Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen

Memoiren von Boris Johnson
731 Seiten schamlose Tatsachen­verdrehung

Signed copies of "Unleashed" by former British prime minister Boris Johnson, are displayed at Waterstones' flagship Piccadilly bookshop on the day of its release in London, on October 10, 2024. Johnson's memoir, "Unleashed", hit shelves on October 10 and charts his rise in politics,  becoming London mayor, leading the "Leave" campaign during the 2016 Brexit referendum and becoming Tory leader in 2019 when he secured a landslide general election victory. Johnson was ousted in disgrace by colleagues fewer than three years later following a series of scandals, particularly the illegal Covid lockdown-breaking parties at Downing Street. (Photo by BENJAMIN CREMEL / AFP)
Jetzt abonnieren und von der Vorlesefunktion profitieren.
BotTalk
In Kürze:
  • Boris Johnson präsentierte sein neues Buch «Unleashed» beim Cheltenham-Literaturfestival.
  • Trotz seiner Prominenz war der Saal nur teilweise gefüllt.
  • Johnson verteidigt im Buch seine Rolle beim Brexit und spielt «Partygate» herunter.
  • Es wird spekuliert, ob er in die Politik zurückkehrt.

Der Leder-Ohrensessel auf der Bühne im Centaur in Cheltenham ist gross, aber Boris Johnson füllt ihn fläzend mühelos aus, sein masslos geschneiderter Anzug ist überall in diesem Sessel. Das Licht blendet, er hält die Hand über die Augen und blinzelt in den Saal, er sehe nicht viel, sagt er, aber «eine gewaltige Menge» müsse das ja sein, «wow», im Saal lachen ein paar. Man weiss bei Johnson ja nie, ob er das, was er sagt, tatsächlich glaubt, oder ob er die Wahrheit ironisch zu verwischen versucht. Oder beides, Boris Johnson war in all den Rollen seines Lebens stets Meister darin, sich seine eigene Realitätskomfortzone zum Hineinfläzen zu schaffen.

Das Centaur ist einer der Veranstaltungsorte des Cheltenham-Literaturfestivals, ein Mehrzwecksaal an der Pferderennstrecke, gut 160 Kilometer westlich von London. Das Ticket an diesem Donnerstagabend kostet 50 Pfund, inbegriffen ist eine signierte Ausgabe seines neuen Buches, eigentlich ein guter Deal für einen Abend mit einem ehemaligen britischen Premierminister. Der Saal ist trotzdem nur zu gut zwei Dritteln gefüllt, der Oberrang ist fast vollständig leer.

Journalistin wollte Johnson-Event doch nicht moderieren

Johnson hat zuletzt mehrere buchbegleitende Interviews gegeben (wobei das mit der BBC vom Sender abgesagt wurde, weil die Moderatorin Laura Kuenssberg ihre Notizen versehentlich an Johnson geschickt hatte, per Whatsapp), in Cheltenham sollte ihn eigentlich die populäre Sky-News-Moderatorin Beth Rigby befragen.

Rigby aber zog sich zurück, weil keine Audioaufnahmen erlaubt waren, was sie unjournalistisch und unprofessionell fand. Stattdessen sitzt Johnson die Festivalleiterin der mitveranstaltenden «Times» gegenüber, die sich bemüht, aber den ganzen Abend kaum zu Wort kommt.

Eine Frau schimpft, bis sie aus dem Saal geführt wird

Johnson sagt, natürlich, zahlreiche Johnson-Sätze, vereinzelt wird gelacht und geklatscht, eine Frau beschimpft ihn so lange, bis sie aus dem Saal geführt wird. Johnson sagt: Wenn sie ihn damals nicht hinausgeworfen hätten, dann, da sei er sich sicher, wäre er jetzt noch da und würde «uns alle zusammenhalten». In seiner Sprache: «Keep us all bubblegummed together.»

Sein Buch ist eine Autobiografie seines politischen Lebens in 60 Kapiteln, es heisst «Unleashed», entfesselt. Bücher beginnen oft mit einem Zitat, das dem Buch einen intellektuellen Rahmen geben soll, den der Autor für angemessen hält, so ist das auch bei Johnson. «Unleashed» fängt an mit dem Ausspruch, mit dem sich Johnson im Unterhaus verabschiedet hat: «Hasta la vista, Baby! Arnold Schwarzenegger, Terminator 2: Judgment Day, 1991».

Hier ein «wow», dort ein «nope»

Das Buch hat 731 Seiten, plus 21 Seiten Danksagung und Fussnoten, es ‹bubblegummed› vor sich hin, und es ist geschrieben, wie Johnson spricht. Stellenweise liest es sich wie ein Comic, hier ein «wow», dort ein «nope», da ein «ping-crack», die Kapitel heissen «If I Had a Hammer», «Chucking Chequers» oder «Mayhem in Mesopotamia».

epa11652736 Former UK Prime Minister Boris Johnson memoir 'Unleashed', is displayed for sale in stores in London, Britain, 10 October 2024. The memoir is published on 10 October alongside 1,900 other titles on what is known, in publishing circles, as 'Super Thursday'.  EPA/NEIL HALL

In einem Kapitel beschreibt Johnson, wie er als erster G-7-Regierungschef nach der russischen Invasion in die Ukraine reiste, es heisst «Night Train to Ukraine», als sei das hier eine Stelle aus einem Roman und nicht die Zugfahrt des britischen Premierministers durch den Krieg.

Johnson rätselt, ob Putin gerade seinen Zug bombardiert

Das Kapitel beginnt so: «Whoa, dachte ich. Was zur Hölle war das? Als ich zur Besinnung kam, stellte ich fest, dass da etwas sehr Eigenartiges mit meinem Bett war.» Er rätselt im Folgenden, ob Putin gerade versucht, den Zug mit Raketen zu bombardieren, aber, hm, grübel, denk, das kann doch gar nicht sein, oder? Nein, stellt er schliesslich fest, das Rumpeln komme doch daher, dass es sich hier um einen alten «commie-era»-Zug handle, aus der Zeit des Kommunismus.

Aber es ist weniger der Lustige-Jungs-Plauderton, der einen beim Lesen in einer Mischung aus Fassungslosigkeit und Faszination zurücklässt. Es ist der Inhalt. «Entfesselt» ist eine derart schamlose Verdrehung von Tatsachen, dass das Buch eigentlich «Entrückt» heissen müsste. Selbst simple Fakten stimmen nicht, Daten zum Beispiel, Namen von Kunstwerken, Opferzahlen von Terroranschlägen, die nebenbei gestreift werden.

So ist das auch in Cheltenham. Der Brexit? Ein Segen, endlich Freiheit für das Land. Die Lügen während der Brexit-Kampagne? Keine Lügen, «of course not». Übrigens, sagt Johnson, und so steht es ja auch in Kapitel 26, «Gøing Gløbal – Finding Friends Everywhere»: Der Brexit habe nicht gezeigt, dass das Vereinigte Königreich anders behandelt werde von den europäischen Nachbarn, ganz im Gegenteil. Überall hätten sie damals noch lieber mit ihm gesprochen als vorher.

Bestraft für ein bisschen Kuchen und «warmen Wein»

Und Partygate? Im Buch kommt der Skandal, der Johnson das Amt kostete, kaum vor. In Cheltenham sagt Johnson, ja, sicher, er hätte anders umgehen sollen damit und er verstehe schon die Wut der Briten. Aber Schuld sei er sich keiner bewusst, es sei «absurd», dass er bestraft worden sei für ein bisschen Kuchen und «warmen Wein». Überhaupt sei das alles «eine Inquisition» gewesen gegen ihn.

A handout photograph released by the UK Parliament shows Britain's Prime Minister Boris Johnson speaking during Prime Minister's Questions (PMQs) in the House of Commons in London on November 17, 2021. (Photo by JESSICA TAYLOR / UK PARLIAMENT / AFP) / RESTRICTED TO EDITORIAL USE - NO USE FOR ENTERTAINMENT, SATIRICAL, ADVERTISING PURPOSES - MANDATORY CREDIT " AFP PHOTO / Jessica Taylor /UK Parliament"

All das könnte man als realitätsverweigerndes Gerede eines Gestrigen abheften, wenn da nicht die zumindest theoretische Chance wäre, dass Johnson doch irgendwann wieder die Bühnen wechselt, von der Unterhaltungs- und Kulturbühne auf die politische. Die beiden Bewerber auf seine Nachnachnachfolge als Tory-Chef haben erst in dieser Woche wieder betont, dass sie nicht abgeneigt seien, ihn in der Partei zurückzubegrüssen. Er selbst schliesst niemals irgendetwas aus, auch in Cheltenham sagt er zu seiner Zukunft nichts Konkretes. Warum sollte er auch, Boris Johnson lebt gut in den Ledersesseln seiner Wirklichkeit, in nicht ausverkauften mittelgrossen Mehrzwecksälen.

«Sei positiv zu dir selbst», sagt er am Schluss, als er aus dem Publikum nach einem generellen Lebensrat gefragt wird. Für «Unleashed» hat er angeblich einen Vorschuss von einer halben Million Pfund bekommen, mehr als das dreifache des Gehalts eines Premierministers.