Körperdysmorphe Störung«Als ich mich im Spiegel sah, erschrak ich furchtbar»
Marco Seiler leidet an einer Entstellungsangst – und lebt komplett zurückgezogen. Er ist damit nicht allein. Doch auf eine Diagnose warten Betroffene meist lange.

- Eine körperdysmorphe Störung führt bei zwei Prozent der Bevölkerung zu Entstellungsängsten.
- Betroffene verbringen täglich mehrere Stunden mit der Kontrolle ihres Aussehens.
- Kognitive Verhaltenstherapie zeigt bessere Erfolge als plastisch-chirurgische Eingriffe.
- Hausärztinnen spielen eine zentrale Rolle bei der Früherkennung dieser Krankheit.
Begonnen hat es, als Marco Seiler noch ein kleines Kind war. Ungefähr mit fünf. Er war mit seinen Eltern unterwegs im Zürcher Hauptbahnhof. Da schaute er einmal zufällig nach oben, an eine verspiegelte Decke: «Als ich mich selber im Spiegelbild sah, erschrak ich furchtbar», erinnert sich Marco Seiler, der in Wirklichkeit nicht so heisst, an diesen schicksalhaften Moment. «Was mich damals störte, war mein Gesicht. Später kamen weitere Makel hinzu, zum Beispiel die Haare und schliesslich der ganze Körper.»
Der heute 42-jährige, im Kanton Luzern wohnhafte Marco Seiler leidet an einer sogenannten Entstellungsangst oder fachsprachlich körperdysmorphen Störung (KDS). «Fast zwei Prozent der Menschen sind von einer KDS betroffen», sagt die psychologische Psychotherapeutin und Wissenschaftlerin Marie Drüge, die an der Universität Zürich auf diesem Gebiet forscht. Es gebe jedoch grosse Schwankungen, je nach Sektor, wo die Zahlen erfasst würden: in psychiatrisch-stationären Einrichtungen (7,4 Prozent), in der ambulanten Psychotherapie (5,8 Prozent) oder in der plastischen Chirurgie (bis 20 Prozent).
Krankhaft unzufrieden mit dem Körper
Marco Seiler ist unzufrieden mit seinem Körper. Wann aber ist die Unzufriedenheit krankhaft? Viele Menschen tun sich schwer mit irgendeinem Körperteil: Den einen ist die Nase zu spitz, den anderen passen Haut oder Haare nicht, eine findet ihre Brust zu klein. «Es ist tatsächlich recht üblich, einzelne Körperteile mal mehr und mal weniger zu mögen oder auch über eine lange Zeit», bestätigt Drüge. «Mit Social Media hat zudem diese Unzufriedenheit grundsätzlich zugenommen.»
Die Bewertung in Form von Likes/Dislikes prägen laut der Wissenschaftlerin unser Selbstbild zunehmend. Verstärkt noch durch regelmässige Videocalls, bei denen das eigene Aussehen fortwährend kontrolliert und beurteilt werden kann. So gaben bei einer Befragung von der Zeitschrift «Glamour» im vergangenen Jahr 80 Prozent von 1000 Befragten zwischen 18 und 40 an, sich nach dem Blick in den Spiegel schlechter zu fühlen, und 54 Prozent erklärten, mit dem Körper unzufrieden zu sein.
An der Spitze der körperlichen Negativskala stehen Haut, Haare und Nase. Frauen hadern besonders mit der Brust und die Männer mit dem Körperbau. «Vielfach sind die bemängelten Körperteile diejenigen, die als typisch männlich respektive weiblich gelten», sagt Marie Drüge und betont: «Dies hat jedoch alles noch nichts mit einer körperdysmorphen Störung zu tun.»
Exzessive Beschäftigung mit dem Aussehen
Wer an einer Entstellungsangst leidet, dessen Unzufriedenheit geht weit über das normale Mass hinaus. Diese Menschen sind nicht nur während des Videocalls oder vor dem Spiegel mit ihrem Makel konfrontiert. Die körperdysmorphe Störung ist eine verzerrte Wahrnehmung des persönlichen Erscheinungsbildes.
Drüge: «Sie äussert sich durch eine exzessive Beschäftigung mit dem Aussehen, viele Stunden täglich, verbunden mit einem intensiven Leidensdruck.» Die Betroffenen entwickelten Verhaltensweisen, um ihr Aussehen ständig zu überprüfen, anzupassen oder auch zu verstecken. Zeitaufwendige Rituale und begleitende Depressionen oder Suizidalität in der Folge erhöhten die Belastung zusätzlich. Dadurch seien die Menschen immer weniger in der Lage, den normalen Alltag zu bewältigen.
So leidet Marco Seiler unter einem zwanghaften Kontrollieren im Spiegel. «Wenn ich draussen unterwegs bin, schaue ich bei jeder Gelegenheit in einen Spiegel.» Dies gehe so weit, dass er an irgendeiner Bahnstation aussteige, nur weil es dort ein WC habe und er sich im Spiegel kontrollieren könne.
Die Betroffenen erhalten oftmals erst spät die korrekte KDS-Diagnose, nach einer langen Reihe anderer Befunde. Vielfach erst, wenn durch die Störung eine Depression oder Suizidalität ausgelöst wurde. Auch bei Marco Seiler dauerte es lange, bis er einen Namen für sein sonderbares Verhalten hatte: «Die Diagnose von einem Arzt habe ich erst Anfang zwanzig erhalten.» Mit Mühe und Not schaffte er es davor, eine Lehre abzuschliessen. Nach der Lehre arbeitete er in verschiedenen Callcentern, da war man flexibler. Verschiedene Arbeitsversuche scheiterten jedoch. Am Ende konnte Marco Seiler die Miete seiner ersten eigenen Wohnung nicht mehr bezahlen, trotz Bankkredit. Er musste sich seinen Eltern erstmals anvertrauen – und stiess dabei auf wenig Verständnis.
Kognitive Verhaltenstherapie hat sich bewährt
Zur Behandlung der KDS hat sich laut Marie Drüge bisher am besten die kognitive Verhaltenstherapie bewährt. Dabei wird mit dem Spiegelbild gearbeitet, um so Vermeidungsverhalten abzubauen. Parallel dazu können auch Antidepressiva verabreicht werden. Von plastischer Chirurgie rät die Psychotherapeutin ab. Das psychische Problem lässt sich nicht mit dem Skalpell lösen. Oftmals verschiebt sich die Störung danach auf einen anderen Körperteil, oder das Ergebnis der Operation wird als unbefriedigend empfunden, oft verbunden mit Schuldgefühlen.
Dessen ungeachtet unterziehen sich KDS-Betroffene häufig wiederholt Schönheitsoperationen. Und wenn keine Chirurgin, kein Chirurg dazu bereit ist, gehen sie ins Ausland. Es sind Fälle bekannt von bis zu 15-maligen Nasenkorrekturen. Dies schädige nicht nur die Nase, sondern führe zu hohen Kosten und zu Überschuldung, sagt die Wissenschaftlerin Drüge. Manche Betroffene schreckten auch nicht vor risikoreichen Selbstoperationen zurück, insbesondere an der Haut.
Für Marco Seiler war plastische Chirurgie ebenfalls ein Thema: «Ich wollte ein markanteres Kinn.» Doch es blieb beim Beratungstermin beim Chirurgen. Er liess sich indes Hyaluron in die Wangen spritzen. Gebracht hat es nichts.
«Die Fokussierung auf einen vermeintlichen Makel ist für mich ein Warnsignal.»
Die plastische Chirurgin Anna Burger kennt dieses Problem aus ihrer 15-jährigen Berufspraxis gut, lange Jahre am Universitätsspital Zürich und heute an der Klinik Tiefenbrunnen für plastische und ästhetische Chirurgie. Es kommen immer wieder KDS-Patienten und -Patientinnen zu ihr. Am Universitätsspital waren es häufig auch Jugendliche. Heute kommen zu ihr vor allem Menschen in der Lebensmitte, Männer und Frauen gleichermassen.
Mit welchen Änderungswünschen wird die Chirurgin konfrontiert? «‹Ich sehe müde aus!› – und das soll als Ganzes korrigiert werden», hört Burger zum Beispiel häufig. Bei Patientinnen und Patienten mit KDS dagegen gehe es beispielsweise nur um die eine Falte, die unbedingt wegmüsse. «Diese Fokussierung auf einen vermeintlichen Makel ist für mich ein Warnsignal.» Vielfach litten diese Patientinnen und Patienten unter begleitenden Erkrankungen wie Depressionen oder sozialem Rückzug, was sich nicht zuletzt an ihrem Auftreten zeige, wie sie dasässen oder gekleidet seien.
Burger nimmt sich dann viel Zeit, um zu ergründen, warum dieser «Makel» so stört, und versucht das Gespräch sanft auf andere Hilfen als Chirurgie zu lenken. «Diese Menschen fühlen sich entstellt und sind ernst zu nehmen. Dennoch muss man auch Nein sagen können», betont Burger. Es liege dann an ihr, zu schauen, bei welchem Therapeuten die Betroffenen gut aufgehoben seien.
Schlüsselrolle der Hausärzte
Nicht nur Fachleute der plastischen Chirurgie, sondern auch Hausärztinnen und Hausärzte spielen eine Schlüsselrolle. Diese haben oft ein langjähriges Vertrauensverhältnis zu ihren Patientinnen und Patienten. Sie können laut Drüge am besten in der Grundversorgung frühzeitig erkennen, ob jemand die entsprechenden Symptome entwickelt hat: mit einer gezielten Untersuchung, einer umsichtigen Gesprächsführung sowie dem Wissen um die Besonderheiten der Krankheit. Dazu gehören unter anderem eine schwankende Krankheitseinsicht und eben vielfach der Wunsch nach plastisch-chirurgischen Massnahmen.
Zehn Jahre lang hat Marco Seiler einen Psychiater besucht. Bisher ohne Erfolg. Inzwischen bezieht er eine IV-Rente, nachdem etliche Arbeitsversuche auf dem zweiten Arbeitsmarkt ebenfalls gescheitert sind. Er lebt komplett zurückgezogen.
Am Unverständnis seiner Familie hat sich ebenfalls nichts geändert. Er hat kaum noch Kontakt zu ihr. Auch wenn es mit einer Beziehung zu einer Frau noch nicht geklappt hat, hat er wenigstens mittlerweile einen guten Freund gefunden, der seine Krankheit akzeptiert. Ausserdem besucht er regelmässig eine Selbsthilfegruppe, die ihm Halt gibt.
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