Jungfraubahnen-Chef im grossen InterviewDer Mann, der die Chinesen ins Berner Oberland holte
An Urs Kessler scheiden sich die Geister: Ist er der erfolgreichste Touristiker im Land, oder schuld am Übertourismus in den Bergen? Nun tritt er ab – und verrät, was asiatische Reisende überzeugt.

Urs Kessler behauptet von sich, 900 seiner über 1000 Angestellten mit Vor- und Nachnamen zu kennen und selbst 70 Stunden pro Woche zu arbeiten.
Dafür verlangt der Chef der Jungfraubahnen auch etwas: Homeoffice gibt es höchstens an einem Tag die Woche, und die Kabinen der grossen Gondelbahn Eiger Express müssen in der Nacht gewartet werden, sodass sie das ganze Jahr in Betrieb sein kann.
Für seine gigantischen Infrastrukturprojekte im Berner Oberland musste er viel Kritik einstecken, von Einheimischen und Gegnern. Doch während andere Bergbahnen vom Untergang bedroht sind, prosperieren die Jungfraubahnen.
Urs Kessler, die Touristen aus den USA wurden in den letzten Jahren fürs Schweizer Tourismusgeschäft immer wichtiger. Bleibt das so?
Die Unsicherheit, für die die US-Regierung sorgt, ist Gift für den Tourismus. Als ich 1987 zum ersten Mal nach Asien kam, lernte ich drei essenzielle Dinge fürs Geschäft: «know each other» (sich kennen), «trust each other» (sich vertrauen) und «respect each other» (sich respektieren). Die beiden Letzteren sind im Verhältnis zu den USA durch die Zollpolitik leider verloren gegangen.
Sie setzten sehr früh auf asiatische Touristen. Wie kam das?
Mein Geheimrezept war immer, nicht dorthin zu gehen, wo der Ball ist, sondern dorthin, wo er sein wird. Ich wollte früh vom Wachstum von Asien profitieren. Mein erster Besuch war für mich die beste Marketinglehre: Ich war mit einer Schweizer Delegation unterwegs und dachte, unser Jungfraujoch sei dort schon bekannt. Doch bekannt war der Titlis in Engelberg und der Pilatus in Luzern, das Jungfraujoch kannte fast niemand. Dies animierte mich, die Marke «Jungfrau – Top of Europe» aufzubauen. Wer in Asien erfolgreich sein will, muss eine Marke sein.
Sind die Chinesen Ihre wichtigsten Gäste?
In den nächsten fünf bis zehn Jahren werden das die Touristen aus Indien sein. Sie sind im Durchschnitt sehr jung, kommen aus einer Demokratie, reden gut Englisch und haben eine stark wachsende Mittelschicht; alles gute Voraussetzungen. Ich war erstmals 1996 in Indien, 2001 haben wir dann auf dem Jungfraujoch das Restaurant Bollywood mit zwei indischen Köchen eröffnet, was zu einem grossen Andrang führte. Manchmal ist das richtige Essen noch wichtiger als alles andere.

Inzwischen werden auch immer wieder Bollywoodfilme im Berner Oberland gedreht, was ebenfalls viele Touristen aus Indien anzieht.
Ja, wir pflegen gute Kontakte zu den Produktionsfirmen.
Auf dem Jungfraujoch auf 3463 Metern werden den asiatischen Kunden Luxusartikel wie Uhren verkauft. Funktioniert dieses Geschäft nach der Pandemie überhaupt noch, es hiess doch, es sei vorbei, wie die Zeiten des Gruppentourismus generell?
Die Antwort darauf ist ganz einfach: Wie Sie es schon angesprochen haben, sagten alle, der Gruppentourismus komme nicht zurück, aber wir hatten 2024 fast genauso viele Gruppen bei uns wie in unserem Rekordjahr 2019, und so verhält es sich auch mit den Luxusartikeln.
Weil Sie gruppenweise Asiaten ins Berner Oberland brachten, mussten Sie sich oft den Vorwurf anhören, Sie würden den Übertourismus fördern. Was sagen Sie dazu?
In meinen 38 Jahren bei den Jungfraubahnen, 17 davon als Chef, bekam ich manchmal den Eindruck, es werde als unanständig wahrgenommen, wenn man im Tourismus erfolgreich ist. Aber gute Zahlen sind die Basis für jedes erfolgreiche Unternehmen, ohne die kann man keine Arbeitsplätze schaffen. Als ich den Direktorenposten übernahm, machten wir einen Gewinn von rund 20 Millionen Franken, heute sind es 80 Millionen. Und ohne asiatische Gäste könnten wir die ganze Infrastruktur hier nicht aus eigener Kraft finanzieren. Das Generationenprojekt V-Bahn mit dem Grindelwald Terminal, der Bahnhaltestelle und den beiden neuen Seilbahnen hat uns 510 Millionen Franken gekostet. Ich möchte Ihnen ein Beispiel geben…
Gern.
Früher hatten wir in der Zwischensaison im November 5000 Besucher, heute sind es 50’000. Das führt dazu, dass wir Ganzjahresstellen anbieten können und auch einzelne Hotels in der Region das ganze Jahr geöffnet haben. Wir verdienen mehr mit unseren diversen Sommerangeboten als mit dem Wintersport, was heute wichtig für die erfolgreiche Zukunft einer Bergbahn ist.

Trotzdem bleibt der Vorwurf, dass zwar die Bergbahn profitiert, die Allgemeinheit aber die Kosten tragen muss, die durch so viel Tourismus entstehen.
Vor 15 Jahren haben wir 500 Leuten Arbeit gegeben, heute sind es über 1000, und wir zahlen inzwischen 20 Millionen Franken Steuern pro Jahr, wovon die Gemeinden profitieren wie auch die Bevölkerung. Wir haben also Wohlstand in die Region gebracht. Das sieht man, wenn man schaut, wie hoch die Immobilienpreise heute in Grindelwald sind.
Eben, so hoch, dass sie sich die normalen Leute nicht mehr leisten können.
Deshalb nutzen wir eigene Immobilien um und mieten auch extra Immobilien an, um unserem Personal Wohnungen zu anständigen Mietpreisen bieten zu können.
Kann man Tourismus überhaupt lenken?
Ja, es muss unser Ziel sein, an diesen fünf, sechs Wochenenden im Jahr, an denen sehr viel Betrieb herrscht, die Spitzen zu brechen. Deshalb ist für die Zugfahrt vom Eigergletscher durch den Tunnel im Berg zum Jungfraujoch ab diesem Jahr in der Hochsaison die Reservation obligatorisch.
Hätten Sie das nicht schon früher einführen können?
So eine Reservierung war freiwillig bereits möglich und auch schon letztes Jahr an Spitzentage im Juli und August obligatorisch. Wir haben unsere Kundschaft langsam an diese Neuerung herangeführt. Die Marktforschung hat aber bisher gezeigt, dass sich der Tourist nicht gern festlegen will, wann er eine Attraktion besuchen will. Nun hielten wir es aber für einen guten Moment für diese Anpassung.
Mit der Erneuerung der Firstbahn steht bereits das nächste grosse Infrastrukturprojekt bei den Jungfraubahnen an. Wieso geht es immer weiter?
Unsere Produktpipeline ist besser als die von manchem Pharmaunternehmen. Das ist aber auch gut so, denn mit den vielen Regulierungen heute verzögern sich Projekte oft, entsprechend ist es wichtig, an mehreren gleichzeitig zu arbeiten.

Was meinen Sie mit vielen Regulierungen?
Ich muss etwas ausholen. Eines der grössten Probleme unseres Landes ist der fehlende Entscheidungswille in den Behörden. Die Leute haben Angst vor einem Gesichtsverlust oder wollen «Everybody’s Darling» sein. Ohne unternehmerisches Risiko und Innovation gibt es aber keinen Erfolg. Das beste Beispiel ist der Solarexpress in den Alpen, der zum Solarbummler geworden ist. Jede Fachstelle hat Angst, Fehler zu machen. Aber: Wenn ich zehn Entscheide treffe, sind zwei falsch, aber man sollte nicht auf die acht richtigen verzichten wollen.
Woher kommt diese Angst?
Mein Eindruck ist, dass die Coronapandemie diese extrem befördert hat. In der Schweiz pflegen wir inzwischen eine Absicherungsmentalität. Jede Fachstelle will sich nur noch absichern, dass ja nicht noch eine unvorhergesehene Kritik einer Umweltorganisation kommt. Projekte dauern somit länger und sind viel aufwendiger. Ein Grossprojekt wie das Generationenprojekt V-Bahn, da bin ich mir sicher, könnten wir mit den heutigen Voraussetzungen nicht mehr realisieren.
Sie haben den Solarexpress, also den Ausbau der alpinen Solaranlagen angesprochen, der zum Bummler werde. Haben Sie ein konkretes Beispiel?
Zur Stromversorgung unserer Anlagen im Winter würden wir gern eine Solaranlage bauen, das Volk hat Ja gesagt, und es sind schon 1,5 Millionen Franken an Planungskosten ins Projekt geflossen. Doch weitere Verfahren, Auflagen und Ersatzmassnahmen führen dazu, dass sich das Projekt immer weiter verzögert.
Kommen wir zu einem anderen Thema. Im Kontext der Diskussion um Massentourismus wird auch immer wieder die Wohnungsplattform Airbnb kritisiert, gerade im Berner Oberland. Was halten Sie davon?
Ich bin für qualitativ hochwertige Angebote im Tourismus, gerade bei Airbnb gibt es aus meiner Sicht aber viele durchschnittliche und schlechte Wohnungen, diese sind nicht gut für das Reiseland Schweiz und auch nicht für den Wohnungsmarkt in den Berggebieten.
Dann befürworten Sie also Regulierungen wie die 90-Tage-Regel in Luzern?
Wie Sie gemerkt haben, bin ich eigentlich ein strikter Gegner von Regulierungen. Doch bei Airbnb ist einfach das Qualitätslevel nicht gesichert. Deshalb könnte man eine solche Regelung auch im Berner Oberland umsetzen.
Wie geht es bei Ihnen persönlich nun weiter, Sie sind ja erst 63?
Ich bin noch bis zur Generalversammlung der Berner Oberland Bahnen Mitte Juni im Amt. Dass ich als leidenschaftlicher Eishockeyfan das Amt als Präsident von Swiss Ice Hockey anstrebe, ist bekannt, und auch weitere Funktionen kann ich mir vorstellen. Was ich mir aber nicht vorstellen kann, wäre in den Verwaltungsrat irgendeines anderen Tourismusunternehmens zu gehen. Ich kann doch nicht unseren Angestellten jahrelang sagen, dass wir die Besten seien und dann später für andere Werbung machen.
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