Analyse zum Krieg im Nahen OstenDer Erfolg der Israelis sagt wenig darüber aus, wie es weitergeht
Ein Gegenschlag der Hisbollah und ein Eingreifen Irans – das war das Szenario des ganz grossen Kriegs. Auch wenn das vorerst nicht passiert ist: Die Gefahr eines Grosskonflikts bleibt.
Der grosse Krieg hat begonnen – und ist im selben Moment auf Stand-by gestellt worden. Am frühen Sonntagmorgen hatten israelische Kampfflugzeuge feuerbereite Raketenabschussbasen der Hizbollah bombardiert, angeblich Tausende davon zerstört. Offenbar sind die israelischen Piloten mit diesem Überraschungsschlag einem Angriff auf den Norden ihres Landes und auf Tel Aviv zuvorgekommen. Die Schiiten-Miliz hat zwar trotzdem noch Hunderte Kurzstreckenraketen aus Libanon losschicken können. Aber der lange angedrohte, der flächendeckende Angriff auf Israel war das nicht.
Hizbollah-Chef Hassan Nasrallah wird sich den Racheakt für das israelische Attentat auf seinen Kommandanten Fuad Shukr zerstörerischer ausgemalt haben; das Triumphgeheule seiner Kämpfer hätte weltweit die Ohren betäuben sollen. Der Gegenschlag der Hizbollah und ein Eingreifen Irans – das war das Szenario des ganz grossen Nahostkriegs, der sogar die USA in seinen Sog zöge. Offenbar haben die israelischen Generäle besser getäuscht und getrickst, sind sie Nasrallahs Kämpfern zuvorgekommen. Die irgendwo in Beirut, in der Bekaa-Ebene oder im Südlibanon in Bunkern sitzende Führung der Miliz hat jedenfalls erklärt, dass ihr Rachefeldzug begonnen habe, derzeit aber pausiere.
Das Kräfteverhältnis bleibt unverändert
Fanfaren klingen anders. Der taktische Erfolg der Israelis – wenn es wirklich ein Enthauptungsschlag war – sagt indes nichts darüber aus, wie es weitergeht. Das Kräfteverhältnis hat sich nicht verändert. Wird die erneut vor der Welt gedemütigte Hizbollah nun einen zweiten Schlag führen? Werden die Islamisten-Milizen im Irak, in Syrien und in Jemen sich ihr anschliessen? Und das Allerwichtigste: Wie entscheidet sich die iranische Führung? Schaltet sie sich offen ein – trotz all der aufgefahrenen US-Streitmacht, trotz all der Kriegsschiffe, Kampfflugzeuge und Marines-Kohorten? Oder lässt die Islamische Republik ihre Hintersassen Krieg führen, ohne sich selbst zu gefährden?
Alles ist offen. Selbst wenn das unendliche Gaza-Drama in Kairo, Doha oder sonst wo ein erfreuliches Verhandlungsende finden sollte, das unentschuldbare Massensterben der palästinensischen Zivilisten aufhört und die überlebenden israelischen Geiseln endlich nach Hause kommen – der nahöstliche Albtraum setzt sich fort. Denn die Grundfragen lassen sich weder diplomatisch noch militärisch lösen, auf absehbare Zeit jedenfalls. Der Knackpunkt bleibt der seit Jahrzehnten altbekannte: Können Israelis und Palästinenser in Frieden nebeneinander leben, ob in zwei Staaten oder in einem?
Derzeit spricht alles für ein Nein. Deshalb wird die Bedrohung für Israel durch den Iran, die Hizbollah und die anderen Eiferer-Milizen auch bei einer Lösung des Geiselproblems nicht enden. Das Schicksal der bemitleidenswerten Zivilisten und der gepeinigten Geiseln in Gaza ist nur die Kulisse für weit grössere Konflikte. Es geht um das Austarieren der strategischen Gemengelage zwischen Iran, Israel und den arabischen Staaten.
Es geht um die Vormacht in der Region
Sowohl die Regierung in Jerusalem als auch die in Teheran erhebt Anspruch auf Vormacht. Die Schwergewichte unter den arabischen Königreichen, Fürstentümern und Pseudo-Republiken mischen ebenfalls mit: Saudiarabien, Ägypten und die Vereinigten Arabischen Emirate teilen derzeit mehr taktische Interessen mit Israel als mit der angehenden Atommacht Iran. Sie verfolgen aber keine gemeinsame Linie, sondern tricksen einander unbekümmert aus.
Dreh- und Angelpunkt dieses Konflikts ist inzwischen die Islamische Republik. Kann sie als 80-Millionen-Einwohner-Staat ihre politischen und wirtschaftlichen Interessen friedlich verfolgen, ohne unter dem Vorwand von Allheiligkeit zu zündeln? Und: Können Israel und die arabischen Staaten einen solchen politischen Koloss akzeptieren, wenn er nach akzeptablen Spielregeln handelt? Die Aussicht ist mehr als gering. Bis auf weiteres bleibt daher die Furcht vor dem Grosskonflikt, die hässliche Realität.
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