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Sieben Kandidierende, sieben WegeTraditionsbrüche und Seitenwechsel – der Kampf um die Stadtregierung

Rot-grüner Machterhalt oder bürgerliche Rückeroberung? Unterwegs mit den Menschen, die um «ihr» Bern ringen.

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In Kürze:
  • Im Rennen um die Berner Stadtregierung tritt Rot-Grün-Mitte gegen die bürgerliche «Meh Farb»-Koalition an.
  • RGM will seine Mehrheit einmal mehr zementieren, während die Bürgerlichen versuchen, einen zusätzlichen Sitz im Fünfergremium zu gewinnen.
  • Im Gemeinderat wird es zwangsläufig zu Verschiebungen kommen, sieben Neue kämpfen um den Einzug, drei Bisherige treten ab.

«Die rot-grüne Machtpolitik hat sich in der letzten Legislatur nochmals rücksichtsloser manifestiert» – aus der Wahlkampagne der Mitte-rechts-Parteien («Meh Farb für Bärn»).

«Die Bürgerlichen greifen die Regierung an, ohne einen konkreten Plan für die Stadtentwicklung zu haben» – aus der Wahlkampagne von Rot-Grün-Mitte (RGM).

Bern, drei Wochen vor dem Zusammenprall. Am 24. November wählt die Stadt ihre neue Regierung. Die Ausgangslage ist spannend wie lange nicht mehr.

Da ist dieses Duell. RGM gegen «Meh Farb». Die einen regieren seit 32 Jahren und wollen ihre vier Sitze im Fünfergremium halten. Die anderen treten erstmals geeint an, um den 2016 verloren gegangenen zweiten Sitz zurückzuholen.

Zugleich steht im Gemeinderat ein Generationenwechsel an. Mit Franziska Teuscher (Grünes Bündnis), Michael Aebersold (SP) und Reto Nause (Mitte) treten gleich drei Bisherige nicht mehr an. Nur Stadtpräsident Alec von Graffenried (GFL) und Marieke Kruit (SP) streben eine weitere Legislatur an.

Sieben Neue wollen ins Zentrum der Macht. Um diese Menschen geht es in diesem Text.

Was treibt die fünf Frauen und zwei Männer an? Gelingt GLP, EVP, Mitte, FDP und SVP der Coup? Oder behält Rot-Grün-Mitte seine Dominanz?

Die Suche nach Antworten führt von Brünnen ins Marzili, vom Schosshaldenfriedhof in die Länggasse, vom Weissenbühl an den Egelsee.

Melanie Mettler (GLP) – wenn nicht jetzt…

Melnaie Mettler, GLP Nationalraetin kandidiert fuer den Gemeindrat und das Stadtpraesidium Bern. 

Bilder: Spaziergang in ihrem Wohnquartier Schosshalde, Ostring, hier bei Bar au Lac, Egelsee

© Franziska Rothenbühler | Tamedia AG

Ein Haus am nordöstlichen Stadtrand, zwischen Friedhof und Zentrum Paul Klee. GLP-Nationalrätin Melanie Mettler steht vor ihrem Gartentor, wenige Meter weiter donnern die Fahrzeuge über die Autobahn.

«Seit ich vor bald acht Jahren hierherzog, konnte ich mitverfolgen, wie aus vier faktisch sechs Spuren wurden», sagt die Nachhaltigkeitsberaterin. Ihr gefällt diese Entwicklung nicht. Und doch wohnt sie gerne hier in diesem Mehrgenerationenhaus.

Für niemanden ist die Fallhöhe grösser auf der Mitte-rechts-Liste «Meh Farb für Bärn». Mettler hat sie bei der Nominationsversammlung ihrer Partei Anfang März gleich selber skizziert. «Dieses Mal muss es einfach klappen für die GLP», sagte sie vor versammelter Menge.

Doch so gross der Druck auch ist, so komfortabel ist Mettlers Ausgangslage. Es scheint praktisch kein Szenario zu geben, bei dem die Vertreterin der grössten Oppositionspartei nicht gewählt würde. Die 46-Jährige selbst will das nicht kommentieren. «Eine Prognose abzugeben, finde ich sehr schwierig», sagt sie.

Mettler hat über die Jahre den Ruf einer nüchternen Politikerin erlangt. Heisst: Eine Mettler spekuliert nicht, polarisiert nicht, provoziert erst recht nicht. Das macht sie zu einer guten Gesprächspartnerin in Sachfragen – und zugleich etwas unnahbar.

Melnaie Mettler, GLP Nationalraetin kandidiert fuer den Gemeindrat und das Stadtpraesidium Bern. 

Bilder: Spaziergang in ihrem Wohnquartier Schosshalde, Ostring, hier beim Freudenberg

© Franziska Rothenbühler | Tamedia AG

Geradezu erfrischend war da ihr Auftritt an einem Podium im Progr. Als sich die Diskussion um die Klimapolitik drehte, griff sie dem amtierenden Stadtpräsidenten Alec von Graffenried ungewohnt frech an seine Nachhaltigkeitsbrosche und sagte: «Weisst du, Alec, diese Brosche zu tragen, ist schon gut, aber das allein reicht einfach nicht aus.»

Dass andere in Gesprächen über sie oft bei ihrer Korrektheit landen, erstaunt Mettler: «Eigentlich sollte es doch Standard sein, dass man sich an Regeln hält.»

Überhaupt ist ihr eine gesunde Demokratie wichtig, darum empfindet sie es als «echtes Problem», wenn in Bern 40 Prozent der Wählenden nicht angemessen in der Regierung abgebildet sind. «Aufgrund der Übermacht von Rot-Grün findet kein Ideenwettbewerb mehr statt», sagt sie.

Bern habe deshalb viele Chancen verpasst, etwa in der Klima-, der Wirtschafts- oder der Finanzpolitik. Um daran etwas zu ändern, hat Mettler akzeptiert, dass die SVP auf der Liste dabei ist. Doch sie sagt: «Es gibt kein gemeinsames politisches Programm, es ist eine Frage der Mathematik.»

Diese Mathematik – in anderen Worten: das Berner Wahlsystem – verhalf RGM vor 32 Jahren an die Macht. Damals kippte ein Bündnis, das von links aussen bis in die sozialliberal-grüne Mitte reichte, die Mehrheiten in der Bundesstadt.

Seither hat RGM seinen Einfluss stetig weiter ausgebaut. 2016 gipfelte dieser bemerkenswerte Siegeszug im Gewinn von vier der fünf Regierungssitze.

Nun versucht Rot-Grün-Mitte erneut, dieses Verhältnis zu festigen. Es schickt dazu zwei Neue ins Rennen: Matthias Aebischer (SP) und Ursina Anderegg (GB).

Matthias Aebischer (SP) – die Macht im Rücken

Gemeinderatskandidat Matthias Aebischer während einem Spaziergang im Marzili. Anlässlich einer Reportage über den Wahlkampf in den Gemeinderat der Stadt Bern, am 25.10.2024 .  Foto: Christian Pfander / Tamedia AG

In der Dampfzentrale wischt ein Kellner gerade den Boden, als Matthias Aebischer durch die Tür tritt. Eigentlich hat das Lokal noch geschlossen, zwei Minuten später steht ein Café crème vor dem SP-Nationalrat.

Seit 25 Jahren lebt er nun im Marzili. Er kennt die Leute, und die Leute kennen ihn. Im Bundeshaus, hoch oben über dem Quartier, absolviert Aebischer mittlerweile seine vierte Legislatur. So oder so wird es seine letzte – die Amtszeitbeschränkung. Für den 57-Jährigen geht es in diesen Tagen also auch um die Frage, wie lange die Politik sein Job bleibt.

Zittern muss er nicht. Aebischer hat in der Stadt die wählerstärkste Partei im Rücken, und er verfügt über noch einen Vorteil: Als TV-Moderator bekannt geworden, erarbeitete er sich im letzten Jahrzehnt schweizweit eine Präsenz, an die in diesem Rennen niemand herankommt.

Im Wissen darum, dass er viele linke Stimmen auf sich vereinigen wird, reicht er rhetorisch auch bürgerlichen Wählerinnen und Wählern die Hand. So will sich Aebischer für das Gewerbe einsetzen. «Es muss in der Stadt bleiben», sagt er.

Auf früheren Wahllisten hat Aebischer auch schon den Beruf «Hausmann» angegeben. Insgesamt hat er vier Töchter zwischen 5 und 25 Jahren. Auch heute spricht er im Wahlkampf gerne von seiner aktiven Rolle als Vater. Aebischer ist mit der Zürcher Ständerätin Tiana Moser (GLP) liiert und hat mit ihr zusammen die jüngste Tochter.

Gemeinderatskandidat Matthias Aebischer während einem Spaziergang im Marzili. Anlässlich einer Reportage über den Wahlkampf in den Gemeinderat der Stadt Bern, am 25.10.2024 .  Foto: Christian Pfander / Tamedia AG

Er glaubt, dass er auch das Exekutivamt problemlos mit den Familienpflichten vereinbaren kann. «Ich bin mit weniger Zeit vermutlich der bessere Vater als beim ersten Kind.»

Aufgewachsen ist Aebischer in Schwarzenburg, als Lehrersohn in einer SP-Familie. «Erst als ich nach Bern kam, waren Leute, die wie ich dachten, in der Überzahl.» Dass ebendiese Leute in der Stadtregierung rein rechnerisch gesehen zu stark vertreten sind, erachtet er nicht als Problem: «Wenn die Leute nicht zufrieden wären, würden sie anders wählen.»

Der Umzug nach Bern war seinerzeit ein grosser Schritt. «Ich bin ein Landei», sagt Aebischer. Heute könne er sich aber nicht mehr vorstellen, woanders zu leben. Ist die Stadt also sein Dorf geworden? «Nein, das nicht. Aber im Gegensatz zu Rom oder New York ist Bern überschaubar und lebenswert.»

Sagt es und steht auf. Gleich öffnet das Restaurant in der Dampfzentrale für die Mittagsgäste.

Ursina Anderegg (GB) – näher ran

Urisna Anderegg, Gruene, kandidiert fuer den Gemeinderat Bern

Bilder: Spaziergang durch ihr Wohnquartier Weissenbuehl

Ursina Anderegg in einem ihrer Lieblingslokalen im Quartier, Restaurant Bahnhof Weissenbuehl

© Franziska Rothenbühler | Tamedia AG

Vom Land in die Stadt zog es auch Ursina Anderegg (GB). Ihr Geschlecht kann bei den Wahlen ein Vorteil sein. Vor vier Jahren erreichte der Frauenanteil im Parlament fast 70 Prozent – ein schweizweites Novum.

Im Restaurant Bahnhof Weissenbühl gibt es Nussgipfel zum Kafi und Maggi zu den Nüdeli. Am Eingang stehen zwei Büezer, ein Spruch hier, ein Konter da. «Meine Lieblingsbeiz», sagt die 43-Jährige. Hier wird viel gejasst. Die linkste von allen Kandidierenden klopft selber auch gerne einen.

Gegensätze. Man findet sie überall in ihrer Vita. Es gab Zeiten, da engagierte sich Anderegg in der bodenständigen Pfadi und zugleich in der queer-feministischen Szene der Berner Reitschule. Auch für ihre Wahlkampagne tingelte sie von einer Welt zur nächsten. 42 Berner Vereine und Organisationen hat sie besucht – vom Minigolf-Club bis zum Islamischen Kantonalverband.

Die Co-Präsidentin des GB tat es auch, weil sie nicht das einfachste Blatt in den Fingern hält. Will sie in den Gemeinderat einziehen, so muss entweder RGM den vierten Sitz halten oder Anderegg jemanden von den Bündnispartnern ausstechen. Treffen könnte es sogar Stadtpräsident von Graffenried.

Erschwerend kommt hinzu, dass bei den Grünen nach der Flut vor vier Jahren nun Ebbe herrscht: Verschiedene Wahlen endeten zuletzt in schmerzhaften Verlusten.

«Darum haben wir früh mit der Kampagne begonnen und das Wahlprogramm partizipativ erarbeitet.» Anderegg und ihre Partei haben ihre Wahltour genutzt, um rauszugehen, zuzuhören, einzustecken – man soll sie wieder spüren, die Grünen.

Urisna Anderegg, Gruene, kandidiert fuer den Gemeinderat Bern

Bilder: Spaziergang durch ihr Wohnquartier Weissenbuehl

© Franziska Rothenbühler | Tamedia AG

Im Weissenbühl landete sie einst eher zufällig, der Partnerin wegen. Für Bern entschied sich die Aargauerin vor 22 Jahren hingegen ganz bewusst. «Ich wollte in der Bundesstadt studieren, nicht in Zürich.» Und sie wollte näher ran an die Politik.

In «ihrem» Quartier findet man sie aber schon, die grossen Linien der Politik der Ursina Anderegg. Etwa im Bettenhochhaus des alten Zieglerspitals, heute ein Bundesasylzentrum. «Zu sehen, wie ganze Familien mit nur zwei Koffern hier ankommen, berührt mich», sagt sie.

Auf ihre Wahlchancen angesprochen, will sich auch die Historikerin und Gleichstellungsbeauftragte der Uni Bern nicht in die Karten blicken lassen. «Meine Chancen stehen 50:50.» Oder mit anderen Worten: Alles ist möglich.

Schaffen tatsächlich Aebischer, Anderegg und Mettler sowie die beiden Bisherigen die Wahl, würde sich in Bern kaum etwas ändern. Einzig der Sitz von Reto Nause wäre von der Mitte zur GLP gewechselt.

Ausserhalb von RGM arbeiten allerdings seit Monaten alle daran, dass es anders kommt. Ob die Strategie der Mitte-rechts-Parteien aufgeht, steht und fällt mit zwei Frauen: Béatrice Wertli (Mitte) und Florence Pärli (FDP).

Beide haben dasselbe Ziel – und werden dadurch zu den grössten Konkurrentinnen.

Béatrice Wertli (Mitte) – Aargauer Tradition

Beatrice Wertli, Die Mitte, kandidiert fuer den Berner Gemeinderat. 

Bilder bei der Caffe Bar Riva am Egelsee. 

© Franziska Rothenbühler | Tamedia AG

Päng, hier kommt Wertli. Kaum ist sie vor der Caffè Bar Riva am Egelsee vom Citybike gestiegen, sprudelt es aus ihr heraus. Wie sie vorher beim Joggen einer Freundin einen Stapel Postkarten von sich vorbeigebracht hat, welches Podium am Abend wartet. «Ich will den Menschen die Möglichkeit geben, mir zu begegnen.»

Egal, welcher Ort es ist, die Mitte-Frau macht ihn zur Bühne, die sie im Sturm zu erobern sucht.

Béatrice Wertli: immer federnd, stets auf Zack. Als Juniorin war sie im Triathlon-Nationalkader, sie treibt täglich Sport und wirkt doch immer so, als stecke überschüssige Energie in ihr. Der Baseball-Cap, den sie nicht tragen würde, wenn sie nicht im Sommer an Krebs erkrankt wäre, verstärkt den unbernischen Auftritt der 48-jährigen gebürtigen Aargauerin nur noch.

Man kann nun sagen, diese überschwängliche Art ist eine Einladung. Manche dürfte sie damit auch überfahren.

Viele sehen Wertli im Rennen um einen allfälligen zweiten bürgerlichen Sitz leicht im Vorteil. Die Kaderstellen bei Post, Bundesamt für Sport und Turnverband, der aktuelle Job als Beraterin für Kommunikation und Politik, die Ehe mit Preisüberwacher Stefan Meierhans, das Leben mit zwei Teenietöchtern: Wertli kann auf ein weitverzweigtes Netzwerk zurückgreifen.

Beatrice Wertli, Die Mitte, kandidiert fuer den Berner Gemeinderat. 

Bilder bei der Caffe Bar Riva am Egelsee. 
Bea Wertli zeigt dem Journalisten alte Bilder auf ihrem Handy

© Franziska Rothenbühler | Tamedia AG

«Bern braucht Bewegung», lautet ihr Wahlslogan, inhaltlich zielt sie etwa auf Finanzpolitik, Wohnungsbau oder Klima. Dass der frühere Unort am Egelsee, keine fünf Minuten entfernt vom Block, in dem Wertli mit ihrer Familie lebt, zum öffentlichen Treffpunkt wurde, ist auch ihr zu verdanken. In ihrer ersten Ära als Stadträtin hat Wertli die Umnutzung angeregt.

Nach Bern sei sie im Zuge einer «Aargauer Invasion» gekommen, sagt Wertli und lacht ihr kehliges Lachen. Mit ihr als Kommunikationschefin der CVP Schweiz, der späteren Bundesrätin Doris Leuthard als Vizepräsidentin und mit Reto Nause als Generalsekretär übernahm 2001 ein liberales Aargauer Trio mal eben die einstige Partei der Katholisch-Konservativen.

Was, wenn ausgerechnet Wertli, die Nause als CVP-Generalsekretärin und später im Stadtrat beerbte, in die Geschichte einginge als jene, die den Mitte-Sitz nicht verteidigen konnte?

Daran verschwendet eine wie Wertli keine Gedanken. «Ich wäre nie irgendwo angekommen, wenn ich darüber nachgedacht hätte, was schiefgehen kann.»

Florence Pärli (FDP) – die Getriebene

Grosse Wahlrepo. FDP-Gemeinderatskandidatin Florence Pärli, am 22. Oktober 2024 in Bern. Foto: Nicole Philipp/Tamedia AG

Florence Pärli steht vor dem Sattler in der Länggasse. Es zieht, und es regnet. Für gewöhnlich trinken die Menschen hier Bier, essen Glace, rauschen am Feierabend in die Migros gegenüber. Pärli gefällt dieses Bern. Doch darüber will sie gar nicht sprechen. Sondern über das Geld. Die roten Zahlen.

Pärli – 34, Juristin – steigt für den Freisinn in den Ring, für eine Idee also, die es in dieser Stadt schwer hat. Zerrieben zwischen dem Selbstverständnis der Staatstragenden und der Realität in Bern, muss die FDP von der Seitenlinie zuschauen, wie die anderen entscheiden, umsetzen, Geld ausgeben.

Die Liberale ist die Variable in dieser Ausmarchung und könnte ebenfalls als Siegerin aus dem innerbürgerlichen Duell der beiden Frauen hervorgehen. Sie hat dafür mit den verbrauchten Strategien gebrochen: Die FDP müsse wieder für mehr stehen als «bloss die Wirtschaft».

Ihr Wahlprogramm kommt ohne Manifest für den Parkplatz aus. Auf ihren Plakaten – «Und die Rechnung geht auf!» – sucht man ihre Partei und deren traditionelles Marineblau gar vergebens. Pärli setzt auf Pastell und eine simple Botschaft: Sie ist die Frau für die Finanzen.

«Bern muss weniger ausgeben», sagt sie. Bern muss sparen, würden andere sagen. Egal, wie man es dreht und wendet, finanzpolitisch steht eine unangenehme Legislatur an. Jetzt fragt man sich, wieso? Wieso will diese Frau ausgerechnet die angeschlagene Stadtkasse übernehmen? Wieso sollte RGM die mächtige Finanzdirektion überhaupt abgeben?

Grosse Wahlrepo. FDP-Gemeinderatskandidatin Florence Pärli, am 22. Oktober 2024 in Bern. Foto: Nicole Philipp/Tamedia AG

Sie antwortet: Ohne «Kürzungen oder eine Steuererhöhung» werde es nicht weitergehen. «Beides ist politisch nicht cool. Es ist einfacher, Strassen zu beruhigen und 20er-Zonen einzuweihen.» Sie möchte diese «Verantwortung» schultern.

Pärlis Eltern waren beide voll berufstätig. Die Tochter besuchte den Campus Muristalden. Zu Hause bekam sie eingeimpft: «Man arbeitet hart, um Erfolg zu haben.» Darum bezeichnet sie sich heute selbst als «ein wenig getrieben». Das gilt für ihre Arbeit auf der Steuerverwaltung des Kantons Solothurn und in der Politik.

Als sie vor vier Jahren in den Stadtrat einzog, krallte sie sich dort die papierigsten Dossiers. Spricht man mit ihr über Budgetposten, dann spricht Florence Pärli schnell und viel, sie schweift ab und findet wieder zurück.

Und am Ende bleibt da ein Gefühl, dass sich diese Frau ernsthaft Sorgen um die Stadt macht – sich vielleicht aber auch etwas gar viel vornimmt.

Bei der Frage, ob «Meh Farb» einen zweiten Sitz im Gemeinderat holt oder nicht, spielen zwei weitere Personen mit. Wenn auch nur in Nebenrollen: Janosch Weyermann (SVP) und Bettina Jans-Troxler (EVP).

Der eine steht an der rechten, die andere an der linken Flanke der Mitte-rechts-Phalanx.

Janosch Weyermann (SVP) – das Experiment

Grosse Wahlreportage.
Treffen mit Janosch Weyermann (SVP-Stadtrat und Gemeinderatskandidat). 
Er zeigt und sein "Brünnen". Wir treffen ihn für einen grossen Text über alle neuen Kandidierenden für den Gemeinderat. © Adrian Moser / Tamedia AG

Der 29-Jährige stoppt seinen Rundgang durch Brünnen an der Colombstrasse und sagt: «Hier möchten wir eine Begegnungszone realisieren.» Künftig sollen Fussgänger Vortritt haben. Die vielen Autos seien nicht kompatibel mit den Schulkindern, die tagtäglich da vorbeiliefen. «All die Handwerker und Lastwagen – das geht so nicht mehr», meint Janosch Weyermann.

Wüsste man nicht, wer der Mann in Anzug und Lackschuhen ist, man könnte denken, hier spreche ein Linker.

Bümpliz-Oberbottigen oder Bern-West: Es ist der einzige Stadtteil im dunkelrot-dunkelgrünen Bern, der regelmässig bürgerlich wählt und abstimmt.

Als klarste Oppositionspartei reibt sich die SVP von hier aus an der linken Mehrheit – laut, provokativ, populistisch. Mit Janosch Weyermann hat sie sich nun aber auf einen Kandidaten geeinigt, der diesen Stil zunächst einmal so gar nicht verkörpert.

Aussagen wie jene über die Colombstrasse sind charakteristisch für ihn. Weyermann hat erkannt: Will die SVP auch nur den Hauch einer Chance haben, kann sie nicht länger die Bauernpartei in der Stadt mimen.

Doch auch mit ihm ist ein Scheitern so gut wie programmiert.

Stören tut dies Weyermann nicht. «Meine Kandidatur ist ein Experiment», sagt der Immobilienbewirtschafter. Ein Experiment, um herauszufinden, ob wenigstens ein SVPler, der nicht den typischen Klischees entspricht, einen Achtungserfolg erzielen kann.

Grosse Wahlreportage.
Treffen mit Janosch Weyermann (SVP-Stadtrat und Gemeinderatskandidat). 
Er zeigt und sein "Brünnen". Wir treffen ihn für einen grossen Text über alle neuen Kandidierenden für den Gemeinderat. © Adrian Moser / Tamedia AG

Anders als die einschlägigen Parteigänger Thomas Fuchs, Erich Hess oder Alexander Feuz setzt Weyermann weniger auf Provokationen. Er ist überlegt, anständig, hört zu.

Diese Art soll aber nicht darüber hinwegtäuschen: In den grossen Fragen – Migration, EU, Kriminalität – politisiert dieser Mann voll auf Parteilinie. Dass er ausgerechnet im Stadtteil mit dem höchsten Ausländeranteil lebt, empfindet er keineswegs als Widerspruch. «Ich finde die Durchmischung gut, und in der Stadt Bern gehören SVP-Politiker auch zu einer Minderheit», sagt Weyermann.

Verbunden fühlt er sich primär mit Brünnen, nicht mit Bern. Dort wohnt er in einer Neubausiedlung und amtet als Präsident des Quartiervereins. Was die Stadt für viele Bewohner ausmacht, reizt ihn nicht: hippe Quartiere, belebte Gassen, alternative Kulturzentren.

«Ich will mit meinem Auto vor meine Wohnung fahren können», sagt Weyermann. Ein bisschen Innenstadt würde aber auch er in seinen Westen holen – etwa mit einer Begegnungszone an der Colombstrasse.

Bettina Jans-Troxler (EVP) – auf der anderen Seite

Bettina Jans-Troxler, EVP kandidiert fuer den Gemeinderat Bern. 

Spaziergang durch ihr Wohnquartier Mattenhof, rund um die Friedenskirche

Im Bild steht sie beim Caecilienplatz

© Franziska Rothenbuehler | Tamedia AG

Die Pforte des Gotteshauses fällt mit einem leisen Klick ins Schloss. Bettina Jans-Troxler schreitet ins Halbdunkel des Mittelschiffs, die tiefen Bankreihen entlang, vorbei an hohen Säulen. An der Orgel übt gerade die Organistin für eine Hochzeit.

Letztes Jahr zog Jans-Troxler mit ihrer Familie und Gleichgesinnten auf das Areal der Friedenskirche, die wie eine Trutzburg über dem Mattenhofquartier thront. Gross und grau. Seither leben sie hier oben im alten Pfarr- und Sigristenhaus. Im «Stadtkloster» wollen sie alles zusammenbringen: Wohnen, Arbeiten, Beten.

Und ein bisschen auch Bern. Ähnlich wie die EVP.

Jans-Troxler ist die krasseste Aussenseiterin dieser Wahlen. Sie und ihre Partei haben dafür die alten Banden gekappt und neue geknüpft: Die Evangelische Volkspartei gründete RGM einst mit, nun reiht ausgerechnet sie sich in die breite Bürgerlichen-Mitte-Allianz ein. Weil die politischen Verhältnisse «mittlerweile derart einseitig sind», dass es Jans-Troxler manchmal «fast demotiviert».

Aufgewachsen ist die 44-Jährige ennet der Kantonsgrenze, im luzernischen Willisau. Später studierte sie in Freiburg Heilpädagogik und kandidierte erstmals für die EVP – damals bei den Nationalratswahlen.

In Bern hält diese EVP heute zwei Mandate im Stadtrat. Für die Kleinstpartei geht es einmal mehr auch ums Überleben. So tritt Jans-Troxler am 24. November primär als Stimmenbeschafferin an. Schon vor vier Jahren war sie in dieser Mission unterwegs, auch damals war ihre Gemeinderatskandidatur eine Plattform, um ihre Partei im Gespräch zu halten. Sie macht daraus keinen Hehl: «Klar, uns ist es wichtig, diese Stadtratssitze zu retten.»

Bettina Jans-Troxler, EVP kandidiert fuer den Gemeinderat Bern. 

Spaziergang durch ihr Wohnquartier Mattenhof, rund um die Friedenskirche

© Franziska Rothenbuehler | Tamedia AG

Ein «modernes» Stadtkloster also. Was für Aussenstehende wie eine Mischung aus Kommune und WG klingt, beschreibt Jans-Troxler als «Versuch, Kirche in der heutigen Zeit anders zu leben». Überhaupt redet sie oft so. In der Politik etwa will sie «Brücken schlagen», «Dialoge führen».

Fragt man sie aber nach ihren persönlichen Ambitionen, dann haben ihre Antworten fast etwas Gehemmtes: Nein, nicht jede Politikerin sei ein Machtmensch. Ja, sie wirke lieber hinter den Kulissen. In ihrer Selbstbeschreibung fehlt: der unbedingte Regierungswille.

Sie zeichnet von sich lieber das Bild einer Unterhändlerin zwischen den politischen Polen. Sie mögen nur wenige sein in der EVP, aber Jans-Troxler glaubt: «Wir halten das System ein Stück weit zusammen.»

Mettler, Aebischer, Anderegg, Wertli, Pärli, Weyermann, Jans-Troxler – wer kommt an im Zentrum der Macht?

Noch drei Wochen bis zur Entscheidung.

Die beiden amtierenden Gemeinderatsmitglieder Alec von Graffenried (GFL) und Marieke Kruit (SP) und damit den Kampf um das Stadtpräsidium werden wir in einem separaten Text beleuchten. Ebenso ausgewählte politische Positionen aller neun Kandidierenden.