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Interview zu 75 Jahren Nato
«Russland hat uns den Krieg erklärt – wir müssen uns diesem Gegner stellen»

A French sailor on the bridge of the French navy frigate Normandie stands guard as the vessel patrols in a Norwegian fjord, north of the Arctic circle, for a reconnaissance patrol, Wednesday March 6, 2024. The French frigate is part of a NATO force conducting exercises in the seas, north of Norway, codenamed Steadfast Defender, which are the largest conducted by the 31 nation military alliance since the cold war.(AP Photo/Thibault Camus)
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Frau Babst, die Nato wird 75. Doch gibt es angesichts des Kriegs in der Ukraine einen Grund zum Feiern?

Dank der Nato konnten wir alle viele Jahrzehnte von der sogenannten Friedensdividende profitieren. Aber es gibt keinen Grund, nostalgisch verklärte Blicke in die Vergangenheit zu werfen oder sich gar selber auf die Schulter zu klopfen. Mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine hat sich die Lage komplett verändert. Wir leben sozusagen geschützt in einem Zoo, mit einem Dschungel um uns herum, der bedrohlich näher rückt. Die Nato steht an einer strategischen Kreuzung: Sie muss sich fragen, ob sie sich zukünftig gegen diesen Dschungel behaupten kann.

Die Nato umgeben von einem Dschungel: Was meinen Sie damit?

Wir haben mit Russland einen strategischen Gegner, der sich an keine Regeln hält und dabei von China, dem Iran und Nordkorea unterstützt wird. Bei dem Versuch, unsere regelbasierte Ordnung in Europa aufrechtzuerhalten, kämpfen wir gegen einen Gegner, der genau diese Regeln nicht mehr anerkennt – und der versucht, uns in diesen Dschungel zu ziehen, um bei diesem Bild zu bleiben. Russland möchte einen rechtsfreien Raum in Europa etablieren, in dem das Recht des militärisch Stärkeren als Grundregel dominiert. Das ist der Kern der Auseinandersetzung, um die es hier geht.

Um bei Ihrem Bild zu bleiben, müssten wir ja einfach nur unsere Verteidigungs- und Abschreckungs­fähigkeit verbessern, um uns den Dschungel auf Distanz halten.

In unserem Zoo glauben wir, in einem vermeintlich sicheren Gehege zu sein. Unser strategischer Gegner hat in den letzten Jahren aber deutlich bewiesen, dass er durchaus eine Reihe von hybriden Instrumenten zu nutzen weiss, um uns an unseren neuralgischen Punkten zu treffen. Beispielsweise, indem er unsere Infrastruktur angreift oder mit Desinformation unsere öffentlichen Diskurse manipuliert und polarisiert. Er schüchtert ein und macht Angst. Wie man in etlichen Ländern sehen kann, ist der Kreml mit diesem Konzept durchaus erfolgreich. Und er wird nicht nachlassen. Wir können uns nicht hinter unserem Zaun verstecken und hoffen, dass sich unser Gegner irgendwann beeindruckt zurückziehen wird. Das wird Wladimir Putin nicht tun.

Befinden wir uns bereits in einem Dritten Weltkrieg, wie einige Beobachter sagen?

Ich würde das so nicht sagen – auch weil der Begriff natürlich starke Ängste in unseren Gesellschaften weckt. Aber wir sind eindeutig in einer systemischen Auseinandersetzung mit einem mafiaähnlichen, höchst gewalttätigen, kleptokratischen Regime in Russland, und das bereits seit längerer Zeit. Russland hat uns den Krieg erklärt – auch wenn wir das partout nicht wahrhaben wollen. Es ist keine Strategie, darüber nur empört zu sein, Angst zu haben oder einer Eskalation aus dem Weg gehen zu wollen. Wir müssen uns diesem Gegner stellen und intelligente Antworten auf seine Aggression finden.

Es mehren sich die Stimmen, die den Krieg in der Ukraine einfrieren wollen, um eine Eskalation mit Russland zu vermeiden.

Als ich zu Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine gesagt habe, dass wir uns im Krieg mit Russland befänden, habe ich empörte Reaktionen geerntet. Das ist gerade in Deutschland relativ typisch, weil unsere Gesellschaft und die politischen Eliten durch die Friedensdividende stark konditioniert worden sind. Wir sagen zwar, dass wir bereit seien, uns zu verteidigen, aber eigentlich möchten wir das gar nicht tun. In der deutschen Regierung glauben nicht wenige, dass wir nur genug lange auf Putin einreden müssen, und dann würden wir irgendwann schon einen Kompromiss mit Russland finden. Aber so ein Ansatz verkennt sowohl die aggressive Natur des putinistischen Systems als auch die strategischen Absichten Moskaus. Für die Ukraine, aber auch für uns ist der Putinismus toxisch.

Was sind die strategischen Absichten Putins?

Die Führung der ehemaligen Sowjetunion war primär auf die Absicherung des machtpolitischen Status quo in Europa ausgerichtet. Das ist der Unterschied zum Putin-Regime, das die Nato und die EU schwächen und letztlich zerstören will. Russland will seinen Einflussbereich mit Gewalt geografisch ausdehnen. Es ist der Meinung, dass die ehemaligen Sowjetrepubliken, wie etwa die Ukraine, keine souveränen Rechte haben. Gegen Moskaus Expansionismus können wir unseren Zaun zwar weiter verstärken, aber jenseits davon hat unsere militärische Abschreckung keine Wirkung.

Da gibt es natürlich das Gegenargument, die Nato habe expandiert, indem sie neue Mitglieder aus Osteuropa aufgenommen habe.

Das ist ein Narrativ, das von russischer Seite immer wieder bemüht wird. Dadurch wird es aber weder inhaltlich richtiger noch überzeugender. Ich war selbst über 20 Jahre lang bei der Nato tätig und habe an der Entwicklung des Nato-Russland-Rates sowie der strategischen Partnerschaft mit Moskau konkret mitgearbeitet. Am Anfang hielt sich Russland durchaus an die Prinzipien des Völkerrechts und machte den Eindruck, als wollte es tatsächlich mit der Nato zusammenarbeiten. In der Charta von Paris oder mit der Nato-Russland-Grundakte hat Russland ja auch zunächst die Souveränität und Bündnisfreiheit aller europäischen Staaten in Zentral- und Mitteleuropa anerkannt, aber damit war spätestens mit der Militärintervention in Georgien Schluss.

Wann war der Kipppunkt?

Auf dem Bukarester Gipfel 2008, als die Nato die Ukraine und Georgien in einer sicherheitspolitischen Grauzone ohne klare Beitrittsperspektive gelassen hat. Das war klar eine strategische Fehleinschätzung. Man hat Russland quasi ein Vetorecht über die Aufnahme neuer Mitglieder eingeräumt. Das hat Putin schliesslich ermutigt, nur wenig später Georgien anzugreifen, sich ein paar Jahre danach in Syrien festzubeissen und sein Kriegsarsenal systematisch zu modernisieren. Das Konzept hybrider Kriegsführung passte dazu, denn es definiert den demokratischen Westen als primäre Sicherheitsgefahr für Russland.

Weshalb haben wir das nicht kommen sehen?

In den baltischen Staaten, Polen, Tschechien und teilweise auch in anderen ostmitteleuropäischen Staaten hat man das durchaus erkannt. Aber in Washington, Berlin, Paris und in anderen westlichen Hauptstädten wollte man partout an der Partnerschaft mit Moskau festhalten. Vor allem in Deutschland mit Angela Merkel an der Spitze gab es die naive Vorstellung, man könne mit Handel und Kooperation den aufkeimenden russischen Expansionismus managen und einhegen. An dieser Haltung hat Berlin selbst bis wenige Tage vor Russlands Grossangriff auf die Ukraine noch festgehalten.

epa11233344 Estonian Prime Minister Kaja Kallas talks to the media as she arrives to attend the European Council meeting in Brussels, Belgium, 21 March 2024. EU leaders are expected to address security and defence, continued support to Ukraine and the situation in the Middle-East as well as the EU's enlargement, external relations, migration, agriculture and the European Semester during a two-day summit.  EPA/OLIVIER MATTHYS

In Ihrem Buch schreiben Sie von einem nötigen Churchill-Moment in Europa – in Referenz zum britischen Kriegspremier im Zweiten Weltkrieg. Hat Europa heute einen Winston Churchill?

Olaf Scholz ist sicher kein Churchill. Aber es gibt in den Reihen der Nato-Verbündeten durchaus Menschen, die einen klaren Blick auf die Lage haben. Und da blitzen hier und da Churchill-Momente durch. Ich denke vor allem an den tschechischen Präsidenten Petr Pavel oder den polnischen Aussenminister Radoslaw Sikorski. Estlands Regierungschefin Kaja Kallas gehört sicher auch dazu. Und dann ist da die Frage, ob auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron zu einer realistischen Sichtweise gekommen ist.

Macron wollte lange mit Putin verhandeln. Jetzt schliesst er selbst Nato-Truppen in der Ukraine nicht aus und spricht von strategischer Ambiguität. Hat er recht?

Seit Beginn des russischen Vernichtungsfeldzuges sagen wir dauernd, was wir nicht tun wollen: Wir wollen nicht Kriegspartei werden, wir wollen nicht eskalieren, wir wollen nicht in einen Krieg mit Russland hineingezogen werden, wir wollen keine eigenen Truppen in die Ukraine schicken. Die Nato- und EU-Mitglieder behaupten zwar, dass sie die Ukraine so lange wie nötig unterstützen werden. Aber das ist weder ein konkretes strategisches Ziel noch handeln wir konsequent danach. In den letzten zwölf Monaten ist immer weniger militärische Hilfe in die Ukraine geflossen. Deutschland und die USA beschränken wichtige militärische Fähigkeiten für die Ukraine oder verweigern sie wie im Fall der Taurus-Marschflugkörper.

Was sind die Konsequenzen?

Das Ergebnis dieses zögerlichen Handelns sehen wir seit Wochen auf dem Schlachtfeld. Den Preis dafür bezahlen die Ukrainer. Macron scheint die Dramatik der Lage begriffen zu haben. Er hat verstanden, dass wir zumindest das Prinzip der strategischen Ambiguität gegenüber Russland anwenden müssen, also Moskau bewusst im Unklaren über unsere nächsten Schritte zu lassen. Westliche Bodentruppen in der Ukraine nicht auszuschliessen, ist ein erster Schritt. Auch Balten, Polen und Skandinavier sind in diese Richtung unterwegs. Die Nato-Staaten könnten so aus der defensiven Ecke herauskommen.

Das wäre aber ein Schritt zur Eskalation, Russland könnte die Nato eindeutig als Kriegspartei sehen.

Natürlich müssen wir stets berücksichtigen, wie eine russische Reaktion aussehen könnte. Aber grundsätzlich müssen wir die strategische Dynamik zu unseren Gunsten verändern. Wenn wir das nicht tun, bleiben wir in der Spirale, dass wir immer nur zuschauen, wie Russland die Ukraine zunehmend vernichtet und weitere Tabubrüche begeht. Und dann sind wir empört und sagen: Wir wollen aber eigentlich keinen Krieg mit Russland. Das ist keine Strategie, um ein gewalttätiges Alpha-Männchen zurückzudrängen.

Scholz will als Friedenskanzler in den Wahlkampf gehen. Muss ein Politiker nicht auf die Angst vor einer Eskalation Rücksicht nehmen?

Wir sind an einer strategischen Kreuzung. Russlands Krieg ist eine fundamentale Zäsur in der jüngsten europäischen Geschichte. Wir haben jetzt die Wahl: Entweder wir reagieren mit strategischer Klugheit, Mut und Entschlossenheit. Oder wir signalisieren wie Scholz, dass wir doch eine Hintertür offenlassen und hoffen, irgendwann mit Putin wieder irgendwas verhandeln zu können. Ich möchte auf Dauer nicht mit einem nuklear-erpresserischen, expansionistischen Mafiaregime in meiner Nachbarschaft leben.

epa11244538 Russian President Vladimir Putin attends an expanded meeting of the Prosecutor General's Office board in Moscow, Russia, 26 March 2024. Vladimir Putin has asked prosecutors to tighten control over law observance in the area of migration, which, as he said, concerns millions of people.  EPA/VALERIY SHARIFULIN/SPUTNIK/KREMLIN POOL MANDATORY CREDIT

Scholz wurde für seine Zeitenwende-Rede aber sehr gelobt.

Scholz hat Nordstream 2 noch im Januar 2022 als rein privatwirtschaftliches Projekt verteidigt. Und die Regierung in Berlin hat auch in der Nato alles unternommen, um auch nach der Krim-Annexion das alte Russlandbild zu verteidigen. Wenn Sie derart fatale Fehler gemacht haben, dann ist die Zeitenwende-Rede erst einmal ein Befreiungsschlag gewesen. Die Ampelregierung hat mit viel Pomp quasi das Gegenteil ihrer bisherigen Politik verkündet. Dass nun mehr Geld in die jahrelang unterfinanzierte Bundeswehr fliesst, ist gut. Aber zu einer Zeitenwende gehört auch die Fähigkeit, in neuen strategischen Kategorien zu denken. Die kann ich in Berlin nicht erkennen.

Die EU versprach letztes Jahr der Ukraine, eine Million Artilleriegeschosse zu liefern – geliefert wurden bisher etwa ein Drittel. Was ist schiefgelaufen?

Es fehlt schlicht der politische Wille. Wenn die Staaten mit den stärksten europäischen Volkswirtschaften schon vor einem Jahr an die grossen Rüstungsfirmen langfristige und umfangreiche Lieferaufträge gegeben hätten, wäre die Situation in der Ukraine heute eine andere. Stattdessen haben sie einen grossen Teil der eigenen Munitionsdepots geleert, wie zum Beispiel auch Deutschland. Und wir investieren immer noch zu wenig in die ukrainischen Produktionsstätten. Es ist zwar erfreulich, dass Rheinmetall jetzt ein neues Werk baut, aber bevor die erste Munition vom Band läuft, werden eineinhalb bis zwei Jahre vergehen. Wir sind viel zu langsam, viel zu spät. Darum ist es gut, dass Tschechiens Präsident Pavel die Initiative ergriffen hat, um auf dem Weltmarkt Artilleriemunition für die Ukraine kaufen zu können.

Deutschlands Verteidigungsminister Boris Pistorius sagte, dass ein Krieg mit Russland in sechs bis acht Jahren möglich sei. Hat er recht?

Herr Pistorius kauft sich damit in erster Linie Zeit. Für den Normalbürger ist seine Botschaft ja diese: Es ändert sich zunächst nichts. Ich kann meine Ferienplanung machen oder ein neues Auto kaufen. Generell ist es aber wichtig, dass rund ein Dutzend Nato-Mitglieder ihre Geheimdienstberichte fast gleichzeitig öffentlich gemacht haben. Das sind alles sehr sorgfältige und sehr umfangreiche Berichte, in denen Russlands militärische Fähigkeiten und seine weiteren strategischen Absichten eingeschätzt werden. Alle kommen zu dem Schluss, dass der Kreml die Nato weiter provozieren wird und damit die Gefahr eines Angriffes auf das Bündnis steigt. Seriöserweise kann man dieses Risiko nicht zeitlich genau festmachen. Ganz sicherlich wird Putin versuchen, weitere Länder in Europa zu destabilisieren.

Können Sie das erläutern?

Ich meine damit vor allem Moldau, Kosovo, Bosnien-Herzegowina. Ich denke aber auch an die strategisch wichtige arktische Region, den Nordatlantik und den Mittelmeerraum. Russland wird hier versuchen, den Westen weiter zu testen, etwa mit hybriden Mitteln, vielleicht sogar mit militärischen Methoden. Und dann erhöht sich zwangsläufig das Risiko von Zusammenstössen. Wir müssen uns klarmachen, dass Russland immer auf unsere Schwächen schaut. Es analysiert und beeinflusst auch unsere Debatten, während wir das leider nur in begrenztem Masse tun. Der Krieg in und um die Ukraine verläuft nicht linear. Darum müssen wir viel stärker in Szenarien denken und uns auf alle Eventualitäten vorbereiten. Die Europäer müssen ihre Rüstungswirtschaften auf eine längere Konfrontation mit Moskau einstellen und ihre Verteidigungsfähigkeiten rasch deutlich verbessern.

Former President Donald Trump speaks during a news conference after attending the wake of New York City police officer Jonathan Diller, Thursday, March 28, 2024,  in Massapequa Park, N.Y.  Diller was shot and killed Monday during a traffic stop, the city's mayor said. It marked the first slaying of an NYPD officer in two years. (AP Photo/Frank Franklin II)

Ein Sicherheitsrisiko für Europa ist Donald Trump. Was droht, wenn er erneut Präsident der USA wird?

Sollte Trump an seinem Kurs festhalten, die Nato einzuschläfern, hat er verschiedene Möglichkeiten. Er könnte die finanziellen Beiträge der USA reduzieren oder ganz kappen. Er könnte auch die US-Truppen in Europa verringern oder bei wichtigen Treffen einfach nicht auftauchen. Eine Trump-Rückkehr wäre für die Nato fatal, aber vor allem auch für die amerikanische Demokratie. Trump würde, wie er gesagt hat, keinen Penny für die Ukraine ausgeben, und versuchen, einen Deal mit Putin zu machen – zulasten der Ukraine und Europas. Trump schadet der Nato und seinen Mitgliedstaaten bereits, wenn er, wie er das schon getan hat, den Beistand für ein angegriffenes Nato-Land infrage stellt. Das unterminiert die Abschreckung der Nato sehr stark.

Sind die Nato und die Europäer auf ein Trump-Comeback vorbereitet?

Nein, noch nicht einmal gedanklich. Mein Eindruck aus vielen Gesprächen mit Vertretern von Nato-Regierungen ist, dass man sich teilweise in einer Art von Schockstarre befindet – so nach dem Motto: Wir hoffen, dass es nicht passiert. Eine andere Gruppe vertritt die Meinung, dass man sich dann eben mit Trump arrangieren und ihn einzuhegen versuchen müsse. Ein Botschafter meinte neulich, man müsse Trump coachen, damit er die Nato besser verstehe. Da kann ich nur sagen: Good luck! Das wird nicht funktionieren.

Wenn Trump nicht gewählt wird, wäre also alles in Ordnung.

Nein. Denn nach den US-Wahlen könnte ein wahrscheinlich immer noch republikanisch dominierter Kongress weiterhin die finanzielle und militärische Unterstützung für die Ukraine blockieren. Ausserdem denke ich, dass wir uns auf unruhige politische Zeiten in Washington vorbereiten sollten. Verlöre Trump die Wahl, w¨ürden seine Anhänger sicher nicht nur dasitzen und sich empören. So oder so: Die Europäer müssen sich auf ein Trump-ähnliches Szenario vorbereiten. Sie müssen ihre militärischen Fähigkeiten nachhaltig verbessern und besser aufeinander abstimmen. Und sie müssten im Zweifelsfall in der Lage sein, die Ukraine in ihrem Überlebenskampf mit eigenen Mitteln zu unterstützen.

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte kürzlich, dass zwei Drittel der Nato-Staaten das 2-Prozent-Ziel erfüllten. Das ist doch ein Grund für Vertrauen in die Verteidigungsfähigkeit der Allianz.

Es ist positiv, dass es inzwischen mehr Staaten sind. Mehr Geld für Verteidigung bedeutet jedoch nicht automatisch bessere militärische Fähigkeiten. Wenn ein nicht gerade kleiner Teil der Verteidigungshaushalte wie in Deutschland in Gehälter, Pensionen oder Betriebskosten geht, werden ja nicht Hunderte neue Panzer oder Flugzeuge produziert. Das ist ein Problem.

epa10741006 NATO Secretary General Jens Stoltenberg (R) and Ukraine's President Volodymyr Zelensky shake hands before a bilateral meeting, at the NATO ​summit in Vilnius, Lithuania, 12 July 2023. The North Atlantic Treaty Organization (NATO) Summit takes place in Vilnius on 11 and 12 July 2023 with the alliance's leaders expected to adopt new defense plans.  EPA/FILIP SINGER

Die Ukraine möchte in die Nato. Eine klare Beitrittsperspektive hat sie vom Bündnis allerdings nicht erhalten. Wie schätzen Sie das ein?

Die vereinbarten Sicherheitsabkommen einzelner Nato-Staaten geben der Ukraine keine grundsätzliche Sicherheit vor Russlands Aggression, denn sonst wäre die Kriegslage ja eine andere. Letztlich kann nur eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine Sicherheit gewähren. Die zentrale Frage lautet: Wann ist der richtige Zeitpunkt für einen Beitritt der Ukraine? Im Bündnis gibt es darüber sehr unterschiedliche Ansichten. Ich gehöre zu denjenigen, die schon 2022 gefordert haben, dass zumindest Beitrittsverhandlungen zwischen der Nato und der Ukraine beginnen müssen – so wie im Fall der EU. Die Nato hätte mit Beitrittsverhandlungen ein starkes strategisches Zeichen setzen können.

Die Nato übt gerade mit «Steadfast Defender», dem grössten Manöver seit dem Kalten Krieg, den Ernstfall. Was sagt das über die Verteidigungs­fähigkeit der Allianz?

Die Nato übt damit primär die Mobilisierung und Verlegefähigkeit grösserer Truppenteile. Das ist ein sehr, sehr wichtiger Punkt, weil das viele Jahre nicht auf dieser Ebene und in dieser Grössenordnung geübt worden ist. Das hält allerdings Russland keinen einzigen Tag davon ab, weiter auf Odessa und andere Städte in der Ukraine zu feuern. Das hat also keine unmittelbare Abschreckungswirkung.

Die Nato tut sich schwer bei der Nachfolge von Generalsekretär Jens Stoltenberg, der selber schon dreimal verlängert hat. Ist das ein Zeichen für den schlechten Zustand des Bündnisses?

Ich finde es bedauerlich, dass es immer noch ein komplett intransparentes Auswahlverfahren gibt. Eigentlich müsste ein Kandidat oder eine Kandidatin zuerst durch eine Art Assessment oder zumindest eingeladen werden, um seine oder ihre Vision darzulegen. Aber nein, es sitzen weiter in irgendwelchen Hinterstuben ein paar Leute zusammen und reden darüber, welcher Kandidat wohl für welche Regierung akzeptabel sein könnte. Wenn wir den Mut aufbringen wollen, den immer grösser werdenden Dschungel um uns herum zurückzudrängen, brauchen wir eine Person an der Spitze, die das klar sieht. Und wir brauchen niemanden, der am Ende seiner Karriere meint, es sei toll, als Nato-Generalsekretär noch einmal herumzureisen.

Das würde gegen den Niederländer Mark Rutte sprechen, der als Favorit gilt, aber jetzt Konkurrenz vom Rumänen Klaus Iohanis erhält.

Herr Rutte war einer der wesentlichen Fürsprecher von Nordstream 2. Und er hat drei Regierungen geführt und es nicht fertiggebracht, selbst nach der Krim-Annexion den Verteidigungshaushalt seiner Streitkräfte auch nur auf 1,5 Prozent zu bringen. Sässe ich in einer Auswahlkommission, würde ich sagen: Herr Rutte, Ihre Performance ist nicht besonders beeindruckend.

Die Nato sieht China seit dem Madrid-Gipfel 2022 als systemischen Rivalen. Hat das Bündnis mit Russland nicht genug zu tun?

China unterstützt eindeutig Putins Krieg gegen die Ukraine. Dabei ist es smart genug, sich nicht erwischen zu lassen, wenn es kriegswichtige Technologien liefert. Wir haben es mit zwei Kontinentalmächten zu tun, die die regelbasierte internationale Ordnung zerstören wollen. Das chinesisch-russische Tandem gibt sich auf der internationalen Bühne gegenseitig Rückendeckung. Doch bei der Nato gibt es noch keine Überlegungen, wie sie damit umgehen soll.

Sweden's Prime Minister Ulf Kristersson addresses a media conference prior to a flag raising ceremony to mark the accession of Sweden to NATO at NATO headquarters in Brussels, Monday, March 11, 2024. Sweden has formally joined NATO as the 32nd member of the transatlantic military alliance, ending decades of post-World War II neutrality and centuries of broader non-alignment with major powers as security concerns in Europe have spiked following Russia's 2022 invasion of Ukraine. (AP Photo/Geert Vanden Wijngaert)

Der Ukraine-Krieg dürfte auch den Nato-Gipfel im Juli in Washington dominieren. Was ist beim Jubiläumsanlass der Nato zu erwarten?

Die entscheidende Frage wird sein, ob wir – nicht nur in sicherer Entfernung – hinter der Ukraine stehen, sondern, ob wir tatsächlich an ihrer Seite stehen wollen. Wir brauchen natürlich auch eine dezidierte Eindämmungsstrategie gegenüber Russland. Eine Debatte darüber hat in Brüssel noch nicht einmal begonnen. Dass die Nato keine langfristige Russlandstrategie entwickelt, wird auch von Staaten wie Deutschland verhindert. Man hat ständig Angst, dass Russland sich provoziert fühlen könnte.

Was meinen Sie mit der Eindämmungsstrategie gegenüber Russland?

Zunächst müssen wir den Putinismus als eine fundamentale Gefahr für uns in Europa begreifen. Daraus folgt, dass wir mit allen Mitteln versuchen sollten, den Aktionsradius Russlands in Europa und auf globaler Ebene zu begrenzen. Neben militärischen müssen auch aussenpolitische und aussenwirtschaftliche Massnahmen zusammengeführt werden, um die Widerstandskraft in unseren eigenen Staaten langfristig zu stärken. Die Idee dahinter ist ähnlich wie die Eindämmungsstrategie, die George Kennan 1946 für den Umgang mit der UdSSR entwickelt hatte.

Der US-Botschafter in der Schweiz hat uns kürzlich indirekt als sicherheitspolitische Trittbrettfahrer bezeichnet. Die Nato sei wie ein Donut und die Schweiz das Loch in der Mitte. Hat er recht?

Viele Menschen in der Schweiz scheinen zu glauben, dass die Nato auch sie indirekt schützt. Aber das Gehege hat eben Löcher bekommen. Wir Europäer stehen gemeinsam an einer strategischen Kreuzung. Ist der Ukraine-Krieg ein Sturm, der vorüberzieht, und wir können weitermachen wie bisher, unsere Freiheit und unseren Wohlstand unbekümmert geniessen? Oder ist dieser aggressive Putinismus mit Unterstützern wie China und dem Iran auch für unseren Wohlstand und unsere Sicherheit eine elementare Bedrohung?

Was sind Ihre Antworten?

Schauen Sie auf Finnland und Schweden. Das sind Staaten, die der Schweiz vielleicht ein bisschen ähnlich sind, weil sie lange Zeit eine gesellschaftlich fest verankerte Neutralitätspolitik hatten. Finnland und Schweden haben die sicherheitspolitische Lage nüchtern analysiert und sind der Nato beigetreten. Vielleicht sollte die Schweiz auch eine derart nüchterne, neue Lagebeurteilung vornehmen und dann ihre Schlüsse daraus ziehen.

Ihre Analysen klingen sehr pessimistisch.

Ich bin keine Anhängerin von Doomsday-Szenarien, aber ich versuche, die Dinge unaufgeregt und sachlich vor dem Hintergrund meiner beruflichen Erfahrungen zu sehen. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir Putin nicht erlauben dürfen, sich mit seinen Vernichtungsfantasien durchzusetzen. Wir müssen uns klug, mutig und entschlossen auf einen langen Konflikt mit ihm einstellen und bereit sein, das zu verteidigen, woran wir glauben. Wenn wir das nicht tun, haben wir bereits verloren.