Interview zum Erdbeben bei Istanbul«Im Grunde hat die Bevölkerung Glück im Unglück gehabt»
Jonas Junker vom Schweizerischen Erdbebendienst erklärt, wieso es in der Region zu vielen Erschütterungen kommt – und ob sich ein verheerendes Beben ankündigt.

Die Erdbebenserie nahe der türkischen Metropole Istanbul reisst nicht ab. Auch am Donnerstag hat die Erde erneut mit Magnituden bis 4,6 gebebt. Das Hauptbeben ereignete sich am Mittwoch mit einer Magnitude von 6,2. Es war die schwerste Erschütterung in der Region seit mehr als 25 Jahren. Nach Angaben des Gesundheitsministers Kemal Memişoğl gab es mehr als 200 Verletzte. Rund 100’000 Menschen in Istanbul wurden mittlerweile in Notunterkünften wie Schulen, Moscheen und Logistikzentren aufgenommen.
Damit kam die 16-Millionen-Metropole aber nochmals glimpflich davon. Denn die geologischen Strukturen in der Region um das Marmarameer gehören zu den risikoreichsten weltweit. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts sind dort bei Starkbeben mit Magnituden stärker als 7 mehr als 20’000 Menschen gestorben. Waren die Erschütterungen der vergangenen Tage die Vorboten einer drohenden Katastrophe? Jonas Junker vom Schweizerischen Erdbebendienst (SED) an der ETH Zürich ordnet ein.
Herr Junker, wie ist die aktuelle Erdbebensituation bei Istanbul einzuordnen?
Im Grunde hat die Bevölkerung von Istanbul nochmals Glück im Unglück gehabt. Das Epizentrum des Erdbebens vom Mittwoch lag etwa 70 Kilometer westlich der Stadt in rund zehn Kilometern Tiefe im Marmarameer. Die grössten Erschütterungen hat Istanbul aufgrund der Entfernung gar nicht abbekommen. Aber die Bruchzone, die nordanatolische Verwerfung, welche die eurasische und die anatolische tektonische Platte auf einer Länge von mehr als 1000 Kilometern trennt, liegt so, dass sich schwere Erdbeben auch deutlich näher bei Istanbul ereignen könnten.
Warum gibt es dort so häufige und starke Erdbeben?
Die anatolische Platte bewegt sich mit etwa 20 Millimetern pro Jahr westwärts an der eurasischen Platte vorbei. Dabei baut sich über die Jahre und Jahrzehnte eine Spannung auf, die sich spontan in Erdbeben entladen kann. Die Situation ist vergleichbar mit der San-Andreas-Verwerfung in Kalifornien, wo es eine ähnliche Verschiebung von Erdplatten gibt.

In der Gegend hat es ja in der Vergangenheit schon grosse Erdbeben gegeben.
Ja. Etwa 80 Kilometer westlich des Erdbebens vom Mittwoch im Marmarameer ereignete sich das letzte grössere Beben 1935 mit einer vergleichbaren Magnitude von 6,3. In der Region kamen aber schon deutlich stärkere Beben vor. 1999 ereignete sich circa 80 Kilometer östlich von Istanbul ein Erdbeben der Magnitude 7,5. Besonders stark betroffen war die Stadt İzmit. Direkt südlich von Istanbul liegt aber der einzige Bereich der gesamten nordanatolischen Verwerfung, der seit mehr als 250 Jahren kein Starkbeben mehr generiert hat. Daher gilt ein Erdbeben mit einer Magnitude 7 oder mehr dort als zu erwarten. Denn die vergleichsweise kleinen Beben wie die vom letzten Mittwoch können die grossen Spannungen im Untergrund nicht abbauen.
Wie viel schlimmer als das aktuelle Beben mit Magnitude 6,2 wäre denn ein Beben mit Magnitude 7,5 wie beispielsweise in İzmit?
Ein Erdbeben der Magnitude 7,5 setzt rund 100-mal so viel Energie frei wie eines mit Magnitude 6,2. Ein Beben dieser Stärke in unmittelbarer Nähe von Istanbul wäre daher absolut verheerend.
Haben die aktuellen Erdbeben die befürchtete grössere Erschütterung wahrscheinlicher gemacht?
Generell ist nach grösseren Beben die Wahrscheinlichkeit für weitere grosse Beben erhöht. Diese Wahrscheinlichkeit geht dann in den Tagen nach dem Hauptbeben zurück. Aktuell zeigt sich daher in der Tat eine etwas erhöhte Wahrscheinlichkeit für ein Nachbeben, das gleich stark oder sogar noch stärker sein könnte als das Hauptbeben vom Mittwoch. Diese Wahrscheinlichkeit liegt aber immer noch in einem tiefen Prozentbereich. Es ist generell sehr schwierig, die Wahrscheinlichkeit für künftige Erdbeben zu quantifizieren. Zum Beispiel gab es etwa eine halbe Stunde vor dem Hauptbeben auch schon ein Beben der Magnitude 3,9. Da konnte man auch nicht sagen, dass ein Beben der Magnitude 6,2 folgen wird.
Wie gut oder schlecht ist Istanbul auf ein schweres Erdbeben vorbereitet?
In Istanbul gibt es teilweise sehr alte, mehrstöckige Häuser, die noch nicht wirklich erdbebensicher gebaut wurden. Wir haben es dort auch mit einem sehr weichen Untergrund zu tun, mit Schwemmsediment, das die Schwingungen des Erdbebens verstärken kann. Und es könnte auch zu Bodenverflüssigungen kommen. Daher kann ein Erdbeben destruktiver wirken, als wenn Istanbul zum Beispiel auf einem Fels liegen würde.
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