Nato wappnet sich «Wenn der Konflikt zu uns kommt, sind wir bereit»
Wladimir Putins Truppen haben sich in Weissrussland festgesetzt und könnten bald auch die Ukraine kontrollieren. Die Nato-Aussenminister zeigten sich bei ihrem Treffen alarmiert.
Die Lücke von Fulda zwischen zwei Hügelzügen an der Grenze zur damaligen DDR galt einst als heissester Ort im Kalten Krieg. Hier wären die sowjetischen Panzer wohl durchgerollt und ins Herz der Bundesrepublik Deutschland vorgestossen. Heute steht eine andere Lücke im Fokus, nämlich der sogenannte Suwalki Gap. Nur 65 Kilometer Landgrenze verbinden hier die beiden Nato-Staaten Polen und Litauen. Hierhin würde der russische Präsident Wladimir Putin seine Truppen wohl schicken, wenn er das Baltikum besetzen und Estland, Lettland sowie Litauen vom Rest des Bündnisgebiets der Nato abschneiden wollte. Die Allianz könnte dann zumindest über Land keine Verstärkung schicken, um die drei baltischen Nato-Staaten zu verteidigen.
«Wir suchen den Konflikt nicht, aber wenn der Konflikt zu uns kommt, sind wir bereit», sagte US-Aussenminister Antony Blinken am Freitag vor einem Nato-Treffen in Brüssel. Ähnlich Jens Stoltenberg, Generalsekretär des Bündnisses: Die Nato verstärke ihre Präsenz in den Staaten entlang der Ostflanke, um jedes «Missverständnis» in Moskau zu vermeiden. Putin soll nur nicht auf die falsche Idee kommen, die Allianz würde ihre Mitglieder nicht verteidigen. Anders als für die Ukraine gilt für die Mitgliedsstaaten die Beistandspflicht. Aber wäre die Nato derzeit tatsächlich in der Lage, der Beistandspflicht gemäss Artikel 5 ihrer Charta auch nachzukommen?
Tatsächlich hat sich die Sicherheitslage für das Bündnis in den letzten Wochen dramatisch geändert. Wladimir Putins Truppen haben sich in Weissrussland festgesetzt und könnten auch bald die Ukraine kontrollieren. Russlands Präsident sagt, sein Land werde von der Nato bedroht und umzingelt. Dabei sind es seine Streitkräfte, die jetzt gefährlich nahe an das Bündnisgebiet vorrücken. «Wir werden zu einem kleinen Stück Land wie einst Westberlin, umgeben von einem Feind mit grosser militärischer Macht», sagte der litauische Sicherheitsexperte Marius Laurinavicius gegenüber der Denkfabrik The Atlantic Council.
Am westlichen Ende der Suwalki-Lücke liegt die hochgerüstete russische Enklave Kaliningrad, wo Moskau auch Iskander-Kurzstreckenraketen stationiert hat, die nuklear bestückt werden können. Am östlichen Ende beginnt Weissrussland, wo die russischen Streitkräfte nach einem Manöver 30’000 Soldaten mit schwerem Kriegsgerät zurückgelassen haben.
Russland habe zehnmal mehr Truppen in Grenznähe als die Nato mit ihrer eher symbolischen Präsenz in den drei baltischen Staaten und Polen, erklärt das estnische Verteidigungsministerium. In der alten Welt hätte das westliche Bündnis mehrere Wochen Zeit gehabt, einen russischen Truppenaufmarsch und Vorbereitungen für eine Offensive zu entdecken. Die russische Truppenpräsenz in Weissrussland und in der Ukraine reduziert die Vorwarnzeit auf wenige Tage oder gar Stunden.
Bisher symbolische Präsenz
Nach der russischen Annexion der Krim im Jahr 2014 hatte die Nato erstmals überhaupt in die drei baltischen Staaten und Polen multinationale Verbände mit je rund 1500 Soldaten geschickt, die alle paar Monate rotieren beziehungsweise abgelöst werden. Die Präsenz ist noch immer symbolisch, um deutlich zu machen, dass ein Angriff auf eines der Länder ein Angriff auf die Allianz wäre. Die Nato lehnte bisher Forderungen der Osteuropäer ab, grössere Truppenkontingente an die Ostflanke zu verlegen. Das Bündnis wollte sich damit zumindest formell an die Nato-Russland-Grundakte von 1997 halten, die permanente Stützpunkte von grösseren Truppenkontingenten untersagt.
In der Grundakte verpflichteten sich beide Seiten auch, die Souveränität und die Integrität aller Staaten zu respektieren und auf Gewaltandrohung zu verzichten. Aus Sicht der westlichen Bündnispartner hat Russland schon 2008 beim Einmarsch in Georgien und 2014 mit der Unterstützung für Separatisten in der Ukraine gegen die Vereinbarungen verstossen.
Mit dem Angriffskrieg auf die Ukraine hat Putin die Nato-Russland-Grundakte überhaupt obsolet gemacht. Das Bündnis dürfte nun seinerseits die Zurückhaltung aufgeben und den Forderungen der Mitgliedsstaaten entlang der Ostflanke nachkommen. Die Präsenz im Baltikum und in Polen mit einer grossen Drehscheibe für den Nachschub in die Ukraine wurde bereits verstärkt. Auch in der Slowakei sowie in Rumänien sind schnelle Einsatztruppen im Aufbau. Ob die Verstärkung nötig ist und auch rechtzeitig eintrifft, könnte sich bald zeigen.
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