommuniziert, auch viel gesprochen, doch fast genauso viel missverstanden, ignoriert und wieder vergessen. In Bezug auf das Zuhören in Familien kann man sagen: Je jünger die Person, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie gerade nur keine Lust hat. Bei Menschen über 50 Jahren allerdings nimmt die Hörfähigkeit sukzessive ab. Von den über 65-jährigen Männern hört jeder zweite schlecht, bei den gleichaltrigen Frauen jede dritte. Drei Jahre dauert es im Schnitt, bis Menschen, die sich ein Problem mit den Ohren eingestehen, den Arzt aufsuchen – und dabei ist die Zeit nicht mitgezählt, in der sie sich selbst nicht für schwerhörig halten, das Umfeld aber sehr wohl.

Vor allem bei der Altersschwerhörigkeit, der sogenannten Presbyakusis, passiert das oft. Wer sein Gehör plötzlich aufgrund eines Unfalls oder einer Krankheit verliert, weiss, was ihm fehlt, und schafft sich zügig eine Hörhilfe an. Auch wer im Alter immer weitsichtiger wird, nimmt wahr, was passiert. Irgendwann ist der Arm einfach nicht mehr lang genug, um die Buchstaben auf dem Schriftstück scharf zu sehen. Dass man das Knistern der Zeitung, das Blubbern des Kühlschranks, das Rauschen der Strasse schon seit einer Weile nicht mehr hört, bemerkt man nicht und vermisst es im Zweifel auch nicht besonders.

Als Nächstes aber gehen die Zischlaute verloren, Konsonanten werden schwerer verständlich. Was hat der gesagt: Baum, Schaum, Traum? Dass diese jungen Leute aber auch immer so nuscheln müssen. In der deutschen Sprache sind allerdings die Konsonanten die Bedeutungsträger, wer die nicht richtig mitbekommt, muss Rätsel raten. Für das Gehirn ist das leider kein sinnvolles Training gegen die ohnehin drohende Verkalkung, sondern purer Stress. Und damit fehlen die Kapazitäten, um Zwischentöne wahrzunehmen. War das gerade ein Witz, hat der mich kritisiert, wie war das genau gemeint? Zu diesen Fragen kommt nicht, wer noch dabei ist, die genaue Bedeutung des nur halb Verstandenen zu entschlüsseln. Weil aber in Beziehungen nicht nur wichtig ist, was gesagt wird, sondern auch wie, geht Schwerhörigen viel mehr verloren, als sie selbst zunächst bemerken.

Auch Angehörige erkennen Hörprobleme nicht immer sofort als das, was sie sind. Damit ein Gespräch funktioniert, muss die Beziehung stimmen, das Gehör intakt sein und das Gehirn richtig arbeiten. Geht dabei etwas schief, ist nicht immer klar, wo genau der Fehler liegt. Wenn also Oma von ihrem Wintergarten spricht, nachdem ihr der Enkel von seinem neuen Job erzählt hat, kann es sein, dass sie das einfach nicht interessiert hat. Oder der Enkel sie mit seinem Sprech aus seinem Wirtschaftsstudium nervt. Kann aber auch sein, dass sie schlechter hört als früher oder überhaupt nicht mehr durchblickt. In jedem Fall knacksen solche Gesprächsverläufe die Beziehung an, und ehe man es sich versieht, will beim nächsten Weihnachtsfest niemand mehr neben Oma sitzen, weil sie so schrullig erscheint – und Oma wird immer schrulliger, weil niemand mehr richtig mit ihr spricht.

Schwerhörig, das sind eben immer die anderen. Nur um eine gute Freundin zu einem neuen Hörgerät zu überreden, machte der klarinettenspielende Vater für sie und sich selbst einen Termin beim Hals-Nasen-Ohren-Arzt aus. Beim Hörtest wird zuerst mit Piepstönen überprüft, welche Frequenzen die Patienten noch hören. Danach müssen sie einsilbige Wörter ohne Kontext verstehen. Wer dabei auf 80 Prozent oder weniger kommt, dem wird eine Hörhilfe empfohlen – wie dem Vater.

Kausaler Zusammenhang mit Kognition

Der Arzt Jan Löhler schätzt, dass etwa die Hälfte seiner Patienten von Partnern oder Kindern zu ihm geschickt wird, die andere Hälfte komme aus eigenem Antrieb. Löhler ist Präsident des Berufsverbandes der Deutschen Hals-Nasen-Ohrenärzte und selbst seit mehr als 20 Jahren in eigener Praxis tätig. In dieser Zeit habe sich viel verändert. «Die Leute kommen viel schneller, haben viel mehr eigene Einsicht in die Problematik», sagt Löhler. Auch sind Hörgeräte in den vergangenen Jahren immer kleiner und leistungsfähiger geworden. Statistiken zufolge tragen dennoch nur 41 Prozent derjenigen, die eines bräuchten, auch tatsächlich ein Hörgerät. Häufigste Begründung: Die Betroffenen glauben, sich keines leisten zu können.

Schwerhörigkeit ist ein grosses Problem für die gesamte Gesellschaft: Die Beeinträchtigungen des Hörvermögens verursachen jedes Jahr gesamtgesellschaftliche Kosten in Höhe von sieben Milliarden Franken, sagt Heike Zimmermann, Co-Geschäftsleiterin der Schweizer Non-Profit-Organisation Pro Audito, die sich für Schwerhörige einsetzt. «Eingeschränktes Hörvermögen kostet unsere Gesellschaft damit mehr als die gesundheitlichen Schäden, die vom Alkohol und Rauchen verursacht werden».Nur Rückenschmerzen würden die Gesellschaft noch mehr kosten.

Gemäss Pro Audito sind 1,3 Millionen Menschen in der Schweiz schwerhörig. Die Non-Profit-Organisation orientiert sich dabei an den Zahlen, die von der WHO für Europa herausgegeben worden sind. Das wären rund 15 Prozent der Schweizer Wohnbevölkerung. Die Schätzung des Bundes liegt tiefer: Der sogenannte Obsan-Bericht geht von 8,4 Prozent der Bevölkerung aus. Heike Zimmermann von Pro Audito zieht diese Zahlen in Zweifel, da es in anderen europäischen Ländern wie Deutschland und Frankreich 10 bis 12 Prozent seien, die unter Hörverlusten leiden.

Die Versorgung mit Hörgeräten ist ein beträchtlicher Kostenfaktor im Schweizer Gesundheitssystem – und zugleich ein Business für die Hörgerätehersteller. Fakt ist aber auch, dass ohne eine Hörgeräteversorgung durch die IV und AHV die gesamtgesellschaftlichen Kosten noch weitaus höher liegen würden: In einer alternden Gesellschaft sind Hörhilfen auch ein gross angelegtes Präventionsprogramm gegen Einsamkeit, Demenz und Depressionen. Denn wer besser hört, bleibt geistig fitter und psychisch gesünder. 

Interpretieren muss man derlei Korrelationen zwar mit Vorsicht. Dass die Zahl der Schwerhörigen kontinuierlich nach oben geht, liegt vor allem daran, dass die Schweizer Wohnbevölkerung immer älter wird, und auch von Depressionen und Demenz sind Ältere im Schnitt stärker betroffen als Jüngere. Zudem besteht Verwechslungsgefahr. «Demenz und Schwerhörigkeit ähneln sich teilweise in ihrer Symptomatik», sagt Jana Verheyen, die als Audio-Coach und Resilienztrainerin arbeitet. Sie hilft anderen Schwerhörigen dabei, wieder im Alltag zurechtzukommen. Sie habe schon Patienten gehabt, die für senil gehalten wurden oder glaubten, unter Depressionen, Eisen- oder Vitaminmangel zu leiden. Ein gut eingestelltes Hörgerät liess die Probleme verschwinden.

Dass zwischen Hörvermögen, Kognition und Psyche ein kausaler Zusammenhang besteht, glauben fast alle Experten, leuchtet auch ein: Wer schlecht hört, meidet Familienfeiern und wechselt womöglich die Strassenseite, um Small Talk mit der Nachbarin zu vermeiden. Das macht einsam, und Einsamkeit ist ein bekannter Faktor bei Depressionen. Das Gehirn wiederum braucht regelmässiges Training. Kommen in bestimmten Bereichen keine Impulse mehr an, verkümmern sie. Harte Belege für diesen Zusammenhang fanden Forscher erstmals 2020, als sie Schwerhörige mit Hörgerät mit ebenso Betroffenen ohne Hörgerät verglichen. Dabei stellten sie eine Verringerung des Demenzrisikos von 42 Prozent fest. Von all den Faktoren, die man selbst beeinflussen könne, sei eine Behandlung der Schwerhörigkeit damit die wirkungsvollste Demenzprophylaxe, die es gibt, sagt HNO-Arzt Jan Löhler.

Um zu erklären, wie Altersschwerhörigkeit entsteht, vergleicht er die Schnecke im Innenohr mit einem mehrstöckigen Treppenhaus, das mit Teppich ausgelegt ist. Durchs Erdgeschoss müssen alle durch, weswegen die Fasern dort am schnellsten abgetreten sind. Im Ohr trifft dieses Schicksal die Haarzellen am Beginn der Schnecke. Tiefere Frequenzen werden von den Härchen weiter oben wahrgenommen, weswegen sie noch gehört werden. Die hohen Frequenzen, das Rascheln, Knacken und später die Konsonanten sind Aufgabe der unteren Windung und gehen als Erstes verloren.

Schafft man sich ein Hörgerät an, kommen diese Geräusche zurück, viele Betroffene zucken erst einmal ständig zusammen. «Nach jahrelanger Schwerhörigkeit hat das Gehirn vergessen, dass das Knistern einer Papiertüte kein gefährliches Geräusch ist», erklärt Audio-Coach Jana Verheyen diesen Effekt. Eine ihrer wichtigsten Botschaften ist, diesen Anpassungsprozess durchzuhalten, statt die Lautstärke sofort wieder herunterzuregeln – ein Fehler, den ihrer Erfahrung nach viele machen und damit ihr Sprachverständnis stark beeinträchtigen. Verheyen sagt jedoch auch: «Eine Hörhilfe ist immer nur eine Prothese, an das Original kommt man nie mehr ran.»

Betroffene müssen sagen, was sie brauchen

Dass man sich nur einmal ein Hörgerät besorgen muss und das Problem damit erledigt ist, ist eine verbreitete Fehlannahme. Schwerhörigkeit ist irreversibel und schreitet im Alter immer weiter fort, die Geräte müssen daher regelmässig angepasst werden. Irgendwann komme man auch mit der besten Technik nicht mehr auf das gewünschte Niveau. In ihren Trainings geht es daher auch um Akzeptanz. «Schwerhörigkeit ist ein immenser Verlust von Lebensqualität, der betrauert werden darf», sagt Verheyen. Schon Immanuel Kant sagte: «Nicht sehen trennt den Menschen von den Dingen. Nicht hören trennt den Menschen vom Menschen.»

Wer schlecht hört, wirkt oft, als hätte er kein Interesse mehr an anderen. Besonders Gruppensituationen überfordern. Je nach Persönlichkeit reagieren Betroffene entweder darauf, indem sie aus Unsicherheit gar nichts mehr sagen – oder indem sie pausenlos selbst sprechen, weil sie dann wenigstens wissen, was das Thema ist. Ein echter Kontakt entsteht so nicht mehr, und das ist tragisch, findet Jana Verheyen. «Die Menschen, die wir sind, sind wir nur in Verbindung und im Austausch mit anderen», sagt die Hörtrainerin und erzählt von einer Klientin, die ihr Leben lang in Gruppen «die Witzige» war. Mit zunehmender Schwerhörigkeit ging das nicht mehr, ihr Sprachverständnis war viel zu langsam, um Pointen setzen zu können. Die Frau stürzte das in eine Identitätskrise.

Was hilft, ist Offenheit. Schwerhörigkeit sieht man niemandem an, Betroffene müssen daher klar sagen, dass sie andere schlecht verstehen, und auch mitteilen, was sie brauchen, etwa dass Familientreffen nur noch an Orten stattfinden, an denen die Akustik gut ist. Angehörige sollten sich angewöhnen, die Betroffenen mit Namen anzusprechen und mit ihrem Satz erst dann weiterzumachen, wenn sie die Aufmerksamkeit haben.

Und alle – besonders die Betroffenen selbst – müssen akzeptieren, dass Hören nun eben nicht mehr die mühelose, automatische Sache ist, die das Gehirn nebenbei erledigt. Schwerhörige müssen sich ihre Kräfte gut einteilen. Auf die Frage: «Sag mal, hörst du schlecht oder hörst du nur nicht richtig zu?», antworten sie daher ehrlicherweise genau wie der Bär in «Nein-Horn», einem Kinderbuch von Marc-Uwe Kling: Mal so, mal so.