Machtkampf in BernBürgerlicher Aufstand in der linksten Stadt der Schweiz
Seit 30 Jahren drückt Rot-Grün die Bürgerlichen in der Stadt Bern immer stärker gegen die Wand. Nun kommt es zu einer Gegenreaktion, die noch vor kurzem undenkbar war.
Plötzlich drehen die Leute in den vorderen Rängen erstaunt die Köpfe. Hinten werden zusätzliche Stühle in den Saal des Hotels Kreuz getragen. So viele Leute an einer Parteiversammlung? Das erwartet man nicht mehr in der FDP der Stadt Bern, einer gebeutelten Partei, in der sich nur noch die älteren Mitglieder an den letzten Wahlsieg erinnern können.
Doch jetzt scheint alles anders. «Die Vorzeichen für die städtischen Wahlen sind sehr gut», sagt FDP-Co-Präsident René Lenzin vorne auf der Bühne. Lenzin spricht von einer «Riesenfreude» im bürgerlichen Lager. Und er spottet über die «Hektik», die das bei den Linken auslöse. Dann lässt Lenzin abstimmen.
Mit 72 gegen null votieren die Parteimitglieder dafür, dass die FDP bei «Gemeinsam für Bern» mitmacht, bei einem politischen Pakt, wie es ihn in einer Schweizer Stadt so noch nie gegeben hat: Alle Parteien vom Zentrum bis rechts aussen wollen bei den städtischen Wahlen mit einer gemeinsamen Liste antreten. Das haben GLP, EVP, Mitte, FDP und SVP Anfang Januar angekündigt. Fünf Parteien, die normalerweise wenig miteinander anfangen können, sind plötzlich geeint durch einen gemeinsamen Gegner: RGM.
Rot-Grün-Mitte und die absolute Macht
RGM steht für Rot-Grün-Mitte und ist seit über 30 Jahren eine Chiffre für die Macht. Zum RGM-Bündnis gehören heute die SP, das (sehr linke) Grüne Bündnis und die (etwas weniger linke) Grüne Freie Liste. Seit 1993 regiert RGM die Bundesstadt mit absoluter Mehrheit. In der Stadtregierung, dem Gemeinderat, hält RGM aktuell vier von fünf Sitzen. Der einzige Nichtlinke ist Reto Nause von der Mitte, der nun nach 16 Jahren abtritt.
Antreten will dafür Florence Pärli, die jetzt im Kreuz auf die Bühne tritt. Pärli war zwei Jahre alt, als Rot-Grün die Macht übernahm. Heute ist sie 33, Steuerjuristin beim Kanton Solothurn und FDP-Stadtparlamentarierin in Bern. Pärli erzählt von der Budgetdebatte im September, als die rot-grüne Mehrheit zum zweiten Mal in Folge einen hoch defizitären Voranschlag verabschiedete. Bürgerliche Sparanträge wurden abgeschmettert, stattdessen stockte die rot-grüne Parlamentsmehrheit den schon defizitären Budgetantrag der rot-grünen Stadtregierung weiter auf.
«Danach konnte ich die ganze Nacht nicht schlafen, weil ich tatsächlich nur noch rotsah», erzählt Pärli. Ihr Mann habe dann gesagt, wenn es in der Stadt Bern so schlimm sei, müssten sie sich vielleicht einen Wegzug überlegen. Doch anstatt wegzuziehen, will Pärli nun selber in der Regierung zum Rechten schauen. Jedes Jahr mache Bern rund 100 Millionen Franken neue Schulden. Künftige Generationen würden deswegen in der Gestaltung von Berns Zukunft eingeschränkt, weil sie Schulden amortisieren müssten, sagt Pärli. «Ich mache mir echte Sorgen um meine Stadt.»
Die FDP-Delegierten nominieren Pärli als ihre Kandidatin. Auch die vier anderen am Bündnis beteiligten Parteien werden für die gemeinsame Wahlliste je eine Kandidatin oder einen Kandidaten bestimmen. Die Wahlen finden zwar erst im November statt, doch die Parteien stellen die Weichen in diesen Tagen.
Der 6. Dezember 1992
«Es ist so gut wie sicher, dass das neue bürgerliche Bündnis der Linken einen Sitz wegnehmen wird», sagt der Politologe Werner Seitz. Er habe das mit verschiedenen Zahlen durchgerechnet.
Seitz rechnet so etwas nicht zum ersten Mal. 1992 war Seitz einer der Väter von RGM, zwar nicht als aktiver Politiker, aber als Mitglied eines dreiköpfigen Beratungsteams. Dieses half damals bei der Suche nach Kandidaturen, die von allen RGM-Parteien akzeptiert werden konnten. Zudem unterstützte Seitz RGM bei der Aushandlung der «Plattform», einer Art gemeinsamen Regierungsprogramms.
Dutzende Sitzungen seien dafür nötig gewesen, erinnert sich Seitz, damals 38 und heute 69 Jahre alt. Vor allem Teile der SP taten sich schwer damit, sich in ein breites Bündnis einzubringen und so ihre eigene Rolle als dominante linke Kraft zu relativieren. Als es schliesslich geschafft war, folgte der Erfolg postwendend: Am 6. Dezember 1992 eroberte die neue RGM-Koalition sensationell die Regierungsmehrheit.
Eine kleine Pointe der Geschichte: Die rot-grüne Zeitenwende in Bern ereignete sich am gleichen Sonntag, an dem Christoph Blocher und die Nationalkonservativen ihren ebenso historischen Abstimmungssieg gegen den EWR errangen.
Seither hat Rot-Grün die Macht in Bern nie mehr abgegeben. Die Bundesstadt entwickelte sich unter RGM in den letzten 30 Jahren zur linkesten aller Deutschschweizer Gemeinden; das hat der Politgeograf Michael Hermann wissenschaftlich nachgewiesen. Höchstens das welsche Lausanne tickt teilweise noch eine Spur linker.
Exotisches Berner Wahlsystem
Möglich wurde der damalige RGM-Wahlsieg und alle, die darauf folgten, auch dank des speziellen Berner Wahlsystems. Keine andere grosse Stadt wählt ihre Exekutive so wie Bern, nämlich im Proporz. Gewählt wird nicht automatisch die Person mit den meisten Stimmen, sondern die Sitze werden gemäss den Stimmenanteilen auf die Parteien verteilt. Dieses System bevorzugt grosse Parteienblöcke massiv: je breiter die Koalition, desto besser. So bekam RGM bei den Wahlen 2020 mit 63,7 Prozent der Wählerstimmen 80 Prozent der Regierungssitze.
Für Stadtpräsident Alec von Graffenried von der Grünen Freien Liste sind 30 Jahre RGM eine Erfolgsgeschichte. Bern sei in dieser Zeit «lebenswerter, besser und zukunftsfähiger» geworden. Er zählt auf: Im Verkehr habe RGM zuerst den ÖV stark ausgebaut und entwickle Bern nun zur «Velohauptstadt». Die Stadt habe die Quartiere freundlicher gestaltet, das Kulturangebot und die Kinderbetreuung ausgeweitet, und sie fördere den Bau preisgünstiger Wohnungen.
Auch die Wirtschaft entwickle sich unter RGM «dynamisch», sagt von Graffenried. So zögen nicht nur laufend neue Menschen in die Stadt, auch die Zahl der Arbeitsplätze steige – und dies, obwohl der Bund in den letzten Jahren Verwaltungseinheiten mit Tausenden von Stellen aus der Stadt ausgelagert habe. Diese Zuzüge seien «eine Abstimmung mit den Füssen» – und sie widerspreche dem negativen Bild, das teilweise von Bern gemalt werde, sagt der Stadtpräsident.
Von Graffenried verweist auf eine aktuelle Bevölkerungsumfrage, durchgeführt von der Stadt selber, gemäss der 97 Prozent der Bernerinnen und Berner «eher» oder «sehr gerne» in ihrer Stadt leben.
Rentenalter 63 für die städtischen Angestellten
Die bürgerlichen Kritiker von RGM zählen dafür auf, was in ihren Augen alles nicht funktioniert. Die Fusion mit Ostermundigen? 2023 gescheitert, weil die Stimmberechtigten der grossen Vorortgemeinde nicht mit der verschuldeten Stadt zusammengehen wollten. Das Mammutprojekt im «Viererfeld», wo ein ganzes Stadtquartier neu entstehen soll? Derzeit blockiert.
Vor allem werfen die Bürgerlichen RGM vor, das knappe Geld für Nice-to-have-Projekte aus dem Fenster zu werfen. So leistet sich die Stadt etwa Rentenalter 63 für alle ihre Angestellten. In den städtischen Tagesschulen arbeitet fast doppelt so viel Betreuungspersonal wie vom Kanton vorgeschrieben. Zum lokalen Aufreger wurde jüngst auch der Entscheid der rot-grünen Parlamentsmehrheit, 70’000 Franken für die private Seenotrettung im Mittelmeer zu sprechen.
Trotz all ihrer harten Kritik an RGM schafften es die Bürgerlichen in den letzten Wahlen nie, ihre Differenzen zu überbrücken, um Rot-Grün eine ebenso umfassende Mitte-Rechts-Koalition entgegenzustellen.
Warum wird das jetzt plötzlich möglich?
«Nach acht Jahren 1:4 ist der Leidensdruck bei den bürgerlichen Parteien schlicht zu gross geworden», antwortet FDP-Co-Präsident Lenzin. Zudem sei bei den diesjährigen Wahlen die Konstellation für einen Angriff besonders gut, weil neben Mitte-Mann Nause auch zwei Regierungsmitglieder der SP und des Grünen Bündnisses zurücktreten würden.
Ein weiterer Grund für den konzertierten Angriff sei, dass Rot-Grün «immer ideologischer» agiere, sagt Béatrice Wertli, früher Generalsekretärin der CVP Schweiz und nun die voraussichtliche Mitte-Kandidatin für die Stadtregierung. In den 2010er-Jahren – damals sass Wertli im Stadtparlament – habe man mit Rot-Grün wenigstens ab und zu Kompromisse machen können. «Das ist heute praktisch unmöglich», sagt Wertli. Die RGM-Parteien hätten heute eine derart erdrückende Mehrheit, dass sie sich bei ihren politischen Projekten gar nicht mehr anstrengen müssten.
Wird die neue bürgerliche Konkurrenz das ändern?
GLP streitet sich wegen der SVP
Noch ist der Schulterschluss von Mitte-rechts nicht gesichert. Vor allem in der GLP ist er umstritten. Interne Kritiker stossen sich daran, dass sich ihre Partei mit der rechtskonservativen SVP verbünden soll. «Ich kann den Entscheid der Parteileitung nicht mit meinem politischen Kompass vereinbaren», sagt Michael Ruefer, immerhin Ex-Präsident der Stadtberner GLP.
Der amtierende Parteipräsident Michael Hoekstra hingegen sagt, die Allianz sei bloss ein «Zweckbündnis». Welches Lager sich in der GLP durchsetzt, entscheidet sich am Dienstag an einer Parteiversammlung – die Medien werden ausgesperrt. Die Linke jedenfalls schiesst sich bereits auf das neue Bündnis ein. «Wer GLP wählt, wählt SVP», schrieb SP-Co-Präsidentin Lena Allenspach auf X.
Allerdings sind die Chancen, dass ausgerechnet die SVP dank «Gemeinsam für Bern» einen Regierungssitz erobern könnte, nur «dürftig», wie selbst SVP-Präsident Thomas Fuchs zugibt.
Politologe Seitz gibt Fuchs recht. Laut seiner Einschätzung hat just die GLP, die sich am schwersten mit dem Bündnis tut, die besten Chancen, auf diese Weise einen Sitz zu erobern, möglicherweise mit Nationalrätin Melanie Mettler. Der Grund: Die GLP ist die wählerstärkste der fünf beteiligten Parteien. Den zweiten bürgerlichen Sitz dürften FDP-Frau Florence Pärli und Mitte-Kandidatin Béatrice Wertli unter sich ausmachen.
Doch welche der drei RGM-Parteien wird einen Sitz verlieren?
Der Stadtpräsident muss zittern
Die beiden SP-Sitze seien aus heutiger Sicht einigermassen sicher, glaubt Politologe Seitz. Neben der Bisherigen Marieke Kruit schickt die SP voraussichtlich Nationalrat Matthias Aebischer ins Rennen – soeben wollte er noch Bundesrat werden, nun visiert er die Stadtregierung an.
Wirklich zittern müssen das Grüne Bündnis und seine bis jetzt wenig bekannte Kandidatin Ursina Anderegg. Und auch Alec von Graffenried, der Stadtpräsident höchstpersönlich, muss die Abwahl fürchten.
An der Versammlung im Kreuz sammelt die FDP schon mal Geld für den Wahlkampf. Auf einem Plakat klebt ein Twint-Code und daneben steht (kleiner Scherz): «Damit das FDP-Budget für den Wahlkampf 2024 nicht dem Budget der Stadt Bern gleicht!»
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