Das Gesicht der RenteninitiativeEr will, dass wir alle länger arbeiten
Für Matthias Müller ist klar: Nur wer sich anstrengt, kommt weiter. Ein höheres Rentenalter ist da nur folgerichtig. Kann er den Freisinn mit solchen Ideen in die Zukunft führen?
Er wird wohl verlieren, sehr wahrscheinlich sogar, sehr klar.
Matthias Müller hat diese Woche die Umfrageresultate zu seiner Renteninitiative mit Fassung entgegengenommen. Zwei Drittel der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger wollen sie ablehnen. Und damit auch eine Erhöhung des Rentenalters auf 66 Jahre. (Hier finden Sie unsere Berichterstattung zur Initiative.)
Das absehbare Resultat schmerzt Müller, das schon – aber seine Haltung dazu ist pragmatisch: «Wir versuchen, zu erklären, dass wir etwas länger arbeiten müssen, um die AHV auch für künftige Generationen zu sichern», sagt Müller. «Sexy ist die Botschaft nicht. Es war klar, dass der Vorschlag nicht für Begeisterungsstürme sorgen würde.»
Tatsächlich kam der Wunsch nach einer Rentenaltererhöhung auch in anderen Ländern bisher kaum je aus der Bevölkerung. Stattdessen drückte ihn die Regierung jeweils mit – oder im Falle Frankreichs vor einem Jahr sogar ohne – Hilfe des Parlaments durch.
Müller und die Jungfreisinnigen hingegen versuchten es mit einer Volksinitiative und hätten zugleich nicht viel auf den eigenen Sieg gesetzt.
Warum also gibt es diese Initiative?
Matthias Müller, Rufname Matt, ist Präsident der Jungfreisinnigen, also des FDP-Nachwuchses. 31-jährig ist er. Als er sein Amt Ende 2019 antrat, begann die Partei mit der Sammlung für die Renteninitiative. Im Sommer 2021 reichte sie 140’000 Unterschriften ein – auch dank Unterstützung des Arbeitgeberverbandes, der den Einsatz bezahlter Unterschriftensammler mitfinanzierte.
Spätestens jetzt, wo das Anliegen zur Abstimmung kommt, ist Müller zu nationaler Bekanntheit gekommen.
Im Kampagnenmodus
Mittagessen zwei Wochen vor dem Abstimmungstermin im Restaurant Kaisin in der Zürcher City. Junge, gut aussehende Menschen in Businesskleidern bestellen gesundes Essen. Müller isst eine Reis-Bowl mit Gemüse und Lachs. Zehn Standorte hat die Kette, sie expandiert laufend.
Müller sitzt im Verwaltungsrat der Firma, ist dort für die juristischen Fragen zuständig. Gegründet hat die Firma Andri Silberschmidt mit Freunden. Silberschmidt war Müllers Vorgänger an der Spitze des Jungfreisinnigen; heute sitzt er für den Kanton Zürich im Nationalrat.
Seit Wochen ist Müller im Kampagnenmodus. Interviews, eine Homestory in der «Schweizer Illustrierten», Diskussionsrunden im Fernsehen, mehrere Social-Media-Beiträge am Tag.
Eine Motivation für eine Initiative ohne realistische Chance auf Annahme ist immer auch, dass sie die Initianten ins Scheinwerferlicht stellt. Müller widerspricht: «Wir sorgen uns um die Vorsorge. Wir müssen der demografischen Entwicklung angemessen Rechnung tragen, andernfalls ist die Zukunft der AHV infrage gestellt.» Wahrscheinlich stimmt beides.
Sicher ist aber auch: Müller hat einen grossen Ehrgeiz. Er will vorankommen. «Matt verkauft die Sache und die liberalen Grundsätze sehr gut», sagt der Präsident der Zürcher Kantonalpartei Filippo Leutenegger. «Er ist ein hervorragender Redner, kann auch komplizierte Vorgänge einfach darstellen.» Leutenegger nennt Müller einen «Hoffnungsträger für den Schweizer Freisinn, in der gleichen Liga wie Silberschmidt».
Darauf angesprochen, bleibt Müller vage. «Es geht mir nicht um Status oder den Posten. Stattdessen finde ich es einfach faszinierend, daran beteiligt zu sein, wie wir auf demokratische Weise unser Zusammenleben organisieren.»
Die Vergleiche mit Silberschmidt begleiten seit längerem Müllers Karriere. «Sie stören mich überhaupt nicht», sagt Müller. «Im Gegenteil, ich bin dankbar, dass Andri viele Dinge vorgespurt hat.»
Während Silberschmidt im Oktober zum zweiten Mal in den Nationalrat gewählt wurde, machte Müller das sechstbeste Resultat auf der Zürcher Liste und scheiterte knapp. Sein Abschneiden sieht er trotzdem als Erfolg: Er hat einen Platz gutgemacht und ist jetzt erster Nachrücker, «und das als einfacher Aargauer».
Müller ist in Merenschwand im Freiamt aufgewachsen, «unter Bauern», wie er sagt. Das drückt teilweise noch als Hemdsärmeligkeit in seiner Sprechweise durch; später hat dort das Studium an der Universität St. Gallen Spuren hinterlassen, noch später die Rolle als Politiker.
An seinen jetzigen Wohnort Zürich-Oerlikon ist er 2018 nach dem Studium für den Beruf und die Freundin gezogen. Trotzdem setzte die Zürcher Kantonalpartei den Zuzüger bei den Wahlen 2023 auf den siebten Listenplatz. Es zeigt, was das freisinnige Establishment in Müller sieht: offenbar viel Potenzial.
Dass Müller in Zürich angekommen ist, zeigte kürzlich auch eine andere Wahl: Nachdem die Zürcher FDP bei den eidgenössischen Wahlen im Herbst wieder einmal verloren hatte, bat Leutenegger ihn, sich mit ihm und der Kantonsrätin Raffaela Fehr um das Präsidium der Zürcher FDP-Kantonalpartei zu bewerben. Leutenegger ist jetzt Präsident, die Jungpolitiker teilen sich das Vizepräsidium.
10 Stunden gamen statt Hausaufgaben
Den Posten bei den Jungfreisinnigen wird Müller im März abgeben. Die Arbeitslast würde sonst zu viel, selbst für ihn. Er sitzt noch im Verwaltungsrat eines weiteren Start-ups, hauptberuflich arbeitet er als Wirtschaftsanwalt bei der Kanzlei Homburger: das Büro im Zürcher Prime Tower mit Blick bis über den See, Spezialisierung in Unternehmensfusionen.
Für die jungen Anwälte bei Homburger existiert der Spitzname Hombizombie, weil sie so viel arbeiten. Müller ist keine Ausnahme. Wenn er Zeit findet, geht Müller ins Fitnessstudio. Zwei-, dreimal in der Woche schaffe er das. Bei den Kurzhanteln hebt er 50 Kilo. Vergangenes Jahr begleitete ihn die NZZ beim Pumpen, als er sagte: «Was du sowieso kannst, zählt nicht. Du wirst erst besser, wenn es wehtut.» Auch hier geht Müller an die Schmerzgrenze.
«Matt ist zielstrebig und diszipliniert», sagt Marcel Schuler, der lange mit Müller bei den Jungfreisinnigen politisierte und heute die Kampagne für die Renteninitiative leitet. Weiter sei Müller «immer sehr gut vorbereitet und nimmt seine Auftritte ernst».
Müller selbst sagt über seine Arbeitsphilosophie: «Nur wer sich anstrengt, erhält einen Return on Investment, also die Chance, zu wachsen und etwas zu bewegen.» Das habe er früher nicht kapiert. Als Jugendlicher sei er «ein richtiges Problemkind gewesen.» Nach der Schule habe er, statt Hausaufgaben zu machen, oft über 10 Stunden am Computer gesessen und «gesuchtet», «Guild Wars», ein Rollenspiel.
Erst als er wegen zu tiefer Noten den Sprung aufs Gymnasium verpasste, sei ihm ein Licht aufgegangen. Er begann, sich Mühe zu geben, und das habe sich ausbezahlt. In jener Zeit sei die Erkenntnis gereift, dass Eigenverantwortung und eigene Leistungsfähigkeit etwas zählten. Die eigene Lebensgeschichte als politische Erweckung. Damals trat er auch den Jungfreisinnigen bei.
Nicola Siegrist, Präsident der Jungsozialisten, verortet Müller inhaltlich am rechten Rand der FDP, «insbesondere was seine Haltung in der Migrationspolitik, strafrechtliche Fragen oder die Aufgaben der Polizei angeht – ich gehe da natürlich überhaupt nicht mit».
Genauso wenig identifiziert sich Siegrist mit Müllers Herangehensweise an die Politik: «Für ihn ist Politik, sich zu streiten und danach wieder befreundet zu sein – so als würde man nicht fundamental für andere Interessen einstehen. Mir fehlt hier bei ihm die Ernsthaftigkeit.»
Wie Müller hat Siegrist sein Amt kürzlich zur Verfügung gestellt. «Alle, die Führungsämter in der Politik bekleiden, brennen für das, was sie tun, und arbeiten nahe an der Belastungsgrenze», sagt er. «Problematisch finde ich, dass Müller meint, diese Leistung von der breiten Bevölkerung genauso einfordern zu dürfen.»
«Jeder Mensch soll leben können, wie es ihm am besten gefällt», sagt Müller, «da bin ich zutiefst liberal.» «Aber unser Wohlstand entsteht nicht durch Umverteilung, sondern durch Arbeit. Unsere Vorsorgewerke, das Rentenniveau, ja unser ganzer Sozialstaat, basieren darauf, dass die Menschen im Rahmen ihrer Möglichkeiten ihr Bestes geben.» Auch wenn Müller es sich für die Schweiz anders wünschen würde: Vorerst müssen sie es weiterhin nur bis 65 tun.
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