Kolumne von Barbara BleischStimmrechtsalter null?
Es gibt gute philosophische Argumente, selbst Kinder wählen und abstimmen zu lassen.
Seit die Zürcher Stimmberechtigten einer Senkung des Stimm- und Wahlrechtsalters auf 16 eine Abfuhr erteilt haben, bröckelt auch in Bundesbern die Unterstützung für dieses Anliegen. In der Philosophie ist die Frage, wie Kinder und Jugendliche politisch angemessen beteiligt werden können, jedoch aktueller denn je. Und ihre Vorschläge sind oft weitaus radikaler.
Das beginnt schon mit einer Umkehr der Fragestellung: Während im Abstimmungskampf zur Debatte stand, weshalb wir das Stimm- und Wahlrecht auch Jugendlichen zugestehen sollten, lautet die philosophische Frage, was uns eigentlich legitimiert, andere von diesem grundlegenden Recht auszuschliessen.
Was legitimiert uns eigentlich, Kinder von diesem grundlegenden Recht auszuschliessen?
Vereinfacht gesagt gilt nämlich, dass die Durchsetzung von Regeln nur legitim ist, wenn alle, die davon betroffen sind, bei deren Ausgestaltung mitbestimmen dürfen.
Von vielen Entscheidungen, die wir aktuell treffen, sind die jüngeren Generationen sogar weitaus stärker betroffen als der Schweizer Souverän: von der Organisation der Altersvorsorge etwa, der Höhe von Bildungsbudgets oder der zögerlichen Umsetzung der Klimaziele.
Dass Kinder und Jugendliche von der politischen Partizipation ausgeschlossen bleiben, wird meist mit mangelnder Kompetenz begründet. Allerdings lässt sich schwerlich behaupten, politische Urteilsfähigkeit korreliere strikt mit einem bestimmten Lebensalter. In Österreich, wo 16-Jährige seit 2007 wählen können, sollen die Neuwählenden politisch sogar besser informiert sein als die 18- bis 19-Jährigen. Wer dennoch am Kompetenzargument festhalten möchte, sollte der Fairness halber für einen Fähigkeitstest plädieren – und riskieren, dass teilweise auch Erwachsene ihre politischen Rechte abgeben müssen.
Ausserdem liesse sich die politische Kompetenz von Kindern durchaus verbessern, wenn wir mehr in politische Bildung investierten – was einem Land, das sich seine ausgefeilte Demokratie gern auf die Fahne schreibt, ohnehin gut anstünde.
Auch Kinder stehen in der Pflicht, zum Wohl der Gemeinschaft beizutragen.
Von liberaler Seite war im Abstimmungskampf auch zu hören, Rechte seien ohne Pflichten nicht zu haben. Jugendliche hätten deshalb erst mitzureden, wenn sie auch ihre Steuerschuld beglichen.
Doch Kinder sind keineswegs pflichtfrei. Angefangen bei der Schulpflicht, der sie notabene auch nachkommen müssen, damit wir dereinst unseren Arbeitsmarkt alimentieren können, haben sie Strassen und Parkplätze zu räumen, auch wenn ihnen der Freiraum fehlt zum Spiel. Während Corona hatten sie zu Hause zu bleiben, obwohl das Virus für sie wenig Gefahrenpotenzial bot. Lärmschutzverordnungen verbieten die Party im Freien. Auch Kinder stehen in der Pflicht, zum Wohl der Gemeinschaft beizutragen.
Der Philosoph Benjamin Kiesewetter schlägt deshalb vor, dass Personen unabhängig von ihrem Alter politisch mitbestimmen dürfen, sobald sie ihr Interesse bei einer entsprechenden Behörde bekunden. Bis zu diesem Zeitpunkt sollen Eltern das Wahlrecht ihrer Kinder treuhänderisch für sie ausüben. Eltern entscheiden ja ständig nach bestem Wissen und Gewissen für ihre Kinder. Sie sollten also auch in der Lage sein, die Stimme ihrer Kinder zu vertreten, bis sie selbst wählen können und wollen. Und wem, wenn nicht Eltern, sollte eine zukunftsfähige Schweiz am Herzen liegen?
Schliesslich können wir nie sicher sein, dass jene, die wir für verrückt halten, auch wirklich irren.
Wer solch ein «Stimmrechtsalter null» eine radikale Kopfgeburt schimpft, mag wieder einmal John Stuart Mill lesen. In seiner Schrift «Über die Freiheit» preist der liberale Vordenker den Wert exzentrischer Ideen. Schliesslich können wir nie sicher sein, dass jene, die wir für verrückt halten, auch wirklich irren. Kanzeln wir sie vorschnell ab, verpassen wir die Chance, etwas zu lernen, wenn wir vielleicht doch falschliegen. Liegen wir dagegen richtig, versäumen wir es, unsere Gegenargumente zu schärfen.
John Stuart Mill war übrigens ein Verfechter des Wahlrechts für Frauen – eine Idee, die zu seiner Zeit als komplett absurd abgetan wurde.
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