Alzheimermittel LecanemabZulassung von langersehntem Medikament gegen Demenz in Gefahr
Die Arzneien schlagen bei einigen Betroffenen sehr gut an. Aufgrund der Nebenwirkungen bleibt die Einführung in der EU und der Schweiz allerdings ungewiss.
Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen, aber schon jetzt wird deutlich: Das langersehnte Alzheimermedikament Lecanemab kommt nicht ohne weiteres auf den Markt. Die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) hat den Zulassungsantrag der Herstellerfirma Eisai im Juli abgelehnt und ist nun dabei, nach einer Einsprache der Firma, den Antrag ein letztes Mal zu prüfen.
Die EMA hat die Zulassung mit der Begründung abgelehnt, der Vorteil der Behandlung mit Lecanemab sei für die Betroffenen nicht gross genug im Vergleich zum Risiko von Nebenwirkungen.
«Eine finale Ablehnung der EMA wäre ein grosser Schlag für Patientinnen und Patienten, die bereits grosse Hoffnungen auf die neue Therapie gesetzt haben», sagt Lutz Frölich vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim. Und auch für die Fachleute in diesem Feld sei das ein Rückschlag. «Wir sehen diesen ersten Schritt der neuen Therapie als extrem wichtig an», sagt Frölich. Nur wenn das Medikament Lecanemab auch ausserhalb von Studien über eine längere Zeit Betroffenen zur Verfügung steht, könnten Expertinnen und Experten den Nutzen und die Risiken besser einschätzen.
Schweizer Arzneimittelbehörde entscheidet unabhängig von EMA
Wie die Schweizer Arzneimittelbehörde Swissmedic in diesem Fall entscheidet – auch hierzulande liegt ein Zulassungsgesuch der Firma Eisai für Lecanemab vor –, ist nicht klar. «Natürlich verfolgen wir die Entscheide unserer Partnerorganisationen und nehmen diese zur Kenntnis», heisst es von Swissmedic. Jedoch hätten weder der EMA-Entscheid einen direkten Einfluss auf das Prüfungsverfahren noch der Entscheid der entsprechenden Behörde in den USA, wo die FDA das Alzheimermedikament vor einem Jahr zugelassen hat.
Auch in der Schweiz schauen die behandelnden Ärzte und Ärztinnen gebannt auf die europäische Behörde. Sie befürchten ein negatives Signal für eine Zulassung in der Schweiz. «Wir trauen uns zu, Alzheimerpatienten mit diesen Präparaten zu behandeln», sagt Ansgar Felbecker vom Kantonsspital St. Gallen. Der Neurologe war zunächst überrascht, weil in vielen Ländern der Wirkstoff bereits erhältlich ist, neben den USA auch in Japan, China, Südkorea oder Israel.
Die starken Sicherheitsbedenken findet der Demenzexperte «nicht ganz korrekt». Generell gilt, je schwerer eine Erkrankung ist, desto eher sind die Behörden bereit, nebenwirkungsreiche Medikamente zuzulassen. Das sei beispielsweise bei bestimmten Krebsmedikamenten so, sagt Felbecker. In diesen Fällen traue man der Ärzteschaft zu, zusammen mit den Patienten zu entscheiden, ob man das Risiko eingehen möchte. «Wenn das Alzheimermedikament nicht zugelassen wird, trauen die Behörden den Betroffenen und den Fachärzten diese gemeinsame Entscheidung offenbar nicht zu», sagt Felbecker.
Lecanemab: Schwere Nebenwirkungen bei 1,5 bis 2 Prozent
Lecanemab gehört zu einer neuen Klasse von Wirkstoffen, die erstmals an der Ursache der Alzheimerkrankheit ansetzen. Sie fischen ein schädliches Eiweiss, das Amyloid, aus dem Gehirn der Kranken. Amyloid gilt als ein Grund für das massive Nervensterben, weswegen die Betroffenen das Gedächtnis verlieren.
Die Nebenwirkungen der Medikamente sind jedoch gefürchtet: Es kann zu Gehirnschwellungen oder -blutungen kommen, die im schlimmsten Fall zur Hospitalisierung oder gar zum Tod führen können. Diese Nebenwirkungen sind in bildgebenden Verfahren zu erkennen und werden deshalb als ARIA (Amyloid-Related Imaging Abnormalities) bezeichnet. Nicht immer zeigen betroffene Patienten dabei Symptome. «Wirklich schwere Nebenwirkungen traten in der Studie bei 1,5 bis 2 Prozent der behandelten Testpersonen auf», sagt Felbecker. Der Neurologe betreut auch Alzheimerpatienten, die mit unter 65 Jahren ungewöhnlich jung sind und noch voll im Leben stehen. «Diese Krankheit ist verheerend. Da hätte ich als Arzt gern Therapien zur Hand oder zumindest die Möglichkeit, mit den Betroffenen zu besprechen, ob sie bereit für eine risikoreiche Behandlung sind.»
Positive Wirkung von Lecanemab soll fortlaufend steigen
Der Nutzen sah zunächst überschaubar aus: In den Studien schritt die Krankheit bei den Patienten, die Lecanemab bekamen, um 27 Prozent langsamer fort im Vergleich zu denjenigen, die ein Placebo erhielten. Im Alltag machte das im Durchschnitt bei den Betroffenen noch keinen grossen Unterschied – in den 18 Monaten, so lange die Studie dauerte. Der Effekt habe sich jedoch bei Beobachtungen über 36 Monate verstärkt, sagt Frölich. Die Fachleute hoffen, dass sich bei einer längeren Behandlungsdauer die positiven Entwicklungen deutlicher zeigen.
Langjährige Erfahrung mit dem ersten Alzheimermedikament aus der neuen Klasse haben die Neurologen Hans Pihan vom Spitalzentrum Biel und Giovanni Frisoni vom Memory Center der Universität und vom Universitätsspital Genf. Einmal 10 und einmal 13 Patienten von ihnen waren an der Zulassungsstudie von Aducanumab beteiligt. Die Krankheitsverläufe einiger dieser Testpersonen, die seit fünf bis sieben Jahren das Medikament erhalten, sind sehr ungewöhnlich.
Das an der Universität Zürich entwickelte Aducanumab (Aduhelm) war der Wegbereiter für die Behandlung, das Amyloid aus dem Gehirn zu fischen. Allerdings nahmen die Hersteller Eisai/Biogen nach einem missglückten Studiendesign und einem undurchsichtigen Zulassungsverfahren in den USA das Medikament vom Markt und zogen laufende Zulassungsanträge zurück, auch in der Schweiz.
In Biel und Genf bekommen dennoch eine Handvoll Patienten noch bis Ende des Jahres die Substanz.
Ziel ist, herauszufinden, wer profitiert
«Wir haben bei vier von den zehn Patienten einen erstaunlich stabilen Krankheitsverlauf gesehen», sagt Pihan. Der Arzt betont aber: «Das sind Erkenntnisse aus der Praxis und keine Studiendaten.» Pihan hat in den Jahren zudem bei einigen Patienten die ARIA-Nebenwirkungen im Gehirn festgestellt, nach Kontrolluntersuchungen mit bildgebenden Verfahren. Die Betroffenen hatten aber keine Symptome. «Ich sehe es deshalb mit Bedauern, wenn die Behörden die Risiken höher werten als den potenziellen Nutzen. Das entspricht nicht meiner Erfahrung.»
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Auch in Genf traten bei zwei bis drei Patienten die Nebenwirkungen ohne Symptome auf. «Aber wir haben nur 13 Patienten behandelt», sagt Giovanni Frisoni. Würde sein Team Hunderte Patienten behandeln, so erwartet der Neurologe, dass dann auch ARIA mit schweren Symptomen auftreten würden.
Den Erfolg beschreibt Frisoni so: «Wir haben gesehen, dass von den acht Patienten, die eine hohe Dosierung von Aducanumab über fünf bis sieben Jahre bekommen hatten, zwei von Anfang an stabil blieben, also die Krankheit so gut wie nicht fortschritt.» Das ist sehr ungewöhnlich bei einer Alzheimerdiagnose. Aber auch er betont, dass man die Beobachtungen von zwei Fällen nicht auf alle Patienten hochrechnen könne. Zudem hatten zwei andere Behandelte unter den gleichen Bedingungen keinen Nutzen.
«Ich kann also nicht sagen, dass Aducanumab bei allen Betroffenen wirkt», so Frisoni. «Doch in bestimmten Patientengruppen könnten diese Medikamente eine besonders günstige Wirkung haben.» Das Ziel der Forschenden sei nun, herauszufinden, wer von den Betroffenen auf diese neuen Arzneien so gut anspricht.
Der Entscheid, ob Lecanemab zugelassen wird oder nicht, könnte auch einen weiteren Wirkstoff betreffen: Donanemab (Kisunla) von Eli Lilly. Das Medikament ist seit Anfang Juli in den USA zugelassen. Und entsprechende Zulassungsanträge hat Eli Lilly sowohl bei der EMA als auch bei Swissmedic gestellt. Donanemab gilt als wirksamer als seine Vorgänger, doch auch die Nebenwirkungen sind häufiger.
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