Mögliche Strommangellage Den Fischen droht eine weitere Gefahr
Der Bundesrat will mit einer ökologisch umstrittenen Massnahme mehr Strom produzieren: Er drosselt das Restwasser bei Kraftwerken. Doch der Stromgewinn ist kleiner, als der Bundesrat sagt.
Eben noch war der Schweizerische Fischerei-Verband «in Feierstimmung»: Der Ständerat hatte in der Herbstsession davon abgesehen, die Vorgaben zum ökologisch wichtigen Restwasser unterhalb von Stauseen auszuhebeln. Es war ein Entscheid gegen seine vorberatende Kommission. Der «Putsch auf die Umweltgesetzgebung», wie es der Verband nannte, war abgewendet.
Mittlerweile ist die «Feierstimmung» verflogen. Der Grund: Der Bundesrat hat Ende September in Eigenregie eine Massnahme beschlossen, welche zulasten des Restwassers geht. «Wir nehmen die neue Regel mit grosser Besorgnis zur Kenntnis», sagt David Bittner, Geschäftsführer des Fischerei-Verbands. Die entsprechende Verordnung ist bereits am 1. Oktober in Kraft getreten. Der Bundesrat will damit die Stromversorgungssicherheit im kommenden Winter stärken – eine weitere Massnahme im Kampf gegen eine mögliche Strommangellage.
«Es lässt sich nicht ausschliessen, dass sich die Fische im Frühling nicht wie üblich fortpflanzen können.»
Anwenden sollen die Bestimmung jene 45 Wasserkraftwerke, die nach 1992 eine neue Nutzungskonzession erhalten haben und seither schärfere Umweltauflagen erfüllen müssen: Aus ökologischen Gründen müssen sie mehr Restwasser als das gesetzliche Minimum abgeben. Nun aber dürfen sie bis Ende April 2023 zurück auf dieses Minimum, haben also mehr Wasser für die Stromproduktion zur Verfügung.
Welche Folgen die neue Regel für die Umwelt hat, ist unklar. «Angesichts der Dringlichkeit» der Massnahme hat der Bund keine neue Studie dazu erarbeitet. Das Bundesamt für Umwelt (Bafu) erwartet aber, dass die Fischwanderung temporär eingeschränkt wird. «Damit lässt sich nicht ausschliessen, dass sich die Fische im Frühling 2023 nicht im üblichen Ausmass fortpflanzen können», sagt Bafu-Sprecherin Rebekka Reichlin. Diese Einschätzung gelte für alle Fischarten sowohl im Mittelland als auch im Alpenraum.
Gleichwohl hält das Bafu die neue Regel für «vertretbar». Bei einer einmaligen Anwendung über die Wintermonate könnten sich die Fischpopulationen im Folgejahr wieder erholen, sagt Reichlin. Das Bafu rechnet daher nicht mit einer «irreversiblen Beeinträchtigung».
«Statt dass sich die Fischbestände erholen könnten, wird der Druck nochmals erhöht.»
David Bittner vom Fischerei-Verband vermag diese Analyse nicht zu beruhigen. Bereits heute sind drei Viertel aller einheimischen Fischarten gefährdet, vom Aussterben bedroht oder bereits ausgestorben. Der diesjährige Hitzesommer mit seinem grossen Fischsterben hat den Druck auf die aquatischen Lebensräume zusätzlich verstärkt. «Statt dass sich die gebeutelten Fischbestände im Winter zumindest etwas erholen könnten, wird dieser Druck nun nochmals erhöht», sagt Bittner.
Umstritten ist die neue Regel auch deshalb, weil der Stromgewinn deutlich kleiner sein dürfte, als der Bundesrat insinuiert. Er geht von einer Steigerung um maximal 150 Gigawattstunden (GWh) aus. Zur Einordnung: Der Stromverbrauch in der Schweiz beträgt pro Jahr gegen 60000 GWh. Gut unterrichtete Kreise sagen jedoch, das Potenzial liege deutlich unter 100 Gigawattstunden. Das zeige eine Analyse, die der Schweizerische Wasserwirtschaftsverband extra für den Bund gemacht habe. Die vom Bundesrat erwähnten maximal 150 GWh seien nur in Kombination mit weiteren Massnahmen möglich. Andreas Stettler, Geschäftsführer beim Wasserwirtschaftsverband, bestätigt dies auf Anfrage.
Damit konfrontiert, verweist das Bafu auf die Erläuterungen des Bundesrats zur neuen Regel. Dort heisst es, die 150 GWh seien ein Maximalwert, der effektive Wert könne auch tiefer ausfallen, etwa weil bei einigen Kraftwerken die technischen Voraussetzungen für die Restwasserreduktion fehlten. Eine mit der Materie vertraute Fachperson hält diese Begründung für dünn, die Kommunikation der Behörden sei «dreist».
Dass der Bundesrat den Effekt der Massnahme offenbar überzeichnet, hat wohl politische Gründe. Energie- und Umweltministerin Simonetta Sommaruga, sagen involvierte Personen, stehe wegen der möglichen Strommangellage unter starkem Druck, Zugeständnisse beim Umweltschutz zu machen. Die temporäre Reduktion der Restwassermengen sei ein solches. Um die Massnahme, gerade gegenüber Umweltschützern, zu rechtfertigen, müsse der erwartete Stromgewinn möglichst hoch ausgewiesen sein.
Neue Idee: Zürichsee aufstauen
Doch der politische Schaden ist bereits angerichtet. Der Fischerei-Verband verlangt, dass der Bundesrat die neue Regel stoppen und erst einführen soll, wenn sich eine Strommangellage tatsächlich abzeichne – was aktuell aber nicht der Fall sei. Der Bundesrat indes argumentiert, je früher die Massnahme starte, desto mehr wirke sie.
Dabei liesse sich der erhoffte Mehrstrom womöglich auch auf andere Weise gewinnen. Das Elektrizitätswerk der Stadt Zürich (EWZ) hat eine Idee: Man lässt in den kommenden Monaten aus dem Zürichsee weniger Wasser ab als üblich, man staut ihn also höher auf, als gemäss Reglement vorgesehen ist. «Das hätte den Vorteil, dass wir im Flusskraftwerk Letten wegen der grösseren Fallhöhe mehr Energie produzieren können», sagt Sprecherin Marie Oswald. «Bei einer Mangellage im Spätwinter oder Frühling wäre so mehr Energie im Zürichsee gespeichert, die wir bei Bedarf abrufen könnten.» Das EWZ begrüsst eigenen Angaben gemäss zwar alle Massnahmen, die helfen, eine Strommangellage zu entschärfen. «Die potenziellen negativen Auswirkungen auf die Ökosysteme dürfen wir aber nicht ausser Acht lassen», sagt Oswald. Das EWZ versuche deshalb, mit dem skizzierten Vorschlag einen «ökologisch vertretbaren Beitrag» zu leisten.
Unklar ist, wie viel Mehrstrom es bringen würde, wenn man weitere Schweizer Flüssen und Seen so aufstauen würde. Andreas Stettler vom Wasserwirtschaftsverband rechnet mit einem «beachtlichen Potenzial». Andere Fachleute sprechen jedoch bloss von «Peanuts» von 10, vielleicht 20 zusätzlichen Gigawattstunden.
In Zürich jedenfalls geht es nun vorwärts. Das zuständige Amt in der Baudirektion von Martin Neukom (Grüne) klärt mit den betroffenen Kantonen nördlich und südlich von Zürich sowie dem Bund ab, ob der Plan des EWZ bewilligungsfähig sei – nicht nur mit Blick auf den Hochwasserschutz und die Schifffahrt, sondern auch punkto Ökologie. Die Kantone mahnen zur Vorsicht: Eine Änderung des Wasserspiegels könne zu einem anderen ökologischen Ungleichgewicht in gewissen Gebieten führen, schreibt die Konferenz der kantonalen Umweltdirektoren auf Anfrage. «Deshalb muss eine solche Massnahme gut abgeklärt werden.»
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