Kolumne von Barbara BleischMitleiden, ohne am Leiden zu verzweifeln
Darf es uns gut gehen, wenn andere in Not und Elend leben? Es darf. Nur wer sich im Mitleiden nicht gänzlich aufgibt, bleibt handlungsfähig.
«Was sind das für Zeiten, wo ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist», fragt Bertolt Brecht in seinem Gedicht «An die Nachgeborenen». Manchmal scheint mir, wir leben in solchen Zeiten. Auf die Frage «Wie gehts?» antwortet kaum jemand mit: «Rundum gut!» So wirklich gut darfs einem offenbar nicht gehen angesichts des brutalen Kriegs. Manchmal fühlt man sich schäbig mit der eigenen Lebenslust.
Umgekehrt wirken die bedeutungsschwangeren Leidbekundungen zuweilen schal. Ist es nicht wohlfeil, zu behaupten, das fremde Elend gehe einem so nahe, dass einem das eigene Glück abhandenkomme? Muss man wirklich jeden Post in den sozialen Medien mit einer Solidaritätsbekundung garnieren? Freilich sollte uns die Situation in der Ukraine beschäftigen – nicht zuletzt, weil sie brandgefährlich ist. Doch welche Gefühle sind angemessen angesichts der Kriegsverbrechen? Welche Anteilnahme ist gefordert?
Simone Weil verschrieb sich mit Haut und Haaren dem Widerstand gegen Unterdrückung, Hunger und Krieg.
Die französische Philosophin Simone Weil hatte eine eindeutige Antwort: Das Leiden der anderen ist stets auch unser Leiden. Ihre Anteilnahme trieb sie dazu, sich mit Haut und Haaren dem Widerstand gegen Unterdrückung, Hunger und Krieg zu verschreiben.
Simone de Beauvoir, die andere hochbegabte französische Philosophin des 20. Jahrhunderts, hatte dafür wenig Verständnis. Sie studierte zeitgleich wie Simone Weil an der Sorbonne in Paris. In ihren Memoiren beschreibt de Beauvoir, wie Simone Weil angesichts der Nachricht einer grossen Hungersnot in China in bittere Tränen ausbricht.
De Beauvoir zeigt sich anfänglich zwar fasziniert von ihrer Kommilitonin. Als sich die beiden Denkerinnen später persönlich kennen lernen, stellt sich jedoch tiefes Befremden ein. Simone Weil ist der Ansicht, das Einzige, was im Leben zähle, sei eine umfassende Revolution, die den Hunger aller Menschen stille.
De Beauvoir entgegnet, es gehe weder in der Philosophie noch im eigenen Dasein darum, andere Menschen glücklich zu machen. Das Ziel bestehe vielmehr darin, in unserer Existenz einen Sinn zu finden. Simone Weil entgegnet in scharfem Ton: «Man sieht, dass Sie noch niemals Hunger gelitten haben.» Und de Beauvoir resümiert: «Damit waren unsere Beziehungen auch schon wieder zu Ende.»
Simone Weils ausgeprägte Empathie sorgt dafür, dass sie sich vollkommen verausgabt in ihrem Kampf für eine gerechtere Welt. Mit 34 Jahren stirbt sie entkräftet in einem Sanatorium in England. De Beauvoir überlebt ihre Mitstudentin um viele Jahre. Allerdings stirbt auch sie nicht glücklich: Ihr Kreisen ums eigene Ich ist zeitlebens von grossem Selbstzweifel geprägt. Die Sorge um andere und der Blick in die Welt hätten die qualvoll Suchende vielleicht besänftigt. Insofern erstaunt es nicht, dass sie im Rückblick über Simone Weil notiert: «Ich beneidete sie um ein Herz, das imstande war, für den ganzen Erdkreis zu schlagen.»
Klug wäre wohl ein Mittleres: sich ein offenes Herz zu bewahren für das Leiden der anderen, ohne am Elend der Welt zu verzweifeln. Zumal Empathie oft den Blick trübt für das, was Leiden nachhaltig mindert. Der Kulturwissenschaftler Fritz Breithaupt spricht im gleichnamigen Buch von den «dunklen Seiten der Empathie»: Anteilnahme kann uns zum einen handlungsunfähig machen, wenn uns das Elend zu sehr deprimiert. Zum anderen drängt sie uns zur unmittelbaren Hilfe, anstatt langfristig und politisch zu denken.
Hilfreicher als Mitleid wird am Ende aber das Bemühen sein, Menschenrechte und Frieden politisch zu sichern.
Das bedeutungsschwere Eingeständnis, dass wir in düsteren Zeiten leben, lässt uns vielleicht besser aushalten, dass wir in Sicherheit sind, während andere im Bombenhagel ausharren müssen.
Hilfreicher wird am Ende aber das Bemühen sein, Menschenrechte und Frieden politisch zu sichern. Dazu gehört, dass die Schweiz ihre Rolle als Rohstoffdrehscheibe und Bankenplatz überdenkt. Hierfür notwendig sind rationale Analysen und kluges Kalkül. Kraft dafür haben wir nur, wenn Gespräche über Bäume möglich bleiben – und es uns gut gehen darf, auch wenn andere leiden.
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