Krieg im Nahen OstenFamilien der Geiseln wollen das Land «beben» lassen
Israels Armee birgt Leichen von sechs Geiseln. Premier Netanyahu spricht von einem «schweren Tag», Oppositionsführer Lapid ruft zum Generalstreik auf.
Die israelische Armee hat am Wochenende im Gazastreifen die Leichen von sechs Geiseln geborgen, die am 7. Oktober 2023 von der islamistischen Hamas bei ihrem Überfall auf Israel entführt worden waren. «Nach unserer ersten Einschätzung wurden sie kurz vor unserer Ankunft von Hamas-Terroristen brutal ermordet», sagte Militärsprecher Daniel Hagari am Sonntagmorgen. Die Hamas hatte insgesamt 250 Menschen verschleppt; zudem ermordete sie fast 1100 Israelis und 71 Ausländer. Ein Toter, der 23-jährige Hersh Goldberg-Polin, ist auch US-Amerikaner, weshalb Präsident Joe Biden mitteilen liess, er sei «erschüttert und empört».
Ministerpräsident Benjamin Netanyahu warf der Hamas in einer Videobotschaft vor, die Bemühungen um eine Waffenruhe systematisch zu torpedieren. Wer Geiseln ermorde, der wolle keinen Deal, sagte der konservative Politiker und drohte mit Vergeltung. Er sprach von einem «schweren Tag» und sagte, die Nachricht zerreisse «dem ganzen Volk das Herz».
Viele Angehörige der 101 bisher nicht zurückgekehrten Geiseln reagierten jedoch mit enormer Wut auf Netanyahu und dessen rechte Koalition. Sie werfen dem Regierungschef vor, für sein politisches Überleben den Abschluss eines Deals mit der Hamas zu sabotieren und so die Geiseln im Stich gelassen zu haben. Sie verlangen eine öffentliche Erklärung Netanyahus: «Verstecken Sie sich nicht hinter dem Armeesprecher.» Bereits am Samstagabend hatten die Angehörigen angekündigt, das Land «beben» zu lassen.
Stadtverwaltung von Tel Aviv legt Arbeit nieder
Was damit gemeint war, wurde Stunden später klar. Am Sonntagvormittag forderte Oppositionsführer Lapid einen Generalstreik und rief den Gewerkschaftsdachverband Histadrut, die Arbeitgeber und die örtlichen Behörden auf, einen solchen auszurufen. Auf der Plattform X schrieb Yair Lapid: «Netanyahu und das Kabinett des Todes haben beschlossen, die Geiseln nicht zu retten.»
Für Sonntagnachmittag war ein Treffen von Geiselangehörigen mit dem Gewerkschaftschef von Histadrut geplant. Der Bürgermeister von Tel Aviv kündigte an, dass die Verwaltung am Montag bis zum Mittag «aus Solidarität mit den Geiseln und deren Familien» geschlossen bleiben werde und die Angestellten sich an Demonstrationen beteiligen dürften.
Netanyahu und Gallant schreien sich an
Israels Verteidigungsminister Yoav Gallant forderte eine sofortige Sitzung des Sicherheitskabinetts. Er müsse die Entscheidung, an der Kontrolle über die Grenze zwischen dem Gazastreifen und Ägypten durch Israels Armee festzuhalten, rückgängig machen, schrieb er bei X. Diese Truppenpräsenz, auf der Netanyahu besteht, gilt weithin als wichtigstes Hindernis in den Verhandlungen mit der Hamas über die Freilassung von Geiseln im Gegenzug für palästinensische Häftlinge. Galant stimmte als Einziger gegen diese Position; das israelische Militär ist überzeugt, dass ein Abzug vom sogenannten Philadelphi-Korridor die Sicherheit des Landes nicht gefährden würde. Wie unter anderem die Zeitung «Haaretz» berichtete, schrien sich Galant und Netanyahu in der Sitzung gegenseitig an.
Gemäss Medienberichten wären drei der nun toten Geiseln bei einem Abkommen sofort freigekommen. Ihre Namen stünden seit Anfang Juli auf einer Liste, der die Hamas zugestimmt habe. Neben Goldberg-Polin, dessen Arm amputiert wurde, wären dies die beiden Frauen Carmel Gat (40) und Eden Yerushalmi (24) gewesen. Deren Körper wurden mit denen von Ori Danino, Alex Lobanov und Almog Sarusi nahe Rafah in einem Tunnel 20 Meter unter der Erde gefunden. Die Hamas macht hingegen Israel für den Tod der Geiseln verantwortlich.
Am Sonntag wurden bei einem mutmasslichen palästinensischen Anschlag im Westjordanland nahe der Stadt Hebron zwei israelische Polizisten und eine Polizistin getötet. Seit Tagen führt Israels Militär dort einen gross angelegten «Antiterroreinsatz» durch. Der rechtsextreme Minister Bezalel Smotrich, der in Netanyahus Regierung für Finanzen und den Siedlungsbau in den besetzten Palästinensergebieten zuständig ist, erklärte gemäss Reuters am Tatort: «Wir sind entschlossen, den Terrorismus an allen Fronten auszumerzen.»
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