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Interview mit US-Historikerin
«Das Netzwerk der Diktaturen wurde massiv unterschätzt»

The journalist Anne Applebaum tells of her fears for democracy's future, the dangers of another Trump presidency and how her husband became Poland’s foreign minister.

Anne Applebaum - Pulitzer-prize winning historian.

Suki Dhanda / Guardian / eyevine

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 (FOTO: DUKAS/EYEVINE)
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Dass sich die Demokratie überall auf der Welt durchsetzt, schien vielen im Westen nur eine Frage der Zeit zu sein. Die 60-jährige US-amerikanische Publizistin und Historikerin Anne Applebaum, die am Sonntag in Frankfurt den Friedenspreis des deutschen Buchhandels entgegennehmen kann, hält diese Ansicht für hoffnungslos naiv. In ihrem neuen Buch «Die Achse der Autokraten. Korruption, Kontrolle, Propaganda – Wie Diktatoren sich gegenseitig an der Macht halten» (Siedler) vertritt sie die Ansicht, dass Autokratien derzeit so stark sind wie lange nicht – und sich längst im Kampf mit dem demokratischen Westen um eine neue Weltordnung sehen.

Frau Applebaum, ist die Lage wirklich schon so ernst?

Es gibt jedenfalls längst ein echtes Netzwerk autokratischer Staaten. Diese eint zwar nicht unbedingt eine gemeinsame Ideologie, aber sie arbeiten zusammen, um ihre Macht auszubauen und unsere zu unterminieren.

Was heisst das konkret?

Sie nehmen etwa ganz gezielt ökonomisch Einfluss über Investitionen in Schlüsselindustrien. Und sie probieren, über eigene Sender wie Russia Today und über die sozialen Medien unsere internen Debatten in ihrem Sinn zu steuern. Vor allem aber versuchen sie, sich dabei zu helfen, auf internationaler Ebene ungestraft davonzukommen, wenn sie in andere Länder einmarschieren oder sich in Wahlen anderer Länder einmischen.

Greift das Netzwerk der Autokratien aber wirklich schon nach der Weltmacht?

Natürlich. Nehmen Sie nur den laufenden Krieg in der Ukraine: Russland führt ihn mithilfe iranischer Drohnen und Munition aus Nordkorea. China ist der zentrale Zulieferer der russischen Rüstungsindustrie. Und Russland und China organisieren gemeinsam Medienkampagnen in Europa, Afrika und Asien, in denen Demokratien als schwach, zerstritten und unsicher dargestellt werden – und Autokratien als sicher und stabil. In Venezuela gibt es eine Regierung, die gerade Wahlen verloren hat, sich aber an der Macht halten kann, weil Russland Waffen liefert und China investiert. Auf der ganzen Welt versuchen Autokratien, die Spielregeln von Diplomatie, Handel und Krieg in ihrem Sinne zu ändern.

Glauben Sie, dass diese Entwicklung im Westen immer noch unterschätzt wird?

Ja. Denn es ist sehr verführerisch, selbstgefällig zu sein und nicht so genau hinzuschauen, was auf der Welt gerade so passiert.

Aber die Ukraine wird vom Westen im Krieg gegen Russland doch längst mit sehr viel Geld und Material unterstützt.

Das stimmt, in Deutschland etwa war der Ukrainekrieg ein Wendepunkt. Da haben viele im Land immerhin verstanden, dass Europa nicht so sicher ist, wie sie immer gedacht hatten – und der Handel und die Gasgeschäfte mit Russland nicht so weitergehen können.

Immerhin? Was wird denn weiter unterschätzt?

Zum Beispiel, wie massiv China Russland unterstützt, und zwar auch und gerade bei dessen Krieg gegen die Ukraine. Ganz abgesehen davon, wie stark China autokratischen Regimen in Afrika und anderswo hilft. Ich glaube nicht, dass all das in seinem ganzen Ausmass und seiner immensen Bedeutung für unsere Zukunft wirklich schon ausreichend wahrgenommen wird.

«Liberale Demokratien müssen ständig darauf achten, ihre Werte zu beschützen und zu stärken.»

Ist es unserer Ideologie – dem Liberalismus, in dem sich freie Individuen vernünftig auf Regeln des Miteinander einigen – zu wesensfremd geworden, sich in einem Kampf zu sehen?

Moment, Liberalismus ist für mich keine Ideologie. Es ist ein Set von Regierungsprinzipien, das in Nordamerika und vielen anderen Teilen der Welt jahrzehntelang offene Gesellschaften möglich gemacht hat. Wobei diese Prinzipien in der Geschichte der Menschheit alles andere als der Normalfall waren. Die meisten Menschen haben die meiste Zeit in verschiedenen Varianten von Diktaturen gelebt, in Monarchien, Warlord-Staaten oder modernen autokratischen Systemen. Liberale Demokratien sind eine Ausnahmeerscheinung. Sie müssen im Grunde ständig darauf achten, ihre Werte zu beschützen und zu stärken.

Grundsätzlich hat die liberale Demokratie aber doch eine lange Erfolgsphase hinter sich.

Das stimmt, es ist fast unglaublich. In Zentraleuropa herrscht seit 1945 Frieden. Und seit dem Fall der Sowjetunion 1989 fühlten sich die Europäer noch nicht einmal mehr bedroht von irgendeiner anderen Macht. Aber das ändert sich gerade.

Änderte sich die Bedrohungslage nicht vorher schon mit dem Aufstieg des islamistischen Terrorismus?

Ja, aber die Gefahr, die jetzt von Putins Russland ausgeht, ist doch noch einmal etwas anderes. Es ist ein grosser Staat mit Atomwaffen, in direkter Nachbarschaft, der nicht nur militärisch aggressiv ist, sondern auch versucht, mit Geld und Propagandakampagnen die europäische Politik zu beeinflussen.

Warum tun wir uns so schwer damit, darauf wirksam zu reagieren?

Wir haben uns einfach sehr daran gewöhnt, dass unsere Werte nicht herausgefordert werden. Wir müssen deshalb lernen, uns zu wehren.

Sind Sie zuversichtlich, dass das gelingt? Deutschland, England und Frankreich sind ja im Moment auch ziemlich mit sich selbst beschäftigt.

Die Demokratien gehören alles in allem immer noch zu den stärksten und prosperierendsten Ländern der Erde. Und zusammengenommen sind sie mit Abstand überlegen, finanziell und militärisch.

Im Moment tun sie sich aber trotzdem schwer, die Autokratien in Schach zu halten.

Das sehe ich nicht so. Wir haben die Ukraine verteidigt. Russland ging davon aus, sie in ein paar Tagen einzunehmen. Jetzt ist der Überfall zweieinhalb Jahre her, und die Ukraine existiert immer noch. Die ukrainische Armee hat sogar die russische Schwarzmeerflotte zerstört. Sie verteidigen sich weiter erfolgreich und haben inzwischen sogar russisches Territorium eingenommen. Es stimmt nicht, dass wir nichts tun können. Und dieses Gerede davon, dass der Westen zu schwach sei, die Autokratien in Schach zu halten – das ist auch ein wesentlicher Teil der russischen Propaganda.

Der Krieg ist aber noch immer nicht vorbei, und die Ukraine ist in der Defensive.

Imperiale Kriege können dauern, aber die russischen Ressourcen sind nicht endlos. Der Krieg wird enden, wenn die Russen verstehen, dass die Ukraine nicht Russland ist. Sie sind noch nicht an diesem Punkt, aber sie werden dorthin kommen.

Wann wird es so weit sein?

Ich kann Ihnen kein genaues Datum sagen, aber es wird einen Moment geben, in dem sie es sich nicht mehr leisten können weiterzukämpfen; einen Moment, in dem die Elite in Moskau keinen Sinn mehr darin sieht, den Krieg weiterzuführen. Der Lebensstandard im Land sinkt jetzt schon rapide. Russland gibt mittlerweile 40 Prozent seines Budgets für sein Militär aus. Der Krieg geht auf Kosten von Bildung, Gesundheit, Infrastruktur und allem anderen, um das sich ein Staat eigentlich kümmern muss. Das ist kein Zustand, der ewig hält.

Muss erst Putin stürzen, damit der Krieg endet?

Das weiss ich nicht. Sicher ist, dass er so lange an der Macht bleibt, wie es ihm gelingt, die Erzählung, die im Land über den Krieg kursiert, zu kontrollieren.

«Die garantierte Krise im Fall eines Macht­wechsels ist ein zentrales Kenn­zeichen autokratischer Staaten.»

Im Westen dachten viele, Russland sei wirtschaftlich viel zu schwach, um den Krieg jahrelang durchzuhalten.

Das lag daran, dass die Stärke dessen massiv unterschätzt wurde, was ich «Autocracy Inc.» nenne, das Netzwerk der Diktaturen. Wir haben weder erwartet, dass Russland sein Öl und Gas an den westlichen Sanktionen vorbei einfach an China verkauft, noch haben wir damit gerechnet, dass der Iran mit Drohnen hilft und Nordkorea zu Russlands wichtigstem Munitionslieferanten wird. Umgekehrt unterstützt Russland den Iran im Kampf gegen Israel. Die autokratische Allianz, die wir jetzt sehen, gibt es im Grunde seit über einem Jahrzehnt.

Ist es in diesem Kampf nicht ein grosser Nachteil der «offenen Gesellschaften», offen zu sein? Also auch offen für alle, die sie zerstören wollen?

Im Gegenteil. Offene Gesellschaften sind stärker und in sich einiger als geschlossene Gesellschaften. Geschlossene Gesellschaften sind ihrem Wesen nach fragil.

Inwiefern?

Nehmen wir Russland. Wir haben nicht nur keine Ahnung, wer Putin ersetzen würde, wenn er morgen von einem Auto überfahren wird. Wir wissen nicht einmal, wie die Auswahl seines Nachfolgers vonstattengehen wird. Wenn also die Macht neu verteilt wird, wird es sofort eine Art von Krise geben. Die garantierte Krise im Fall eines Machtwechsels ist ein zentrales Kennzeichen autokratischer Staaten. In Demokratien ist das völlig anders. Da gibt es einen institutionalisierten Ablauf des Machtwechsels, innerhalb dessen immer transparent ist, warum, wann und wie die eine Regierung abtritt und eine neue die Geschäfte übernimmt. Die Stabilität, die dadurch erreicht wird, ist eine kaum zu überschätzende Errungenschaft.

Das betrifft allerdings allein das politische System der liberalen Demokratie, in dem Legitimation durch Verfahren hergestellt wird. Aber was ist mit den Medien und der Wirtschaft?

Es hat zwei Veränderungen gegeben, auf die die Demokratie endlich reagieren muss. Die erste betrifft das Ausmass, in dem inzwischen Steueroasen und Scheinfirmen benutzt werden können, um Geld zu waschen und in den eigenen Taschen verschwinden zu lassen. Da ist eine Art alternative Ökonomie entstanden, die die Autokratien in ganz grossem Stil für sich ausnutzen.

Autokratien sind letztlich Kleptokratien, wie Sie in Ihrem Buch schreiben. Und was ist die zweite Veränderung, auf die Demokratien reagieren müssen?

Das Internet. Ich fürchte, es ist nötig, das Internet viel strenger zu regulieren als bisher. Die grossen Plattformen müssen endlich rechtlich verantwortlich sein für das, was auf ihnen publiziert wird. Wie es für alle anderen, die etwas publizieren, schon lange üblich ist. Dass weder die Geldwäsche unterbunden wird, noch die Plattformen kontrolliert werden, schadet dem demokratischen Diskurs und den demokratischen Systemen extrem.

Die Regulierung der sozialen Medien wäre kein kleiner Eingriff in die offene Gesellschaft.

Das ist in der Tat sehr kompliziert, verfassungsrechtlich gibt es schwerwiegende Einwände. Gegen die Einschränkung der Kleptokratie gibt es viel weniger grundsätzliche Bedenken. Da gibt es nur einige Wirtschaftsbranchen, die viel Lobbyarbeit dagegen betreiben. Es tut sich aber etwas. Es ist in den USA und England zuletzt zum Beispiel schon schwerer gemacht worden, anonyme Firmen zu gründen.

«Trump wird sicher nicht gegen die Kleptokratie kämpfen.»

Im Moment haben Politiker, die mit den Autokraten sympathisieren, in vielen Ländern in Europa grossen Erfolg. Und in Ihrem Heimatland hat Donald Trump immer noch sehr gute Chancen, noch einmal Präsident zu werden.

Trump wird sicher nicht gegen die Kleptokratie kämpfen. Er verdankt seinen Reichtum zu einem guten Teil der Immobilienbranche, die wiederum von den kleptokratischen Möglichkeiten stark profitiert, die unser System bietet.

Sind Sie manchmal verzweifelt, wenn Sie sehen, wie gross seine Chance ist zu gewinnen?

Er hat eine Chance zu gewinnen, kein Zweifel. Aber ich finde es unverantwortlich, verzweifelt zu sein.

Unverantwortlich wem gegenüber?

Jetzt passen Sie mal auf: Sie und ich gehören zu den privilegiertesten Menschen auf diesem Planeten. Wir haben Zugang zu Informationen. Wir haben nicht nur das Recht auf freie Meinungsäusserung, wir können es sogar wahrnehmen. Wir können politisch engagierte Bürger sein in unseren Gesellschaften. Es ist absurd, wenn Leute wie wir darüber nachdenken, zu verzweifeln oder aufzugeben.