Abstimmung vom 25. SeptemberUeli Maurer und der Zahlensalat zur Verrechnungssteuerreform
Der Finanzminister sagt, 60 Prozent des Obligationenvolumens seien ins Ausland abgewandert. Wie diese Zahl zustande gekommen ist, gibt sein Departement nicht bekannt.
Der Satz klingt auf den ersten Blick dramatisch. «In den letzten zwölf Jahren sind bereits 60 Prozent des Obligationenvolumens ins Ausland abgewandert», sagte Ueli Maurer Ende August in einem Interview mit den Zeitungen von CH Media. In anderen Worten: Der Markt sei zusammengekracht. Der Finanzminister wollte damit beschreiben, warum aus seiner Sicht Handlungsdruck bei der Verrechnungssteuer besteht.
In Kurzform geht es um Folgendes: Die Verrechnungssteuer ist ein Hemmschuh für den heimischen Markt für Obligationen, also Anleihen für Firmen und die öffentliche Hand. Insbesondere Firmen nehmen lieber im Ausland auf diese Weise frisches Kapital auf. Ihre Gläubiger kommen so um administrativen Aufwand herum, der ihnen durch die Steuer entsteht – selbst wenn diese am Schluss zurückerstattet wird. Das Stimmvolk entscheidet am 25. September, ob die Steuer auf inländische Obligationen abgeschafft wird.
Tatsächlich ist die Schweiz, anders als in anderen Segmenten des Finanzplatzes, bei Obligationen international gesehen ein kleiner Fisch. Eine spektakuläre, in diesem Abstimmungskampf oft herumgereichte Zahl: Der Obligationenmarkt in Luxemburg ist proportional zur Wertschöpfung des Landes 190-mal grösser als jener der Schweiz.
Nimmt man jedoch die öffentlichen zugänglichen Statistiken zur Hand, lässt sich Maurers Aussage vom in sich zusammensackenden Schweizer Obligationenmarkt nicht erhärten. So zeigen Zahlen der Börsenbetreiberin SIX, dass 2013 in der Schweiz total Obligationen im Volumen von weniger als 80 Milliarden Franken herausgegeben wurden. 2021 waren es 90 Milliarden. Diese Zahlen bilden zwar nicht die von Maurer angesprochenen zwölf Jahre ab, zeigen jedoch einen ganz anderen Trend.
Auf eine Anfrage, wie Maurers Aussage zustande komme, antwortet eine Sprecherin der Finanzdirektion, das Volumen der Schweizer Unternehmensanleihen betrage etwa 800 Milliarden Franken. Davon seien 60 Prozent im Ausland emittiert. Gemeint dürften die ausstehenden Obligationen sein, nicht die jeweils neu ausgegebenen.
«Mit anderen Worten: Schweizer Unternehmen finanzieren sich überwiegend im Ausland statt im Inland», schreibt die Sprecherin. Als Quelle nennt sie die Bank für internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) mit Sitz in Basel.
Keine «Abwanderung» in hohem Mass
Der Bitte, mit Verweis auf konkretere Quellen aufzuzeigen, wie genau «60 Prozent des Obligationenvolumens ins Ausland abgewandert» sind, kommt sie nicht nach. Auf die Bitte, die Diskrepanz zur Statistik von SIX zu erklären, schreibt sie: «Die genannten Zahlen sind korrekt. […] Wir bitten Sie um Verständnis, dass wir darauf nicht weiter eingehen und diese Antwort abschliessend ist.» Ein Versuch, die Zahlen bei der BIZ zu bestätigen, blieb ebenfalls ergebnislos.
Die plausibelste Lesart von Maurers Aussage ist, dass Schweizer Unternehmen ihr Gesamtvolumen an Obligationen erhöht haben, der absolute Anteil der Schweiz jedoch einigermassen konstant geblieben ist.
Ein weiterer bemerkenswerter Aspekt der Diskussion ist, dass Maurers Aussage damit selbst mit dem Abstimmungsbüchlein über Kreuz liegt. «So war 2020 der Wert der neu ausgegebenen Obligationen im Vergleich zum Jahr 2010 um rund 20 Prozent tiefer», steht dort mit Verweis auf die Statistik-Website der Nationalbank (SNB). Eine «Abwanderung» im Ausmass, wie Maurer es geltend macht, ist also auch dort nicht zu sehen.
Das Chaos wird dadurch komplett gemacht, dass die SNB-Statistik in diesem Kontext ebenfalls nur begrenzt aussagekräftig ist. So sind dort nur Franken-Obligationen aufgeführt, obwohl viele Fremdwährungs-Obligationen auch verrechnungssteuerpflichtig sind.
Weiter zeigt die SNB-Statistik, dass der Markt mit inländischen Obligationen, auf die grösstenteils Verrechnungssteuer bezahlt werden muss, im entsprechenden Zeitraum um 40 Prozent gewachsen ist. Jener für ausländische Obligationen brach dagegen um über 70 Prozent ein.
Daraus den Schluss zu ziehen, dass die Verrechnungssteuer keine Rolle für die Standortattraktivität spiele, wäre aber falsch: Das Wachstum inländischer Obligationen hat insbesondere mit dem Hypothekenboom zu tun. Dieser wird von den Banken über im Inland ausgegebene Obligationen refinanziert. Mit einer erhöhten Vergabetätigkeit der restlichen Wirtschaft dagegen hat das Wachstum wenig zu tun.
Auch die Entwicklung der aufgeführten ausländischen Obligationen spielt keine wichtige Rolle bei dieser Abstimmung, weil zu deren Ausgabe kaum Wertschöpfung im Inland – und das ist eines der Ziele der Reform – generiert wird. «Die Abstimmungserläuterungen sollen knapp und allgemein verständlich sein», schreibt Maurers Sprecherin dazu. «Solch komplexe Zusammenhänge können da nicht erörtert werden.»
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