Vor Donald Trumps RückkehrJoe Biden, der verschollene Präsident
«Lame ducks» sind die Amerikaner gewohnt. Aber wie sehr der scheidende Präsident nun die Zügel fahren lässt, enttäuscht viele Demokraten.

- Präsident Joe Biden lässt sich in der Öffentlichkeit kaum noch blicken.
- Sein einziger bekannter Termin bis zum Ende der Amtszeit ist eine Reise zum Papst im Vatikan.
- Sein Schweigen zu Donald Trumps Aktionismus enttäuscht viele Demokraten.
- Beim Shutdown-Streit war Biden komplett abwesend.
Beim ersten Mal entfährt fast allen Besuchern des Weissen Hauses dieselbe Bemerkung: Es wirkt so klein! Das Bundeskanzleramt in Berlin wird gerade um 400 Büros erweitert, der Élysée-Palast in Paris zählt 365 Räume. Dagegen nimmt sich der nüchterne Bau an der Pennsylvania Avenue in Washington mit 132 Zimmern geradezu bescheiden aus. Das Stein gewordene Ideal einer Regierung, die im Zaum gehalten werden soll in diesem Land der Freien, Heimat der Mutigen.
In den letzten Tagen seiner Präsidentschaft erweckt Amtsinhaber Joe Biden allerdings den Eindruck, die zurückhaltende Ausübung der Exekutivgewalt allzu wörtlich zu nehmen. Sein Mandat dauert bis am Mittag des 20. Januar 2025. Erst dann wird Donald Trump eingeschworen und darf wieder ins Weisse Haus einziehen. Doch der inzwischen 82-jährige Biden lässt sich seit seinem eher unfreiwilligen Abschied aus dem Wahlkampf Mitte Juli nur noch selten in der Öffentlichkeit blicken.
Jill Bidens Ehemann
Zunächst wurde ihm das hoch angerechnet. Als Einsicht, dass seine schlechten Umfragewerte auch für Vizepräsidentin Kamala Harris eine Belastung waren. Allerdings ging Biden selbst dann nicht in die Gegenoffensive, als Donald Trump die Wahl gewonnen hatte. Im Gegenteil. Der Kalender des ältesten Präsidenten in der Geschichte des Landes leerte sich sehr schnell. Er flog noch nach Angola und in den Amazonas, als erster US-Präsident. Doch in den vergangenen zwei Wochen führte er nur vier öffentliche Auftritte in seiner Agenda.
Beim Weihnachtsbesuch in einem Kinderspital las die First Lady ein Bilderbuch vor. Der Präsident hielt sich einen roten Ball an die Nase, während ein Dreikäsehoch in seinen Schoss zu steigen versuchte. Am Chanukka-Empfang im Weissen Haus lachte das Publikum höflich, als sich Joe Biden nicht ganz zum ersten Mal als «Jill Bidens Ehemann» vorstellte. Nun sind die beiden erst mal auf die Karibikinsel Saint Croix für ihre Weihnachtsferien geflogen, im Januar wird der tiefgläubige Katholik noch zu Papst Franziskus nach Rom reisen. Weitere Pläne für den Rest seiner Amtszeit sind nicht bekannt.
Enttäuschung über die lahme Ente
«Lahme Ente» nennen die Amerikaner Präsidenten, die ihre politische Durchsetzungskraft verloren haben. Fremd ist ihnen das Phänomen keineswegs. Das linke Lager hofft darauf, Trump nach den Zwischenwahlen in zwei Jahren eine «lame duck» schimpfen zu können, wenn die Amerikaner seiner überdrüssig sind und wieder eine Mehrheit von Demokraten ins Repräsentantenhaus wählen.
Wie sehr Joe Biden derzeit die Zügel fahren lässt, enttäuscht viele Amerikaner dann doch. Eindringlich hatte der Präsident davor gewarnt, welche Gefahr sein Vorgänger für die Demokratie darstelle, falls er noch einmal ins Weisse Haus gelange. Nun, da Trump mit seinen Nominierungen für die Chefposten in der Justiz die schlimmsten Befürchtungen bekräftigt, scheint Biden kaum etwas zu unternehmen. Schnell handelte er einzig, als er seinen verurteilten Sohn Hunter Biden mit einer umfassenden Begnadigung bedachte, obwohl er stets gelobt hatte, genau das nicht zu tun. Immerhin sprach Biden dann noch mehr als 1500 weitere Begnadigungen aus. Auch wandelte er fast alle Todesurteile nach Bundesrecht in lebenslange Haftstrafen um, bevor Donald Trump zurückkehrt. Der Republikaner hatte schon in seiner ersten Amtszeit die lange pausierte Vollstreckung der Todesstrafe auf Bundesebene wiederaufgenommen.
Das Schweigen zum drohenden Shutdown
Aber Biden schwieg unter anderem, als Trump vor Weihnachten einen Stillstand der Bundesverwaltung provozierte. Tagelang trieben der künftige Präsident und sein wichtigster Einflüsterer und Geldgeber Elon Musk den Kongress via soziale Medien vor sich her. Ihre widersprüchlichen Forderungen führten das Land an den Rand der Handlungsunfähigkeit, bevor schliesslich ein Kompromiss gelang. Kein Wort dazu verlor der Chef der betroffenen Verwaltung und Präsident der betroffenen Bevölkerung. Auch Trumps aussenpolitischem Aktionismus hat Biden kaum etwas entgegenzusetzen, selbst wenn der künftige Präsident laut darüber nachdenkt, Grönland und den Panamakanal zu übernehmen.
Biden scheint damit Medienberichte über seine nachlassende Energie zu bestätigen. Gemäss «Wall Street Journal» hatte sich sein Zerfall bereits in den ersten Monaten im Amt bemerkbar gemacht, sein Umfeld habe ihn abgeschirmt. Sogar Demokraten beklagen sich inzwischen öffentlich darüber, sie hätten Biden in dringenden Fällen nicht sprechen können.
Sprecherin Karine Jean-Pierre verteidigt den Präsidenten. Sein Abseitsstehen beim Shutdown-Theater stellte sie als ausgeklügelte Strategie dar, um die Republikaner als Chaostruppe zu entlarven. Ausserhalb des Weissen Hauses nährte sie eher den Verdacht, dass der Präsident vielleicht doch in dem Gebäude verloren gegangen sei, das so überraschend klein wirkt.
Fehler gefunden?Jetzt melden.