Kolumne von Michael HermannDie Demokratie kann sterben
Während viele Wege von der Demokratie zur Autokratie führen, gibt es immer weniger zurück. Darum müssen wir unsere demokratischen Institutionen absichern.
Nicht einmal ein Drittel der aktuellen republikanischen Kandidierenden für den amerikanischen Kongress haben das Resultat der vergangenen Präsidentschaftswahlen öffentlich akzeptiert. In der wichtigsten Demokratie der Welt ist das Infragestellen demokratischer Spielregeln Mainstream geworden.
Wir alle, die politisch mündig sind, wurden geprägt von einer Ära der demokratischen Expansion. Das hat viele von uns vergessen lassen, wie verletzlich die demokratische Ordnung eigentlich ist. Demokratie fusst im Vertrauen, dass jene Männer und Frauen, die für eine begrenzte Zeit Macht erhalten, diese Macht nicht dazu nutzen, sie sich dauerhaft zu sichern. Es ist weniger der klassische Putsch oder die Machtergreifung von aussen, welche Demokratien heute fürchten müssen – es ist die schleichende Machtanmassung von innen.
Dafür gibt es auch in der Geschichte viele Vorbilder wie jenes von Napoleon III., der die Zweite Republik Frankreichs zunächst als demokratischer Staatspräsident anführte, nur um sie dann aus den Angeln zu heben. Hitler hat die Macht nicht einfach ergriffen. Sie wurde ihm auf demokratischem Weg verliehen, bevor er sie in furchtbarer Konsequenz an sich riss.
Weil klare Kriterien verblassen, gewinnt die inszenierte Grossartigkeit an Bedeutung.
Auch in der Demokratie sind es Persönlichkeiten mit ausgeprägtem Machtwillen, die sich durchsetzen und es ganz nach oben bringen. Um dieser Tatsache etwas entgegenzustellen, haben die amerikanischen Gründerväter einst das System von «Checks and Balances» geschaffen. Doch dies allein reicht nicht aus. Die sich kontrollierenden Gewalten müssen in einer starken demokratischen Kultur verankert sein, und diese Kultur ist in den USA gerade am Zerfallen.
Besonders gestärkt wurde die demokratische Gesinnung in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg. Damals erlebte die Demokratie einen einmaligen Schub, denn es wurde klar, wie viel besser als andere Systeme sie darin ist, Wohlstand und persönliche Freiheiten zu schaffen.
In der gesättigten und gerade deshalb orientierungslosen Gesellschaft der Gegenwart ist dieser Nachweis jedoch immer schwerer zu erbringen. Geht es uns denn wirklich so viel besser? Ist die Demokratie nicht einfach bloss chaotischer als andere Regierungsformen? Weil klare Kriterien verblassen, gewinnt die inszenierte Grossartigkeit an Bedeutung. Darin sind Autoritäre stark.
Die autoritäre Inszenierung vermittelt Halt und Sicherheit. Wenn der Irrsinn dann durchschlägt, ist es oft schon zu spät.
Nicht von ungefähr wurden die Machtanmassungen vieler Autokraten – von Hitler über Erdogan bis Putin – von grossem Wohlwollen der Bevölkerung begleitet. Nun sind es die Amerikanerinnen und Amerikaner, die sich offenbar immer weniger vom Gebaren republikanischer Wahlleugner abschrecken lassen. Die autoritäre Inszenierung vermittelt Halt und Sicherheit. Wenn der Irrsinn dann durchschlägt, ist es oft schon zu spät. Denn dann haben die einstigen Volkstribune das System zu ihren Gunsten manipuliert. Während die Demokratie stets von neuem für sich werben muss und herausgefordert wird, sichern sich Autokraten kaltblütig ihre Macht.
Neuste Forschungen zu sozialen Bewegungen zeigen, dass Volksaufstände und Proteste wie jene im Iran immer seltener zu Regimewechseln oder gar zu demokratischem Wandel führen. Autokraten lernen ihre Lektion und verfügen über immer raffiniertere digitale Mittel zur Kontrolle ihrer Untertanen.
Es ist das Prinzip der Reuse: Während viele Wege von der Demokratie zur Autokratie führen, gibt es immer weniger zurück. Diese Einseitigkeit allein macht es nicht unwahrscheinlich, dass die Demokratie dereinst in den Geschichtsbüchern als Regierungsform einer vergangenen Ära beschrieben wird. Es wäre eine Katastrophe. Wie abträglich Autokratien auf die lange Sicht dem Wohl der Menschheit sind, zeigt der Blick nach Russland oder in den Iran. Umso mehr gilt es, die demokratischen Institutionen abzusichern und zu verankern. Nicht zuzuwarten wie in den Vereinigten Staaten, wo es womöglich heute schon zu spät dafür ist.
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