Krieg verdrängt Partygate-AffäreKiew-Trip hilft Johnson, an der Macht zu bleiben
Der britische Premier ist als erster G-7-Regierungschef nach Kiew gereist. Er wird dafür gefeiert und macht sich zunächst einmal unangreifbar – trotz seiner Skandale.

Vor wenigen Wochen noch starteten Boris Johnsons Getreue in Westminster die «Operation Save Big Dog», um den Premierminister – ihren «Big Dog» – vor dem Untergang zu retten. Das war, als Johnsons Schicksal als Partei- und Regierungschef in den Tumulten der Partygate-Affäre besiegelt schien in Downing Street.
Damals bereiteten konservative Abgeordnete die Abwahl Johnsons vor. Auch Tory-Zeitungen betrachteten den Premier als «geliefert». An diesem Montag jedoch sah ein Karikaturist der Londoner «Times» Johnson in Superman-Manier in der Regierungsstrasse landen – mit einem Cape in den ukrainischen Farben um die Schultern und einem Reiseköfferchen hinter sich.
Seit seiner Überraschungstour nach Kiew am Wochenende kann sich der britische Regierungschef tatsächlich im Glanz einer Reise sonnen, für die ihm die ukrainische Führung mit den Worten gedankt hat, sie wünsche sich, alle Welt wäre «mutig wie Boris». «Boris gehört zu denen, die keinen Augenblick gezögert haben, der Ukraine zu helfen», bescheinigte der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski dem angereisten «Freund».
Umfangreiche Waffenlieferungen
Die Reise hatte Johnson bis zuletzt geheim zu halten gesucht. Von Polen aus war er, ohne dass seine Landsleute davon wussten, im Zug nach Kiew gefahren, wo ihm ein betont herzlicher Empfang bereitet worden war.
Bei seinem Treffen mit Selenski versprach Johnson erneut umfangreiche Waffenlieferungen, darunter 120 gepanzerte Fahrzeuge und jede Menge Anti-Schiffs-Raketen. Auf einem Video sah man ihn und Selenski dann mit schwer bewaffneten Begleitern zu einer Inspektionsrunde durch die Strassen Kiews gehen.
Begeistert feierte tags darauf Londons «Sunday Times» Johnson als «Waffenbruder» und «Kampfgefährten» des ukrainischen Präsidenten. Geradezu vergessen waren die Auftritte anderer europäischer Politiker in Kiew, wie der der EU-Kommissions-Präsidentin Ursula von der Leyen am Freitag.

Auch in Kiew sparte man nicht mit warmen Worten. Mit Johnson heisse man immerhin «den ersten G-7-Führer» willkommen, der sich seit Kriegsbeginn in die Ukraine gewagt habe. Das gefiel dem Besucher aus London. «Felsenfesten Beistand» gelobte er feierlich. «Die Ukrainer», fügte er hinzu, «haben den Mut eines Löwen. Und Präsident Selenski hat für das Röhren des Löwen gesorgt.»
Auch Bilder aus dem Zug, der Johnson durch die Ukraine beförderte, fanden ihren Weg an die Öffentlichkeit – und vermittelten den Geist bulliger Churchill-Entschlossenheit, den Johnson schon seit Beginn der Ukraine-Krise an den Tag zu legen sucht. Im Zug bescheinigten Johnson und die ukrainischen Bähnler einander einen «eisernen Willen». Besser hätte es für den britischen Premier nicht laufen können.
Einige Kritiker Johnsons konnten es sich zwar nicht versagen, vom «reinsten Publicity-Stunt», von einem cleveren Ablenkungsmanöver zu sprechen. Aber es stand nie in Zweifel, dass der innenpolitisch bedrängte Regierungschef seine Chance nutzen würde, als die Invasion der Ukraine durch Russland begann.
Karriere vorerst gerettet
Inzwischen gehe man in Westminster davon aus, dass «Big Dog» sich mit seiner Reaktion auf den Krieg zunächst einmal unangreifbar gemacht habe, meint der liberalkonservative Kommentator Ian Birrell. «Wie ein Ertrinkender» habe Johnson «die Rettungsweste erspäht», die ihm der Ukraine-Krieg «in den wütenden Wirbeln der Partygates zugespielt» habe, fand Birrell. Indem er der Ukraine helfe, habe Johnson «auch seine eigene politische Karriere gerettet» – fürs Erste jedenfalls, für diese Phase seiner Schlacht.
In den Reihen der Konservativen stimmt man diesem Urteil zu. Niemand in der Partei werde es wagen, unter den jetzigen Umständen die Ablösung Johnsons zu verlangen, meinen dessen Parteigänger in Westminster – selbst wenn die Polizei dem Premier eine Strafe aufbrummen sollte für seine Lockdown-Partys. (Lesen Sie zum Thema den Artikel «Britische Polizei verhängt 20 Bussen – wer betroffen ist, bleibt geheim».)
Dabei sind die Attacken aus der Opposition noch nicht verstummt, die Johnson beschuldigen, in seiner Zeit als Bürgermeister Londons den russischen Oligarchen an der Themse den Boden bereitet zu haben und auch heute noch nicht entschlossen genug gegen sie vorzugehen. Wie Superman kommt Boris etlichen Briten trotz seiner neuen Rolle nicht vor.
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