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Bilanz zum Wahlsonntag
Ein Rutsch, ein Pol und viele Aufträge – was vom Wahltag bleibt

Swiss People's Party (SVP UDC) leader Marco Chiesa (L) smiles next to the president of The Centre (Die Mitte) Swiss political party Gerhard Pfister (R) prior to an TV interview during Swiss federal elections to elect a new Parliament, in Bern on October 22, 2023. Switzerland's right-wing populists look set to sweep Switzerland's general elections following a campaign fuelled by anti-mass migration rhetoric and pledges to combat "woke madness". (Photo by Fabrice COFFRINI / AFP)
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Er redet über Chiasso, er war kürzlich wieder da, niemand möchte da noch spazieren gehen, niemand möchte da nach draussen, niemand dort leben! Eine untragbare Lage sei das, sagt Marco Chiesa, der Präsident der stärksten Partei der Schweiz. Er ist der Wahlgewinner von diesem Sonntag. 28,9 Prozent Wähleranteile gemäss Hochrechnung, das zweitbeste Resultat in der Geschichte des Proporz, plus neun Sitze im Nationalrat.

Marco Chiesa erzählt mehrere Male an diesem Nachmittag von seinem Ausflug nach Chiasso. Die Wahlen sind vorbei, der Wahlkampf geht weiter, immer weiter, immer weiter. Zuwanderung, Asylchaos, die Ausländer sind schuld. 

Sie seien schuld an allem, hat die SVP in den vergangenen Wochen gesagt. An den hohen Mieten, an den hohen Krankenkassenprämien, am fehlenden Strom, an vollen Zügen. Die Lösung des Problems: weniger Ausländer. 

Chiesa hat eine Botschaft für FDP und Mitte

Das ist das Rezept der SVP, und es funktionierte diesen Sonntag vorzüglich. Es bringt die Partei nicht auf 30 Prozent, das wäre ein neuer Rekord gewesen, aber die Verluste von vier Jahren hat sie fast gänzlich wieder aufgeholt. Es ist ein Resultat fast wie 2015, als Migration das alles beherrschende Thema war und die SVP über 29 Prozent Wähleranteile holte. Die Schweiz erlebt einen Rechtsrutsch – erneut.  

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Dabei ist Chiesa keine Identifikationsfigur wie Christoph Blocher, Ueli Maurer oder Toni Brunner. Doch die SVP funktioniert inzwischen wie eine Maschine. Wer sie bedient, spielt kaum eine Rolle. Wichtig sind die Strategen im Hintergrund, die im richtigen Moment die richtigen Knöpfe drücken.

Wichtig ist ihr Thema. Wichtig ist die Sehnsucht nach Tradition in der Bevölkerung, nach Ruhe und Beschaulichkeit, nach der guten alten Schweiz, in der man sich sicher fühlen kann, egal, was rundherum passiert. In Zeiten der Unsicherheit verspricht die SVP eine Bilderbuch-Rütli-Schweiz. (Lesen Sie unseren Leitartikel zur Wahl: Bitte keine Experimente – die Schweiz wählt Stabilität)

Kaum einer repräsentiert dieses Ideal so gut wie Marcel Dettling, Landwirt und SVP-Wahlkampfleiter. Nun steht er in der Wandelhalle, lässig an die Wand gelehnt, und sagt: «Unsere Kandidaten sind geeinter aufgetreten bei diesen Wahlen. Alle mit einem Thema, das uns verbindet.» Bei der Gesellschaftspolitik oder bei manchen wirtschaftspolitischen Themen gebe es in der SVP auch mal abweichende Meinungen. Nicht so bei der Migration. Wichtiger sei aber, dass die Wähler hier die Meinung der SVP teilten. «Jetzt muss vor allem Die Mitte sagen, ob sie dem Volkswillen gerecht werden will. Und ob sie endlich mithilft, die Zuwanderung zu stoppen.» 

«Ma, accidente, Du bist gewählt und gehst feiern – und ich muss hier ausharren?» 

SVP-Chef Marco Chiesa zu Fraktionschef Thomas Aeschi

Chiesa selber steht am Eingang des Bundeshauses, raucht eine E-Zigarette, checkt auf dem Smartphone die Resultate seines Kantons, des Tessin. Er ist Wahlsieger, aber gleichzeitig ist er als Ständerat noch nicht wiedergewählt, er muss in den zweiten Wahlgang. «Ma accidente», ruft er Fraktionschef Thomas Aeschi nach, der Richtung Bahnhof unterwegs ist. «Du bist gewählt und gehst feiern – und ich muss hier ausharren?» 

Chiesa darf noch nicht feiern, stattdessen gibt er ein Interview nach dem anderen. «Das Volk gibt uns einen klaren Auftrag: die Migration bekämpfen. Das sollten sich vor allem Die Mitte und die FDP jetzt auf die Fahne schreiben.» Es ist die Botschaft, die die SVP an ihre beiden bürgerlichen Partnerinnen im Parlament aussendet: Sie sollen mithelfen, im Migrationsbereich die Gesetze zu Asyl zu verschärfen. 

Thierry Burkart muss die Botschaft gar nicht hören, er lanciert das Thema von selbst. Schon in der ersten Parteipräsidenten-Runde, kurz nach 16 Uhr, sagt er, die Migration beschäftige die Leute, das zeige der Erfolg der SVP und dem müsse man nun Rechnung tragen. Konsequenter ausschaffen, das sei die Devise. «Die Schweizer Bevölkerung hat heute gesagt, dass sie eine Korrektur in der Asylpolitik wünscht, dass es hier einen Nachholbedarf gibt. Wir arbeiten da gerne mit – erwarten aber auch eine gewisse Kompromissbereitschaft der SVP.» 

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Und Die Mitte? 

Deren Spitze – der Präsident, der Fraktionschef, die Parteisekretärin – tigert zu dritt vor der eigenen Wahlzentrale im zweiten Stock des Bundeshauses hin und her. Aufgeregt den Gang entlang, aufgeregt wieder zurück. Hauptsache, Bewegung. Eben hat das Fernsehen gepusht, dass die Sensation abgesagt sei, dass Die Mitte die FDP nicht überhole. «Das war auch nie unser Ziel. Unser Ziel war, das Fusionsergebnis von 13,8% zu stabilisieren», sagt Generalsekretärin Gianna Luzio.

Pfister: «Wir sind an einem ganz anderen Punkt als 2015»

Das ist noch vor der ersten Hochrechnung. Danach liegen Die Mitte und die FDP gleichauf, nur durch einen Hauch getrennt. Gemeinsam mit der SVP würden die drei bürgerlichen Parteien jetzt locker auf eine Mehrheit kommen, so wie damals 2015, als der «bürgerliche Schulterschluss» ausgerufen wurde. 

Dieses Mal nicht. «Wir sind an einem ganz anderen Punkt als 2015», sagt Parteipräsident Gerhard Pfister. «Wir müssen eigenständige Positionen entwickeln – unabhängig von anderen Parteien wie FDP und SVP.» 

Gerhard Pfister, Parteipraesident Mitte, gibt ein Interview in der Eingangshalle des Bundeshaueses am Wahltag der Eidgenoessischen Parlamentswahlen, am Sonntag, 22. Oktober 2023 im Bundeshaus in Bern. Die Schweizer Buergerinnen und Buerger waehlen das Bundesparlament mit den beiden Kammern Nationalrat und Staenderat. (KEYSTONE/Peter Klaunzer)

Pfister spricht (wie die meisten an diesem Sonntag) von einem «Auftrag» – aber von einem ganz anderen. «Wir müssen vorausgehen, eine eigene Positionierung entwickeln, statt zu warten, ob von links und rechts Ideen kommen.»

«Ein einmaliger Wahlerfolg hat noch nie zu einer Veränderung im Bundesrat geführt.»

FDP-Chef Thierry Burkart

Es ist ein neues Selbstvertrauen der Mitte. Sie strahlt es aus, ohne klar einen zweiten Bundesratssitz zu fordern. Das tut sie nur indirekt, andeutungsweise. In der «Elefantenrunde» von SRF erinnert Pfister FDP-Chef Thierry Burkart daran, wie viel Prozent Wähleranteile die CVP hatte, als sie 2004 ihren zweiten Bundesratssitz verlor. Burkart lässt sich davon nicht beeindrucken – zum einen sage Pfister ja selber, dass niemand abgewählt werden solle. Und zum anderen habe die SVP ja ihren gigantischen Wahlerfolg mehrere Male bestätigen müssen, bevor sie den Sitz der damaligen CVP erhalten habe. «Ein einmaliger Wahlerfolg hat noch nie zu einer Veränderung im Bundesrat geführt.»

Doch das scheint auch nicht Pfisters primäre Strategie zu sein. Er möchte die Macht lieber im Parlament statt in der Regierung ausspielen. Mitte und GLP sollen künftig gemeinsam die grossen Pläne erarbeiten. In der Sozialpolitik, der Europapolitik, der Klimapolitik - und auch beim Thema Migration. Dort sagt Pfister: «Den Missbrauch im Asylwesen müssen wir angehen.» Seine Devise: FDP und SVP können mitmachen, wenn sie wollen. Und sonst sucht man die Verbündeten links. Schon vor vier Jahren gefiel sich die Mitte in ihrer Position als Mehrheitsmacherin. Was Pfister damals begonnen hat, will er weiterführen.

Zentrumsallianz statt bürgerlicher Schulterschluss

Auch Jürg Grossen, der Präsident der GLP, der zu den Verlierern zählt, spricht von dieser «Zentrumsallianz». Er glaubt nicht an einen bürgerlichen Schulterschluss. «Die Mitte schneidet gut ab, nachdem sie in den letzten Jahren mit uns – und teilweise auch mit links – zusammengearbeitet hat.» Damit habe sie bei den Wählerinnen und Wählern Erwartungen geweckt. «Sie könnte es sich gar nicht leisten, jetzt komplett nach rechts umzuschwenken.» 

Tatsächlich hat Pfister, der als Parteipräsident angetreten war, um die damalige CVP wertkonservativer zu machen, längst ein anderes Ziel: einen dritten Pol im Zentrum. Dieser dritte Pol sei schon da, sagt Pfister, und er müsse in den nächsten vier Jahren die Politik prägen. «Ich hoffe, die FDP lernt, sich gegenüber der SVP abzugrenzen.»

«Ein Schübel Arbeit» bleibe das, sagt Pfister. Vor allem müsse seine Partei geschlossener auftreten. Was er damit meint, sind seine Ständeräte. Sie sind in den letzten vier Jahren häufig von der Parteiposition abgewichen, haben Pfisters Mehrheiten ruiniert. «Dass wir mit unserem aktuellen Kurs Erfolg haben, kann ja auch parteiintern ein Zeichen sein.» Pfister weiss: Der Ständerat wird eine wichtige Rolle spielen in den nächsten vier Jahren. 

Am späten Abend wird klar: Die Mitte verbucht tatsächlich mehr Sitze im Nationalrat als die FDP. Ein historisches Resultat.

Das bleibt also von diesem Wahlsonntag. Ein Rutsch nach rechts. Ein bürgerlicher Schulterschluss, der abgesagt wird, bevor er angefangen hat. Eine selbstbewusste Mitte, die mehr Macht für sich reklamiert. 

Und ziemlich viele «Aufträge», die sich alle widersprechen. 

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