Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen

Streit um Uferzugang
Wem gehören die Schweizer Seeufer?

Nah am Wasser: Martin und Regula Furter kommen seit 20 Jahren nach Merlischachen – jetzt droht der exklusive Seezugang zu verschwinden.
Jetzt abonnieren und von der Vorlesefunktion profitieren.
BotTalk

Martin Furter und seine Familie fragen sich: Ist das der letzte Sommer an diesem Ufer? Vor 20 Jahren sind sie erstmals hierhergekommen, auf dem Weg vom Baselbiet machten sie damals Halt in der Innerschweiz, am Vierwaldstättersee, auf dem Campingplatz Merlischachen. Heute kommen sie immer noch, jedes Jahr, drei Wochen am Stück, ihr Sommer am See.

Der letzte Sommer, Micha Eicher hat ihn in einem Bildband festgehalten. Denn bald soll Schluss sein mit dem Campingplatz in Merlischachen, der an diesem grellen Sommertag gewissermassen im Gnadenlicht erstrahlt. Es ist eine kleine Lokalposse: Das Land am See wurde in immer kleinere Parzellen geteilt, die meisten davon an einen Architekten verkauft.

Mit dem Land, das Pächter Jürg Lustenberger bleibt, kann er keinen Campingplatz mehr betreiben. Irgendwann wird umgezont und dann überbaut werden, irgendwann könnte im Herbst, im Winter, nächsten Frühling sein. Eicher ist Journalistin und Fotografin, auch sie kommt seit Jahren auf den Campingplatz, sie sieht in ihm etwas ganz Besonderes. Und sein Verschwinden wirft für sie eine Frage auf, die im ganzen Land immer wieder auftaucht: Wem gehören die Schweizer Seeufer?

Dass Schweizer am Ufer wohnen wollen, ist ein neueres Phänomen

Wer in welcher Form am Wasser verweilen darf, das ist in diesem Land seit jeher ein Politikum. Es gibt rund 1260 Quadratkilometer Seefläche in der Schweiz, ohne Stau- und kleinere Bergseen, rund 1000 Kilometer ergeben all die Ufer aneinandergereiht, vom Léman bis an den Bodensee. Dass die Ufer heute so begehrt sind, hängt auch mit der Entwicklung der Wasserqualität zusammen. Noch in den Fünfzigerjahren flossen Siedlungs- und Industrieabwasser zum Teil ungefiltert in die Flüsse und Seen, die Fische starben in Massen, bis in die Sechzigerjahre stellten die Behörden am Neuenburgersee oder an der Aare auch Warntafeln für die Bevölkerung auf. Dann fand ein Umdenken statt, jeder Haushalt ist heute an eine Kläranlage angeschlossen, für Gewerbe und Industrie gibt es strenge Abwasservorschriften. 

Das hat das Verweilen am See reizvoller gemacht. Der «Blick» hat für die Deutschschweiz einst nachgerechnet: Nur 43 Prozent der untersuchten Seeufer sind zugänglich, 34 Prozent sind verbaut und in Privatbesitz. Direkter Seeanstoss zählt mit zum Teuersten, was man sich in diesem Land leisten kann: Der durchschnittliche Quadratmeterpreis beträgt in der Schweiz 1320 Franken, direkt an einem See sind es dann eher zwischen 7000 und 15’000 Franken. Auf dem Campingplatz Merlischachen darf man sich auf Parzellen von etwa 200 Quadratmetern für 40 bis 50 Franken pro Nacht ausbreiten. «Das ist für mich das beste Argument für einen Campingplatz am See – er bietet der Allgemeinheit ein Stück zeitlich begrenzte Exklusivität», sagt die Buchautorin Micha Eicher. Jetzt soll wieder ein solches Stück Allgemeinfläche verschwinden.

Fotobuch Der letzte Sommer von MICHA EICHER (Letzte Saison vom Campingplatz in Merlischachen)

Landauf, landab hat es immer wieder Vorstösse gegeben, um die Seeufer zugänglicher zu machen. Bei einem Teil der Öffentlichkeit stossen sie in der Regel auf grossen Zuspruch, nicht selten aber werden sie dann von Kantonen und Gemeinden ausgebremst – wer will schon seine finanzkräftigsten Steuerzahler vergraulen? Zuletzt versuchte ein Initiativkomitee im Kanton Zürich, die Sicherstellung eines öffentlichen Uferzugangs in der Verfassung zu verankern – vergeblich. 2021 zielte eine parlamentarische Initiative der Grünen Fraktion darauf ab, die Gesetze so anzupassen, dass alle Seeufer auf Schweizer Boden durchgängig zu Fuss erreichbar sein müssen. Auch dieses Begehren fand keine Mehrheit. Begründung der zuständigen Kommission: Die Initiative würde das Privateigentum zu stark tangieren.

Das Einzige, was punkto Uferzugang auf nationaler Ebene festgehalten ist, steht im 1979 verabschiedeten Raumplanungsgesetz (RPG). Vereine wie «Rives Publiques», die für mehr öffentlichen Seezugang kämpfen, setzen sich seit Jahren dafür ein, dass das RPG angepasst wird. Unter Artikel 3 heisst es zum Thema Planungsgrundsätze in Absatz 2 einzig: «Die Landschaft ist zu schonen. Insbesondere sollen See- und Flussufer freigehalten und öffentlicher Zugang und Begehung erleichtert werden».

Enteignung ist nicht per se auszuschliessen

«Natürlich ist das sehr breit gefasst», sagt Samuel Kissling, Leiter Recht bei Espace Suisse, dem Schweizer Verband für Raumplanung. Espace Suisse hat unlängst einen Praxiskommentar zum RPG herausgegeben. Dort wird moniert, dass der Abschnitt zu den Seeufern kaum etwas konkret regelt. Was zum Beispiel unter «erleichtern» zu verstehen ist, wird ebenso wenig klar wie bei «freihalten» – zwar implizieren die Begriffe den Verzicht auf neue Bauten im Uferbereich, aber sie verbieten sie auch nicht explizit. Die Autorenschaft des Kommentars kommt zum Schluss, dass das Gesetz grundsätzlich «dem Umstand Rechnung trage, dass der Uferbereich nicht nur als Ort gesellschaftlicher Erholung dient; sondern genauso Lebensraum für Pflanzen und Tiere ist, deren Schutz ein Zugänglichmachen der Ufer in der Regel gerade verbietet».

Lies: Nebst privaten und öffentlichen Interessen gibt es noch einen Aspekt, der beim Zugang der Schweizer Seeufer berücksichtigt werden muss, und zwar der Umweltschutz. Jüngst musste etwa der Campingplatz im Berner Seeland bei Gampelen schliessen, weil die dortige Uferzone künftig unter Naturschutz steht.

Juristisch ist der Fall in Merlischachen klar: Privater Grund bleibt privater Grund, aus dem Campingplatz werden Wohnhäuser entstehen. Doch dass gerade ein Campingplatz an einem Seeufer für die Öffentlichkeit sehr nützlich ist, dem sieht Micha Eicher in der Debatte keine Rechnung getragen. Aktuell gibt es auf dem Grundstück über 8000 Quadratmeter, die unverbaut direkt ans Wasser grenzen und die prinzipiell jedem, der sich einmieten will, zur Verfügung stehen. Künftig ist lediglich ein schmaler Zugang mit Parkbank geplant. «Das ist ein gewaltiger Unterschied», sagt Eicher. «Im juristischen Sinne mag der Campingplatz kein öffentliches Land sein – im praktischen Sinne aber ist er es sehr wohl.»

Mit dem juristischen Kern der Frage, wem die Seeufer in der Schweiz gehören, muss sich der Raumplaner Kissling in der Sommerzeit immer wieder aufs Neue auseinandersetzen. «Das taucht naturgemäss Jahr für Jahr auf», sagt er. Und auch: «Die entsprechenden Passagen im Raumplanungsgesetz sind bewusst als Planungsgrundsätze gestaltet.» Heisst: Den in den Planungsgrundsätzen formulierten Anliegen stehen zahlreiche andere Interessen gegenüber, die Konflikte verursachen können. Die Planungsbehörden, also in der Regel die Kantone, werden durch das RPG schlicht dazu angehalten, sie möglichst gut in Einklang zu bringen. 

Hat sich mit dem gesellschaftlichen Wert eines Campingplatzes auseinandergesetzt: Die Journalistin und Fotografin Micha Eicher.

Und so beschäftigen sich Gerichte im ganzen Land immer wieder mit Fällen, in denen es darum geht, wie viel Seeanstoss für die Öffentlichkeit freizuhalten ist. Kissling erinnert sich an einen Fall, der bis vor Bundesgericht ging und ein wegweisendes Urteil nach sich zog: Am Ende befand die höchste juristische Instanz des Landes, dass eine Enteignung von Privateigentum zur Realisierung von Uferwegen nicht per se auszuschliessen sei. «Man kam damals zum Schluss, dass unter ‹erleichtern› gesamthaft betrachtet eine Verbesserung gegenüber der bestehenden Lage zu verstehen sei», erinnert sich Kissling.

«War es das wert?», fragt sich der Campingchef

Getreu dem föderalistischen Gedanken, auf dem die Schweiz auch sonst aufgebaut ist, sieht er den Status quo mit den Planungsgrundsätzen im Raumplanungsgesetz als sinnvolle Lösung. Am Ende liegt die Raumplanung in der Kompetenz der Kantone. «Aber», sagt Kissling, «es ist nie ausgeschlossen, dass man nachbessert.»

Und in Merlischachen? Da harren sie der Dinge, die da kommen. Auf dem Campingplatz hielten bereits ab 1950 die ersten Autos auf dem Weg Richtung Gotthard in den Süden. Jürg Lustenbergers Grossvater hat den ersten Gästen für einen Fünfliber einen Stellplatz zur Verfügung gestellt und ein Abendessen gekocht. Schon als Kind half Lustenberger aus, übernahm den Platz später selber. Noch in den 90er-Jahren entschied einmal gar das Bundesgericht, dass die Campingzone bestehen bleibt und eine Umzonung für Wohnraum keine Berechtigung hat. Dass das ein zweites Mal passiert, ist nicht denkbar – schliesslich haben die Besitzer das Land von sich aus verkauft. «War es das wert?», fragt sich Jürg Lustenberger jetzt, auf all seine arbeitsamen Jahre zurückblickend.

Irgendwann starben auch die Dinosaurier aus: Szenen aus dem letzten Sommer auf dem Campingplatz Merlischachen.

Über all die Jahre haben sich viele Geschichten angesammelt. Micha Eicher hat sie in ihrem Buch gesammelt, sie hat Stamm- und Gelegenheitsgäste porträtiert, hat die Leute gefragt, warum sie so gerne kommen und was ihnen fehlen wird, wenn auf dem freien Feld des Campingplatzes dereinst Häuser stehen. In Luzern hatte das Buch eben seine Vernissage, es waren auch Stammgäste vom Campingplatz dabei.

In Merlischachen sitzt Martin Furter auf dem Stuhl und denkt nach. «Vielleicht ist es ja doch nicht der letzte Sommer», sagt er. Manchmal zieht er sich aus Jux ein Dinosaurierkostüm an und wackelt damit auf dem Stand-up-Paddel übers Wasser. Den Kindern gefällts. Die Dinosaurier sind am Ende auch ausgestorben. Aber das hat gedauert.